Achtzehn

 

Naomi umarmte ihre Freundin zum Abschied. In zehn Tagen würde Alice nach Barcelona fliegen. Die letzten Tage wollte sie bei ihren Eltern verbringen. Naomi freute sich für ihre Freundin, trotzdem würde sie ihr fehlen. Alles war so kompliziert geworden. Kai verbarrikadierte sich in seinen vier Wänden, trank vermutlich zu viel und war ganz krank vor Trauer. Naomi ging täglich zu ihm, doch er machte die Tür nicht auf. Selbst Roman fiel Naomis verändertes Verhalten auf. Ständig sah sie sich um, auf der Suche nach etwas, was er nicht verstand. Auch war ihr ständig übel. Mehrfach hatte er schon gefragt, warum sie so nervös sei. Am Wohlsten fühlte sie sich in Romans Wohnung. Dort war Sammy noch nie gewesen, und die gemütliche Atmosphäre wurde nicht durch Erinnerungen gestört. Kais Drängen, Roman zu verlassen, belastete sie. Einerseits konnte sie Kai verstehen, andererseits war sie sich immer noch nicht sicher, ob Cassidys Tod nicht doch ein Unfall gewesen war. Sammy war nicht wieder im Ort aufgetaucht. Sie hatte vorsichtig herumgefragt, niemand wusste etwas über seinen Verbleib. Sie trainierte unermüdlich. Bei den Kampfsportübungen oder auch in den Freestyle-Wettkämpfen, die sie heimlich praktizierten, schlug sie ihre Gegner in Grund und Boden. Der Sport war ihr einziges Ventil für die Angst, die an ihr fraß.

»Wir sehen uns bald, ja?«, fragte Alice.

Naomi nickte. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Sicher. Solltest du in drei Monaten nicht wieder hier sein, dann komme ich nach dem Semester nach Barcelona. Versprochen.«

Alice fiel ihr nochmals um den Hals, und sie küssten sich auf die Wangen, bevor Alice in das Taxi stieg. Naomi blieb stehen und winkte hinterher, bis der Wagen nicht mehr zu sehen war.

 

*

 

Naomi fuhr mit Romans Wagen die Strecke nach Bangor und wieder zurück. Sie konnte kein Risiko eingehen, dass Roman am Meilenzähler bemerkte, dass sie überhaupt nicht beim Arzt gewesen war. Nicht, dass er das kontrollieren würde. Doch wer konnte schon wissen, ob er wusste, wie voll der Tank war.

Nachdem sie zurück in Orono war, parkte sie den Wagen in der Nähe von Kais Wohnung in einer Seitenstraße. Kai musste endlich zur Vernunft kommen.

Sie klopfte zum dritten Mal an seine Haustür. »Jetzt öffne endlich die verdammte Tür.« Sie ging einen Schritt zurück und wartete. Nichts. »Ich bleibe hier sitzen, bis du aufmachst. Und wenn es die ganze Nacht dauert.« Naomi lauschte. Immer noch nichts.

Nach einigen Minuten, die sie vor verschlossener Tür stand, beschloss sie, sich tatsächlich zu setzen. Der grobborstige Fußabstreifer wäre zwar ungemütlich, aber immer noch bequemer, als direkt auf den blanken und eiskalten Fliesen zu sitzen. Sie lümmelte sich in den Türrahmen und wartete. Damit Kai auch wusste, dass sie noch hier war, drückte sie alle fünf Minuten auf die Türglocke. Irgendwann würde ihm dieses Klingeln auf die Nerven gehen. Und dann würde er endlich aufmachen.

Die Kälte im Treppenhaus nahm zu. Naomi zitterte und rieb sich über die Arme. Sie pochte gegen die Tür. »Kannst du mir wenigstens eine Decke geben? Es ist saukalt hier.«

Als die Tür hinter ihr aufging, fiel sie rücklings in die Wohnung. Kai sah auf sie herab. »Du bist schlimmer als eine Zecke.« Er ließ sie liegen, ging zurück in die Wohnung und warf sich auf das Sofa.

Naomi rappelte sich auf. Aus der Wohnung drang ein Geruch nach Whisky und abgestandener Luft, was ihr Übelkeit verursachte. Kai rührte sich nicht. Er saß starr auf dem Sofa, als sie die Tür schloss und die Fenster öffnete, um zu lüften. Sie griff nach einer Wolldecke, schlang sie sich um die Schultern. Die Scherben der Flasche, die er an die Wand geworfen hatte, lagen immer noch auf dem Fußboden. Sie ging in die Küche und suchte nach einem Handfeger und einem Putzlappen. Kai sah ihr zu, wie sie die Scherben zusammenfegte und notdürftig den Boden wischte.  Ein Blick auf ihn verriet, dass er sich seit Cassidys Tod weder geduscht noch gekämmt hatte. Seine Haare standen verstrubbelt in alle Richtungen. Vermutlich hatte er auch nichts gegessen. Ohne ihn zu fragen, ging sie in die Küche und schmierte ihm zwei Brote. »Du musst was essen.«

Kai ignorierte den Teller und auch Naomi.

Sie setzte sich ihm gegenüber. »Sammy ist übrigens immer noch verschwunden.«

Kai schnaubte. »Der versteckt sich nur.«

Immerhin sprach er endlich mit ihr. Sie konnte seinen Schmerz nicht erahnen, aber ihr war klar, dass er sich die Schuld an Cassidys Unglück gab. Ihr Kopf weigerte sich, ihren Tod als Mord anzusehen. »Kann ich dich etwas fragen?«

Kai brummte.

Sie nahm es als Zustimmung. »Ist es normal, dass einem die erste Zeit nach der Verwandlung immer übel ist?«

»Weiß ich nicht mehr. Kann sein.« Kai zog die Beine dichter an seinen Körper und rollte sich zusammen.

Er wirkte auf Naomi wie ein kleines Kind.

»Bist du deswegen hier?«

Naomi schüttelte den Kopf. »Ich überlege nur, wie es weitergehen soll. Das ist alles. Und, ich brauche dich. Du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann.« Es machte sie traurig, Kai so leiden zu sehen. Sie wollte ihm beistehen, deswegen war sie hier. Doch wie konnte sie ihm helfen? Jedes Wort wäre falsch. Kais schlimmster Alptraum war über ihn hereingebrochen. Er hatte Cassidy verloren. Sie war nicht nur fort, sie war tot. Die Zeit, die er ohne sie verbracht hatte, war mit Sicherheit schmerzhaft gewesen. Aber immerhin lebte er damals in der Gewissheit, dass es ihr gut ging. Würde ihr diese Gewissheit genügen? Könnte sie damit leben? Ertragen, dass Roman mit anderen Frauen ausging, eventuell sogar heiratete und Kinder hätte? Sie wusste es nicht, und sie mochte es sich auch gar nicht vorstellen. »Ist es immer so? Verlieren wir immer?«

Kai drehte sich zu ihr um. »Über kurz oder lang.« Kai strich sich die fettigen Haare aus der Stirn. »Es ist für normale Menschen schon schwer genug, glücklich zu werden. Für uns ist es unmöglich. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte niemals ein zweites Mal schwach werden dürfen.«

Naomi stand auf, um ihn in die Arme zu nehmen. »Du konntest nichts tun. Du warst vorsichtig. Wir können nicht einmal sicher sein, ob Sammy dahintersteckt.« Sie spürte, wie sich Kais Körper versteifte.

Er drückte sie von sich. »Sammy hat sie umgebracht. Hörst du? Daran gibt es keinen Zweifel. Ich weiß zwar nicht, wie er dahintergekommen ist, und wie es ihm möglich war, ihr zu folgen; aber er war es.« In seinen Augen stand Wut und Entschlossenheit. »Ich werde ihn finden, und ich werde ihn töten. Selbst wenn es das Letzte ist, was ich mache.«

Naomi sah das gefährliche Glitzern in seinen Augen, die in Falten gelegte Stirn und zweifelte keinen Moment an seinen Worten. »Dann sollten wir ihn suchen und finden.« Naomi stand auf. »Und damit er dich nicht von Weitem riecht, wäre es sehr angebracht, dass du eine ausgiebige Dusche nimmst und mit der Sauferei aufhörst.«

Widerspruchslos erhob sich Kai vom Sofa und stapfte ins Badezimmer.

Naomi sank zurück in die Polster. Roman wusste, dass sie nach dem Arzt noch zu Kai fahren wollte, um ihn zu trösten. Zuerst hatte er verwundert reagiert. Naomi erklärte ihm, sie sei einfach nur dankbar, dass er sich um sie gekümmert habe; er hätte sie auch einfach im Wald liegen lassen können. Romans schlechtes Gewissen machte sich sofort bemerkbar, und er hatte erwidert, sie solle machen, was sie für richtig erachte. Wenn sie Kai beistehen wolle, so stünde er dem mit Sicherheit nicht im Wege.

Sie hatte Roman versprochen, ihn gleich nach dem Arztbesuch anzurufen. Naomi sah auf die Uhr. Drei Stunden war sie vor der Tür gesessen, bevor Kai ihr geöffnet hatte. Davor war sie nach Bangor und zurückgefahren. Das war ausreichend lange für eine ärztliche Untersuchung. Sie kramte ihr Handy aus der Handtasche.

Naomi erzählte Roman, der Neurologe habe nichts finden können. Auch die von ihrem Kopf erstellte Computertomographie sei unauffällig und normal. Der Arzt wolle noch das Ergebnis des großen Blutbildes abwarten, aber vermutlich würde er auch dort nichts Ungewöhnliches entdecken. Er riet ihr zur Vorsicht und empfahl ihr, selbst bei dem leisesten Verdacht auf einen weiteren Anfall, sich sofort unter ärztliche Aufsicht zu begeben. Naomi erzählte Roman alles, was sie im Internet hatte ausfindig machen können, und sogar noch mehr. Sie erklärte ihm, es käme selten zu solchen Schüben, und die Ursache ließe sich meist nicht erklären. Roman hatte auch bemerkt, dass ihr die letzten Tage immer wieder übel war und sich deswegen Sorgen gemacht. Auch das, erklärte sie ihm, sei nach solch einer Amnesie nichts Ungewöhnliches.

Obwohl Kai sich nicht daran erinnern konnte, ob ihm in der Anfangsphase nach den Verwandlungen übel gewesen war, dachte sie, dass es vermutlich zur Umstellung gehörte. Es hatte direkt nach den Verwandlungen begonnen, also konnte es nur damit zusammenhängen. Die Übelkeit würde sich wieder legen. Und alles wäre wieder bestens. Zumindest, was ihre Gesundheit anbelangte. Naomi beendete das Gespräch.

Nachdenklich blieb sie auf dem Sofa sitzen. Kai hatte von seiner Einweiserin Jean gesprochen. Aber er hatte mit Sicherheit auch Kontakt zu anderen Clanmitgliedern. Warum hatten sie sich bisher nicht zusammengeschlossen und waren gegen den feindlichen Clan vorgegangen? Es gab Internet, man konnte eigene geschlossene Portale einrichten, sodass nur Eingeweihte Zugriff auf Informationen hatten. Sicher, früher war das nicht möglich gewesen, aber warum sollte man die Möglichkeiten der modernen Technik nicht nutzen? Sie musste Kai danach fragen. Naomi kaute an ihrem Daumennagel, den sie sich am Vormittag eingerissen hatte und mit dem sie ständig irgendwo hängen blieb.

»Sag nicht, dass du immer noch am Daumen lutschst.« Kai stand frisch geduscht vor ihr und kämmte sich das nasse Haar zurück.

Naomi verzog das Gesicht. »Wohl kaum.« Sie ließ ihre Hand sinken und sah ihn neugierig an. »Aber mal etwas Anderes. Du redest immer davon, dass es andere Clans gibt. Wie stehen diese untereinander in Verbindung? Es muss doch irgendwelche Treffen geben, oder Schriften, oder irgendetwas, woraus hervorgeht, wie sie sich gegenseitig kontaktieren, wenn jemand Hilfe braucht. Mitgliederlisten oder so etwas. Wie bist du zum Beispiel hierher gekommen? Zufall?« Naomi stand auf. »Ich glaube einfach nicht, dass der Zufall dich und Sammy in dieses Kaff getrieben hat. Also?«

»Ich wurde hierher geschickt. Wie Sammy hierher kam? Keine Ahnung. Allerdings gibt es keine Listen oder ähnliches. So, wie wir beide nun Kontakt haben, stand ich in Kontakt mit meiner Tutorin. Bei ihr war es zuvor vermutlich genauso.« Kai ließ das Handtuch fallen und ging nackt zum Kleiderschrank.

Naomi sah automatisch auf den Boden. An so viel Freizügigkeit musste sie sich erst noch gewöhnen. »Warum schließen sich nicht alle einfach zusammen? Damit wären wir doch viel stärker als die Anderen. Das sollte durch die heutige Technik doch kein Problem mehr sein.«

Kai knöpfte seine Jeans zu. »Du stellst Fragen, die ich dir nicht beantworten kann. Mir wurde gesagt, ich würde alles zu seiner Zeit erfahren.«

»Und damit hast du dich zufrieden gegeben? Das ist doch Schwachsinn! Je mehr wir erfahren und über unsere eigene Rasse wissen, desto besser sind wir doch vorbereitet.« Sie griff nach einem der Brote, die immer noch auf dem Tisch standen. Hungrig biss sie hinein.

»Oh, klar. Du wärst natürlich cleverer gewesen und hättest alles aus den Clanmitgliedern herausgepresst, oder? Denkst du etwa, ich habe das nicht versucht? Mir wurde gesagt, ich müsse Cassidy verlassen, vorher bekäme ich keine Antworten.« Kai griff nach dem anderen Brot und kaute wütend darauf herum. »Das habe ich nicht getan. Erst, als sich die Unfälle häuften, habe ich sie verlassen. Dafür habe ich aber keine Fragen mehr gestellt, weil es mich nicht mehr interessiert hat. Ich wollte nur noch meine Ruhe haben. Dann wurde ich hierher geschickt. Von wem und warum weiß ich nicht. Und jetzt lass mich mit deiner Fragerei in Ruhe.«

Naomi überlegte. Wenn sogar Kai nicht mehr wusste, wie käme sie dann an Informationen, die ihr weiterhelfen konnten? »Im Klartext heißt das, ich erfahre nur etwas, wenn ich Roman verlasse.«

Kai zuckte mit den Schultern und aß weiter. Er sah sie nicht an.

»Aber, warum?« Naomi schluckte den letzten Bissen hinunter und griff nach dem Wasser. Sie forschte in seinem Gesicht. Naomi presste die Lippen aufeinander, als ihr klar wurde, dass Kai ihr nichts sagen konnte. Sie verstand das alles nicht. »Wenn ich Roman verlasse, bekomme ich dann Antworten auf meine Fragen?«

Kai sah sie lange an. »Ich denke schon. Man wird Kontakt zu dir aufnehmen, wenn du soweit bist.«

Naomi sank in sich zusammen.  »Und was machen wir bis dahin?«

»Nichts. Für mich gibt es nichts zu tun - und du weißt, was du zu tun hast.«