Zwei

 

Naomi saß in der Küche bei einer Tasse Kaffee. Frische Brötchen standen auf dem Tisch. Obwohl sie keinen Appetit hatte, griff sie danach, riss eines auseinander und steckte sich ein Stück in den Mund. Nachdenklich schob sie die Krümel auf dem Tisch hin und her.

»Wozu stehen eigentlich Teller im Schrank?«, fragte Luna, die mit Tüten beladen die Küche betrat. Sie stellte die Einkäufe ab, trat zu Naomi und küsste sie aufs Haar. »Guten Morgen, Schatz. Du siehst aus, als hättest du kein Auge zugemacht. Die Zeitverschiebung?«

Naomi nickte. »Wo ist Oma?«

»Im hinteren Garten. Dort sitzt sie schon, seitdem ich vor drei Stunden aufgestanden bin. Gefrühstückt hat sie auch noch nicht. Sie sollte vor Zufriedenheit tanzend durchs Haus schweben. Immerhin bist du wieder zu Hause.« Luna räumte die Lebensmittel in den Kühlschrank.

»Ich werde mal nach ihr sehen.« Naomi stand auf, zögerte kurz, schnappte sich ein Brötchen und belegte es mit Käse, bevor sie die Küche verließ.

Leandra saß auf der Holzbank unter der Eiche und starrte auf den Boden.

»Geht´s dir gut?« Naomi hielt ihr den Teller hin.

Ihre Großmutter lächelte. »Danke. Hat der Anwalt geantwortet?« Sie griff nach einem halben Käsebrötchen und biss hinein.

»Bisher nicht. Aber es ist auch erst zehn Uhr. Er wird sich schon melden.« Naomi ließ sich auf die Bank plumpsen. »Oma, ich muss Mama sagen, dass ich schwanger bin. Wenn ich es länger für mich behalte, wird sie stinksauer sein.«

Leandra wischte sich einen Krümel von den Lippen. »Abwarten solltest du jedenfalls nicht.«

»Ich weiß nur nicht, wie ich es ihr sagen soll.« Naomi zog die Beine an und legte ihr Kinn darauf ab. »Die ganze Nacht habe ich nach den richtigen Worten gesucht. Eingefallen ist mir allerdings nichts.«

Leandra kaute schweigend weiter.

Naomi seufzte. »Du bist mir ja eine tolle Hilfe. Hast du denn gar keinen Tipp für mich?«

»Hmm, was soll ich dir schon raten. Luna wird ausflippen. So oder so. Also sag es ihr einfach geradeheraus.« Leandra stand auf. »Los komm schon. Bring es hinter dich.«

Naomi schrak zusammen. »Was? Jetzt gleich?«

»Warum nicht? Jetzt ist genauso gut wie später.« Leandra sah sie auffordernd an. »Na, sie wird dir nicht gleich den Kopf abreißen.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, murmelte sie, während sie zögerlich aufstand. »Kannst nicht du es ihr sagen?«

Leandra zog sie am Arm mit sich. »Bin ich schwanger?«

Luna werkelte in der Küche. Mit einem Nudelholz bearbeitete sie den Teig. Das Ofenblech stand auf der Anrichte, ebenfalls geschälte Tomaten, Gewürze, Mozzarellakäse, Schinken und frische Champignons.

Naomis Mundwinkel zuckten. Das sah nach Pizza aus. Durch den Geruch würde ihr vermutlich übel werden, und ihre Mutter wäre gekränkt, wenn sie plötzlich keine Pizza mehr äße, obwohl sie sich vor der Schwangerschaft fast ausschließlich davon ernährt hatte. Luna gab sich solche Mühe. Erst die Party und jetzt Pizza. Ob sie auch nur ein Stück davon hinunterbrächte, nur um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun? Oma hatte recht. Je früher sie ihr die Schwangerschaft beichtete, desto besser.

»Mama, ich muss mit dir reden.« Der verkrampfte Ton in Naomis Stimme ließ ihre Mutter herumfahren. Sie hielt das Nudelholz in der Hand. Mehl bröselte auf den Boden.

»Was ist los?«, fragte Luna mit besorgter Miene. »Was ziehst du denn für ein Gesicht?« Sie ließ das Nudelholz auf den Tisch sinken und wischte sich die mehligen Hände an einem Geschirrtuch ab. »Sag schon.«

»Setz dich zu mir Mama.« Naomi setzte sich schwerfällig an den Küchentisch. Sie sah den erschrockenen Blick ihrer Mutter und wusste, dass es keinen galanten Umweg gab. Sie wartete nicht einmal mehr ab, bis ihrer Mutter Platz genommen hatte. »Ich bin schwanger.«

Luna ließ sich auf den Stuhl plumpsen. Ihre Mimik versteinerte.

Naomi beobachtete die Gesichtszüge ihrer Mutter. Sie konnte nicht einschätzen, wie Luna reagieren würde. »Hast du mich gehört?«

»Ich bin ja nicht taub.« Die Hände gefaltet, saß sie stocksteif am Tisch. Sie nickte zaghaft mit dem Kopf. »So langsam verstehe ich, warum du so überstürzt zurückgekommen bist. Dieser Kerl hat dich sitzen gelassen, als er mitbekam, dass du schwanger bist. Es war ein Fehler, dich überhaupt gehen zu lassen!«

»Roman weiß gar nichts davon.« Naomi schluckte trocken, bevor sie die notwendige Lüge über die Lippen brachte. »Wir hatten uns schon vorher getrennt.«

»Und jetzt kommst du schwanger nach Hause.« Luna schien Naomis Worte gar nicht wahrgenommen zu haben. »Leandra hatte recht. Sie hatte von Anfang an recht. Du bist zu jung und zu verhätschelt, um dein Leben alleine zu meistern. Und jetzt haben wir die Bescherung.« Auf einmal kam Leben in Luna. Sie sprang vom Tisch auf. »Du warst natürlich nicht beim Arzt, oder?«

Naomi schüttelte den Kopf.

»Natürlich nicht. Darum bist du auch einfach in den nächsten Flieger nach Hause gestiegen. Keinen Funken Verstand besitzt du! Weißt du das?« Lunas Stimme schwoll an. »Sonst hättest du nämlich gewusst, dass das Risiko einer Fehlgeburt besteht.«

Naomi sah sich Hilfe suchend nach ihrer Großmutter um. Sie sank in sich zusammen. Leandra stand vermutlich immer noch im Flur und lauschte. Offensichtlich musste sie dieses Gespräch alleine durchstehen. Sie seufzte. Warum sollte sie eine Fehlgeburt riskiert haben? Viele flogen durch die Welt, ohne zu wissen, dass sie schwanger waren.

Solange das der einzige Punkt war, der ihrer Mutter zu schaffen machte, war sie glimpflich davon gekommen. »Mir geht es gut, Mama. Aber wenn du willst, gehe ich noch diese Woche zum Arzt.«

Luna stand auf, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und begann den Pizzateig zu bearbeiten. Sie schob die Masse zusammen und knetete kraftvoll eine Kugel, die sie immer wieder auf die Arbeitsplatte warf. Sie knetete ihn, drosch darauf ein, rollte ihn zusammen, nur um ihn erneut platt zu schlagen.

Naomi war froh, nicht der Pizzateig zu sein, der die ganze Wut und Enttäuschung zu spüren bekam, die eigentlich ihr galten.

Mit großen Augen und hochgezogener Stirn linste Leandra um die Ecke, um zu sehen, was vor sich ging.

Naomi zuckte hilflos die Schultern.

Luna bearbeitete immer noch den Teig.

»Was machst du nur damit?« Leandra trat einige Schritte in die Küche.

Luna schnaubte. Ihr Kopf fuhr herum, und sie funkelte Naomi an. »Besser ich verdresche diesen Klumpen, als deine Enkelin.«

Leandra starrte auf den Teig. »Bei der liebevollen Zubereitung wird mir das Ergebnis mit Sicherheit im Hals stecken bleiben.«

Naomi entwich ein Glucksen. Sie presste die Lippen zusammen, um nicht zu lachen.

Lunas Mundwinkel zuckten ärgerlich. »Es gibt Schlimmeres, als wenn du dich deswegen verschlucken solltest. Du wirst nämlich Uroma.«

Nachdem Leandra nicht auf ihre Ankündigung reagierte, zog Luna die Stirn in Falten. »Ihr hinterhältige Bande. Du wusstest es längst. Deswegen hast du dich den ganzen Morgen im Garten verkrochen. Und du ...«, sie wandte sich an Naomi.

Naomi stand auf und nahm ihre Mutter in die Arme. »Ach Mama, wäre Oma nicht gestern Nacht noch über mich hergefallen, wüsste sie es auch nicht. Vermutlich wüsstet ihr beide noch nichts, weil ich mich nicht getraut hätte, es euch zu sagen.« Sie küsste ihre Mutter auf die Wange. »Freust du dich nicht wenigstens ein klitzekleines bisschen ... Oma?«

»Ich bin keine Oma!« Luna schlug mit dem Geschirrtuch nach Naomi, die diese Attacke mit einem Grinsen quittierte.

»Aber bald«, warf Leandra ein. »Das ist nur gerecht. Ich war damals sogar noch ein Jahr jünger als du!«

»Ich war aber verheiratet«, konterte Luna.

»Das kann man sich eben nicht immer aussuchen. Wenn dieser Roman nicht zu unserer Naomi passt, dann ist es besser, er bleibt dort, wo er hingehört. Wir kriegen das Baby schon groß, oder?« Leandra lächelte. »Solange ich keine Strampler stricken muss.«

 

Die Anwaltskanzlei antwortete nicht auf die versandte E-Mail. Naomi sah stündlich in ihren Posteingang und gegen Nachmittag war ihre Geduld am Ende. Durch ihre Nervosität vertippte sie sich drei Mal, bis sie endlich die richtige Nummernfolge in ihrem Handydisplay sah und auf Verbindungsaufbau drückte.

»Law Office Thursfield and Partners. Good afternoon.«

Naomi räusperte sich, bevor sie sich mit Leandras Mädchennamen meldete, erklärte, worum es ging und darum bat, mit dem zuständigen Ansprechpartner verbunden zu werden. Die freundliche Stimme, die sie begrüßt hatte, bekam einen nervösen Unterton, als sie sagte, Naomi würde direkt zu Geoffrey Thursfield durchgestellt werden.

»Ich habe bereits Ihren Anruf erwartet, Mrs. Thomson«, meldete sich der Anwalt. »Wenn ich ehrlich bin, schon viele Jahre. Mein Vater ist nicht weniger neugierig, als ich. Er ist zwar seit einigen Jahren im Ruhestand, doch möchte er Sie mit größtem Vergnügen kennenlernen. Werden wir Sie bald in unserer Kanzlei begrüßen dürfen?«

Naomis Magen zog sich zusammen. Am liebsten wäre sie sofort nach London geflogen. Doch das war unmöglich. »Vermutlich werde ich in etwa drei Wochen nach London reisen. In Begleitung meiner Enkelin.«

»Mit ihrer Enkelin? Großartig. Vielleicht kann ich Ihnen die Stadt zeigen?«, schlug er vor.

Naomi zog die Stirn kraus. Ein Anwalt sollte Besseres zu tun haben, als mit einem Mandanten, den er noch nie gesehen hatte, die Sehenswürdigkeiten Londons zu besuchen. Der Vorschlag ließ sie aufhorchen. Was hatte Romina geschrieben? Traue niemandem. Sie hatte Sammy vertraut. Denselben Fehler beginge sie nicht noch mal. »Wie nett von Ihnen. Können Sie mir sagen, was in Ihrer Kanzlei hinterlegt wurde? Ich habe leider erst vor zwei Tagen erfahren, dass Sie im Besitz von wichtigen Familiendokumenten sind.«

»Oh. Es sind keine Dokumente, nur ein Schlüssel mit einem Anhänger. Sonst lagen dem Kästchen keine Papiere bei. Die geringe Aufbewahrungsgebühr wurde damals für Jahrzehnte im Voraus bezahlt, was natürlich sehr ungewöhnlich ist.«

»Das ist es tatsächlich.«

Naomis Schlafzimmertür öffnete sich und Leandra streckte ihren Kopf durch den Türspalt. Sie winkte ihre Großmutter herein, machte ein Zeichen, sie solle schnell die Tür schließen und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen, um ihr klarzumachen, dass sie kein Wort von sich geben sollte.

»Der Schlüssel wurde dem Schwiegervater meines Vaters übergeben, der ihn aufbewahrte und ihn später an mich weitergab, als er sich aus der Kanzlei zurückzog. Können Sie mir sagen, was daran so Besonderes ist?«

Der Anwalt schien aufrichtig; zumindest was den Schlüssel anbelangte. Trotzdem war er Naomi eine Spur zu neugierig. Wenn es sich nur um einen Schlüssel und einen vermutlich billigen Anhänger handelte, grenzte es an ein Wunder, dass er nicht längst weggeworfen worden war.

Es waren also keine schriftlichen Aufzeichnungen vorhanden. »Mr. Thursfield, leider kann ich Ihnen im Moment dazu keine Auskunft geben, weil ich hoffte, es befänden sich Dokumente darunter, die einen Hinweis darauf gäben, wozu dieser Schlüssel gehört. Ohne einen entsprechenden Hinweis ist er höchstwahrscheinlich nur ein Erinnerungsstück.«

»Sie werden ihn nicht abholen?«, fragte er nach. »Das wäre schade. Wir hätten Sie so gerne persönlich kennengelernt.«

Naomi lächelte. Er war neugieriger, als er zugeben wollte. Sie war sich sicher, dass er darauf brannte, hinter das Geheimnis zu kommen. Augenblicklich schwor sie sich, diesen Menschen keinesfalls zu unterschätzen. »Selbstverständlich. London ist immer eine Reise wert, und Sie verwahrten den Schlüssel so lange, dass es eine Schande wäre, ihn nach all den Jahren wegzuwerfen. Selbst wenn er wertlos ist, so möchte ich ihn trotzdem abholen. Damit sind Sie von Ihrer kleinen Last befreit, selbst wenn ich Ihnen nichts über die Bedeutung des Schlüssels sagen kann. Mr. Thursfield, ich melde mich an, bevor ich nach London komme. In den nächsten Tagen werde ich die Reise vorbereiten. Beste Grüße an Ihren Vater. Bye bye.« Naomi drückte auf die Aus-Taste.

»Mit wem hast du denn so geschwollen geredet?« Leandra stemmte die Hände in die Hüften. »Doch nicht etwa mit dem Anwalt! Ohne mich dazuzuholen?«

»Nicht ich habe mit ihm telefoniert, sondern du«, konterte Naomi.

»Als ob ich so daherreden würde.« Leandra verzog die Mundwinkel. »Du hättest warten können, bis ich wieder vom Einkaufen zurück bin.«

»Ja, ja, aber dann wäre Mama auch im Haus gewesen, und das wollte ich nicht riskieren.« Naomi ließ sich auf das Bett fallen. Sie klopfte auf die Matratze, bis sich ihre Großmutter zu ihr setzte.

Nachdem sie Leandra auf den neuesten Stand gebracht hatte, verschränkte sie die Arme im Nacken und fuhr zusammen, als ein beißender Schmerz durch ihre verletzte Schulter zuckte. Sie drehte sich zur Seite. »Ich wette, der junge Thursfield denkt, der Schlüssel führt zu den Familienjuwelen. Ich musste ihn nicht einmal sehen, um zu wissen, dass seine Augen mit Sicherheit vor Gier geglitzert haben.«

»Naomi, du siehst zu viele Krimis. Überleg mal. Wenn du seit beinahe sechzig Jahren so ein Stück aufbewahrst und es schon hundert Mal wegwerfen wolltest, wärst du dann nicht auch neugierig?«

»Hm«, grunzte Naomi. »Vielleicht. Aber bestimmt würde ich deswegen keine Sightseeingtour anbieten. Apropos. Ich habe ihm gesagt, wir kämen in drei Wochen.«

»Und wie sollen wir das anstellen? Luna flippt aus, wenn du nochmals in ein Flugzeug steigen willst.«

»Oma, es gibt auch Züge«, spottete sie. »Weißt du, das sind die langen Maschinenteile, die auf Schienen durch die Landschaft fahren.«

Leandra gab ihr einen Klaps, bevor sie kopfschüttelnd das Zimmer verließ.