Fünf

 

Leandra sah nervös auf die Uhr, die über dem Bahnsteig der Richmond Rail Station hing. »Wir werden zu spät kommen.«

»Werden wir nicht.« Naomi lächelte. »Außerdem habe ich so eine vage Ahnung, dass Mr. Thursfield auf uns wartet, selbst wenn wir uns um zwei Stunden verspäten.« Sie sah auf den U-Bahn Plan. »Bei Waterloo müssen wir umsteigen. Wir liegen gut in der Zeit.«

Der Zug fuhr ein. Leandra setzte sich auf eine freie Bank und knetete ihre Hände.

»Oma, beruhige dich, okay? Es wird schon alles gut gehen.« Naomi griff nach Leandras Hand und drückte sie. Leandra nickte nur.

Nach zwanzig Minuten erreichten sie Waterloo Station, wo sie den Bahnsteig wechselten, um in die Bahn zur Canary Wharf umzusteigen. Nach weiteren zehn Minuten gelangten sie dort an. Nun mussten sie nur noch die Fleet Street finden.

Naomi sah sich mit zusammengekniffenen Augen um, als sie aus dem Bahnhof ins Tageslicht trat. Funkelnde, verglaste Wolkenkratzer, die, wenn man nach oben sah, nur noch einen schmalen blauen Streifen des Himmels erkennen ließen. Die wenigen historischen Gebäude wirkten daneben wie Spielzeughäuser aus einer anderen Zeit.

Naomi öffnete die in Richmond am Kiosk gekaufte Straßenkarte und suchte nach dem Straßennamen. Sie fand ihn im Register und fuhr mit dem Finger zu den angegebenen Koordinaten. »Oma, hast du nicht behauptet, das Anwaltsbüro läge in der Nähe der Canary Wharf? Du meintest wohl eher in der Nähe von Covent Garden.«

Leandra zog die Stirn kraus. »Das kann nicht sein. Gib mal her.« Sie schnappte sich die Karte und drehte sie hin und her. »Das gibt´s doch gar nicht.«

»Jetzt werden wir tatsächlich zu spät kommen.« Naomi winkte nach einem der schwarzen Taxis, nannte dem Fahrer ihr Ziel und schüttelte den Kopf, als Leandra immer noch die Karte in Händen drehte. »Vergiss es Oma. So was kann vorkommen. Immerhin wissen wir jetzt, wo das Bankenviertel ist.« Naomi betrachtete die noblen Eingänge. Jeder war mit goldenen Schildern und geprägten Lettern versehen, und jeder Einzelne wurde von einem geschäftig aussehenden Portier bewacht. Sie sah sich ihre Jeans und die weiße Bluse an. Vermutlich würde man sie in ihrem Aufzug überhaupt nicht in diese Gebäude lassen. Man sah ihr an, dass sie nicht in diese glitzernde Finanzwelt gehörte. Es könnte Probleme geben, wenn sie das Bankschließfach einsehen wollten.

Sie ließen die verglasten Wolkenkratzer hinter sich, und die Gebäude wurden niedriger und in Naomis Augen, durch die abgesetzten Fensterbögen, auch wieder reizvoller. Leandra kniff immer noch verärgert die Lippen zusammen.

»Oma, mach nicht so ein Gesicht. Genieße den Ausblick. Ist doch was anderes, als mit der U-Bahn zu fahren. Außerdem wollte ich schon immer in einem dieser traditionellen Taxis sitzen.« Naomi lehnte sich entspannt zurück. Die alten Gemäuer strahlten eine geschichtsträchtige Würde aus. Die Fahrt führte die letzte Strecke an der Themse entlang, bevor der Fahrer nach Norden abbog. Naomi hatte angenommen, die Themse sei breiter, ebenso machte London auf sie nicht den Eindruck einer wirklichen Großstadt. Die Häuser waren meist nur dreigeschossig. Abgesehen von den Hochhäusern an der Canary Wharf, die Naomi an Bilder von Manhattan erinnerten, kam ihr London eher wie eine gemütliche Kleinstadt vor. Eine Stadt zum Wohlfühlen.

Das Taxi hielt am Straßenrand, und Naomi schluckte, als sie dem Fahrer stolze zweiunddreißig Pfund übergab und ausstieg.

Naomi sah sich um und entdeckte das Schild der Anwaltskanzlei Thursfield & Partners auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie sah nach links und wollte losgehen, als Leandra sie an der Schulter zurückriss und der Fahrer des Wagens, der von rechts kam, kräftig auf die Hupe drückte. Wenn Leandra sie nicht zurückgehalten hätte, wäre sie direkt vor das herannahende Fahrzeug gelaufen. Sie hatte den Linksverkehr vergessen.

Leandra bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. »Dich kann man keine Sekunde aus den Augen lassen!«

Nach einem Blick nach rechts zog Leandra sie über die Straße. Der Schreck saß Naomi noch in den Gliedern. Ihr Herzschlag beruhigte sich nur langsam. Nachdem ihr Gesicht glühte, war sie überzeugt, krebsrote Wangen zu haben.

Vor dem Eingang blieben sie stehen. Der Torbogen gab einen Blick in die Vorhalle frei. Niemand hielt sich darin auf. Nur ein uniformierter Mann stand am Eingangstor und musterte sie neugierig. Naomi zog ihre Großmutter zur Seite. »Gib mir einen Augenblick. Mein Gesicht gleicht vermutlich immer noch einer roten Ampel.«

Ein Lächeln umspielte Leandras Lippen. »Dann bin ich also nicht die Einzige, die hier nervös ist.«

»Quatsch. Das ist nur der Schreck, weil ich beinahe unter diesem verfluchten Auto gelandet wäre.« Die Arme auf die Knie gestützt, atmete sie einige Züge tief ein und aus, bis sie sich ruhiger fühlte. »Ich bin so weit und du hast recht, ich bin nervös. Können wir?«

Kühle Luft schlug ihnen entgegen, als sie die Eingangshalle betraten. Der Wachmann drückte den Rücken durch. Die nach hinten gekämmten Haare lagen streng und akkurat am Kopf an. Naomi erkannte deutlich jede einzelne Kammzinke. »Good morning, Ladys. Bei wem darf ich Sie anmelden?«

Naomi erwiderte den Gruß und stellte sich vor. »Mr. Thursfield erwartet uns.«

Mit einem kurzen Nicken ließ er sie stehen, griff nach dem Telefon und meldete die Besucher an. »Zweiter Stock, rechte Tür.« Er zeigte nach links. »Bitte hier entlang.«

Naomi ging auf die Treppe zu und stieg die marmornen Stufen nach oben. »Denkst du, der lacht auch mal?«

Leandra zuckte mit den Schultern. Sie schien in Gedanken.

»Oma, wir schaffen das schon. Keine Sorge. Wir holen nur den Schlüssel ab und sind schnell wieder draußen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte sie.

Die Tür im zweiten Stock stand offen, und ein hochgewachsener Mann mit rotblondem Kurzhaarschnitt erwartete sie bereits am Büroeingang. Das musste Mr. Thursfield Junior sein. Das Erste, was Naomi auffiel, waren seine frisch polierten Schuhe. Ihr Blick wanderte mit jeder erklommenen Treppenstufe nach oben. Der Anwalt steckte in einem nachtblauen Anzug, darunter ein weißes Hemd, samt einer dezent gemusterten Krawatte; seine Körperhaltung signalisierte Selbstvertrauen und Kompetenz.

»Mrs. Thomson! Wie schön. Endlich lerne ich Sie persönlich kennen. Haben Sie gleich hergefunden?« Mit einem gewinnenden Lächeln trat er einen Schritt auf Leandra zu und streckte ihr die Hand hin, um sie zu schütteln. Anschließend wandte er sich Naomi zu. »Und das muss Ihre reizende Enkelin sein.« Er griff nach Naomis Hand, drückte sie und legte bekräftigend seine linke obenauf, wie Naomi es bisher nur bei Staatspräsidenten gesehen hatte. Es sollte wohl eine freundschaftliche Geste sein, doch bei ihr bewirkte es das Gegenteil. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Etwas an diesem Mann mahnte sie zur Wachsamkeit. Auch sah Naomi keinen Grund, sie direkt am Eingang zu empfangen. Immerhin wollten sie nur einen alten Schlüssel abholen. Sie waren weder wichtige oder reiche Mandanten, noch waren sie überhaupt Klienten, bei denen er ein Geschäft wittern konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit gab er ihre Hand endlich frei.

»Folgen Sie mir bitte in mein Büro. Mein Vater erwartet Sie sehnsüchtig. Seit Ihrem Anruf spricht er von nichts anderem mehr.« Mit weit ausholenden Schritten marschierte er voran.

Der Weg führte an der Sekretärin vorbei, die sie neugierig über den Brillenrand hinweg musterte, bevor sie die Besucher freundlich grüßte. Es schien auch für sie neu zu sein, dass ihr Chef Mandanten persönlich an der Tür empfing.

Naomi warf ihrer Großmutter einen verwunderten Blick zu und ließ sie vorangehen. Die Einrichtung wirkte gediegen, wie es sich für eine Anwaltskanzlei wohl gehörte. Dunkle Holzmöbel, dicke Teppiche, gemischt mit modernen Gemälden und frischen Blumen.

Mr. Thursfields Büro war im gleichen Stil eingerichtet. Ein wuchtiger Schreibtisch aus edlem Holz, Besucherstühle davor, eine Sitzecke in dunkelbraunem Leder vor einer beeindruckenden Bücherwand. Das Einzige, was ihr fehl am Platz vorkam, war ein Ohrensessel, der in einer Ecke stand. Die Farbe des Bezugs war im Laufe der Jahre zu einem undefinierbaren Schmutzton ausgebleicht.

In dem abgewetzten Sessel saß ein weißhaariger Herr mit auf dem Schoß gefalteten Händen. Sein teuer aussehender Anzug bildete einen merkwürdigen Kontrast zu dem abgenutzten Möbelstück. Seine wachen Augen taxierten Leandra, bevor sein Blick auf Naomi fiel und er hörbar die Luft einzog.

»Darf ich Ihnen meinen Vater vorstellen? Walter Thursfield.«

Unter offensichtlicher Anstrengung stemmte sich Walter Thursfield aus dem Polstersessel. »Welche Freude, Sie endlich kennenzulernen.« Er ging mit ausgebreiteten Armen auf Leandra zu, schüttelte ihr die Hand und legte, wie zuvor sein Sohn, die linke Hand darüber. »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Eine Tasse Tee?« Mit einer einladenden Handbewegung deutete er auf die Sitzgruppe, bevor er Naomi die Hand schüttelte und sie zum Sofa schob.

Naomi setzte sich und schlug die Beine übereinander. Leandra nahm neben ihr Platz, während sich Walter Thursfield in einem Sessel gegenüber niederließ und sein Sohn den Tee in Auftrag gab.

»Nach all den Jahren«, begann Walter Thursfield. Gefolgt von einer ausladenden Geste, die auf Naomi einen einstudierten Eindruck machte. »Nach all den Jahren lüften wir nun endlich das Geheimnis des Schlüssels. Ich kann es kaum glauben. Immer wieder grübelte ich darüber nach, ob ihn tatsächlich jemals jemand abholen käme oder ob er weiterhin in der Obhut unserer Kanzlei verbleiben würde.« Er beugte sich vor und fixierte Leandra. »Was hat es also mit diesem Schlüssel auf sich?«

»Ich muss Sie enttäuschen, Mr. Thursfield. Leider weiß ich es ebenso wenig, wie Sie.« Leandra lehnte sich zurück. Naomi schien es, als wolle ihre Großmutter einen größeren Abstand zwischen sich und den Anwalt bringen. »Durch Zufall bin ich auf eine Notiz meiner Mutter gestoßen. Sie steckte in einem alten Roman. Es lag keine weitere Information dabei. Dort stand nur, dass der Schlüssel zu einem Schließfach gehöre und er in Ihrer Kanzlei in Verwahrung sei. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir mehr darüber sagen.«

Naomi beobachtete den alten Mann. So mühevoll er sich auch aus dem Lehnstuhl erhoben hatte, sein Verstand war immer noch hellwach. Seine blitzenden Augen verrieten ihn. Sein Blick erinnerte sie an jemanden, doch sie kam nicht darauf, an wen.

Geoffrey Thursfield setzte sich rechts von seinem Vater in einen Sessel. »Sie wissen es tatsächlich nicht?«

»Bedauere.« Leandra schüttelte den Kopf. »Bei dem Schlüssel lag kein Brief? Oder sonstige Unterlagen?«

Die Sekretärin brachte auf einem Tablett den Tee mit etwas Gebäck und schenkte ein, bevor sie sich erneut zurückzog.

Naomi beugte sich nach vorn, um endlich etwas zu tun zu haben. Sie pustete in ihre Tasse und beobachtete über den Rand hinweg die beiden Anwälte.

»Leider nicht. Es gibt nur diesen Schlüssel. Sollte mein Schwiegervater mehr gewusst haben, so hat er sein Wissen nicht weitergegeben.« Thursfield Senior griff ebenfalls nach seiner Teetasse. »Zu dem Zeitpunkt, als ich die Kanzlei übernahm, gab es nur eine Quittung von einer Mrs. Romina Thomson, die besagte, die Aufbewahrung sei bis ins Jahr 2035 bezahlt. Als ich in die Kanzlei eintrat, war mein Schwiegervater bedauerlicherweise bereits verstorben und konnte mir keine Auskunft mehr geben. Nur der Schlüssel lag im Tresor. Nichts weiter. Ich musste mich selbstständig in die aktuellen Fälle einarbeiten, und der Anfang gestaltete sich dementsprechend schwierig für mich. Im Laufe der Zeit konnte ich aber alle fraglichen Punkte klären. Alles. Bis auf den Schlüssel.« Er trank einen Schluck und stellte die Tasse zurück. »Geoffrey. Hole bitte das Päckchen.«

Der junge Anwalt erhob sich, ging zum Tresor und entnahm ihm ein Kästchen. In schwarzem Samt ausgeschlagen, wäre es die passende Verpackung für ein Juwel gewesen. »Vielleicht hilft der Schlüssel selbst weiter.« Aufgeklappt stellte er die Schachtel auf den Tisch.

Naomi beugte sich vor. Ihrer Ansicht nach handelte es sich um einen ganz gewöhnlichen Schlüssel. Ein altes Modell. Sie schob das Kästchen zu Leandra hinüber, die den Schlüssel behutsam herausnahm. »War dieser Anhänger schon daran befestigt?«

»Ich habe das Kästchen so in einem Umschlag im Tresor vorgefunden. Auf der Notiz stand nur, dass die Gebühr bezahlt sei und es von einer Miss Leandra Jean Thomson, also Ihnen, abgeholt werden würde. Kein weiteres Wort. Einige Zeit haben wir versucht, Sie zu finden. Doch ohne einen Aufenthaltsort war es ein unmögliches Unterfangen. Sie leben in Deutschland?«

Leandra nickte und drehte das altertümliche Stück in der Hand. Naomi entdeckte ein Glitzern in Leandras Augen und hoffte, die Anwälte sähen es nicht ebenso.

Um die Wachsamkeit der Männer von Leandra abzulenken, griff Naomi nach dem Anhänger in Leandras Hand. »Sie kannten also meine Urgroßmutter gar nicht?«

Walter Thursfield verneinte.

»Dabei hatte ich gehofft, jetzt mehr über sie zu erfahren. Sie starb sehr früh. Ich habe sie leider nie kennengelernt.«

Für einen Moment hielt sie dem forschenden Blick stand. Walter Thursfields Augen waren von einem wässrigen Blau. Es waren kalte Augen, die Naomi frösteln ließen. »Dann werden wir das Rätsel um den Schlüssel vermutlich nie lösen.«

Sie wandte den Blick ab und sah zu Geoffrey Thursfield, der den Schlüssel nicht aus den Augen verlor. Er schien viel neugieriger zu sein, als sein Vater, auch wenn er bisher kaum ein Wort gesagt hatte. Es war die Art, wie er sie beobachtete und offenbar analysierte.

Geoffrey Thursfield war vielleicht dreißig Jahre alt. Was interessierte er sich für diesen Schlüssel? Es gab keinen Grund dafür. Dass sich ein alter Mann sein Leben lang über einen hinterlegten Schlüssel Gedanken machte, über den er immer wieder stolperte, sobald er den Tresor öffnete, leuchtete Naomi ein. Doch ein junger Mann wie Geoffrey? Dem sollte es gleichgültig sein. Das merkwürdige Flattern in ihrer Magengegend, seitdem sie diese Kanzlei betreten hatte, verstärkte sich. Naomi stand auf. »Wir danken Ihnen vielmals für Ihre Zeit, und auch dafür, dass Sie den Schlüssel aufbewahrt haben. Um mehr, als ein Andenken an meine Urgroßmutter, handelt es sich leider nicht, auch wenn wir auf den Familienschmuck gehofft hatten.« Ihr gelang ein spöttisches Lächeln. »Aber jetzt wollen wir Sie nicht länger aufhalten.« Sie ließ den Schlüssel in ihrer Jeans verschwinden.

Walter Thursfield erhob sich und nickte. Er reichte Leandra die Hand, um ihr vom Sofa hochzuhelfen, obwohl sie damit keine Mühe gehabt hätte. »Mein Sohn hat angeboten, Ihnen die Stadt zu zeigen. Darf ich Sie dabei begleiten?«

»Ihr Sohn hat mit Sicherheit Besseres zu tun, als zwei Frauen durch London zu kutschieren.« Leandra lächelte zuckersüß. »Ich kenne London sehr gut. Es hat sich zwar viel verändert in den letzten zwanzig Jahren, aber wir kommen zurecht. Herzlichen Dank.«

Geoffrey trat neben Naomi. Mit einem strahlenden Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, widersprach er. »Es wäre mir aber durchaus ein Vergnügen, zumal ich mir den Tag für Sie frei gehalten habe.«

Dem Impuls, einen Schritt zurückzuweichen, widerstand Naomi. Stattdessen sah sie an ihm hoch, legte ihm versöhnlich die Hand an den Oberarm und setzte zum Gegenangriff an. »Wir bleiben einige Tage hier. Darf ich später auf Ihr Angebot zurückkommen? Heute will ich mir gerne den Tower ansehen, und es wäre langweilig für Sie, neben uns und den anderen Touristen in der Warteschlange zu stehen.« Mit einem tiefen Blick in Geoffreys Augen zog sie ihre Hand zurück. »Ich melde mich bei Ihnen. Versprochen. Vielleicht zu einem Abendessen?«

In den Augen des Anwalts blitzte es auf. Er übergab ihr seine Visitenkarte. »Nun haben Sie meine Handynummer. Und denken Sie daran, Versprechen bricht man nicht.«

»Ich werde es nicht vergessen.«

Thursfield Senior und Junior begleiteten sie bis zum Ausgang. Hinter der Sekretärin stand ein junger Mann, der sich grußlos umdrehte und in ein anderes Büro schlüpfte. Naomi sah nur noch sein Profil, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand. Obwohl sie nur einen raschen Blick auf ihn geworfen hatte, glaubte sie, ihn schon einmal woanders gesehen zu haben. Bevor Naomi weiter darüber nachdenken konnte, wandte sich Geoffrey Thursfield mit einer letzten, neugierigen Frage an sie. »Wo wohnen Sie in London? Falls sie noch eine Empfehlung benötigen ...«

»Danke. Wir besuchen alte Bekannte in West End.« Leandra suchte Naomis Blick. »Naomis Lieblingsfilm ist Notting Hill. Sie war ganz begeistert von dieser Ecke Londons.«

Thursfield lächelte, als sei er zufrieden, verabschiedete sich und erinnerte Naomi nochmals an ihr Versprechen.

Thursfield Senior nickte mehrmals mit dem Kopf. »Sollten Sie das Geheimnis noch lüften ...«

»Dann lassen wir es Sie natürlich wissen«, schnitt ihm Naomi das Wort ab. »Das sind wir Ihnen nach all den Jahren schuldig.«

 

Naomi zog ihre Großmutter mit sich um die nächste Straßenecke. »Du bist eine verdammt gute Lügnerin. Notting Hill? Den Film habe ich nur dir zuliebe angesehen.«

Leandra lachte wie ein Schulmädchen, das man beim Tuscheln erwischt hatte. »Für dein Alter bist du auch nicht schlecht.« Ihre Augen funkelten vergnügt. »Der Junior wird sein Handy vermutlich sogar auf die Toilette mitschleppen.«

Naomi hakte sich lachend bei Leandra unter. Gemeinsam schlenderten sie nach Süden, bis sie auf die Victoria Embankment trafen, die in Richtung Innenstadt führte. Sie gingen an der Themse entlang, wo eine freie Parkbank direkt am Fluss stand, und setzten sich. Naomi sah ans andere Flussufer. »Was hältst du eigentlich von den beiden Anwälten?«

Leandra knetete ihre Hände. »Sie sind eine Spur zu neugierig und hilfsbereit. Man kann ihnen nicht trauen. Immerhin haben wir den Schlüssel.« Sie sah auf den gemächlich dahinfließenden Fluss hinaus. »Übrigens erscheint mir deine Hosentasche nicht der richtige Aufbewahrungsort zu sein. Gib ihn mir. Ich stecke ihn besser in die Handtasche.«

Naomi schüttelte den Kopf und klopfte auf ihre Jeans. »Der Schlüssel ist dort gut aufgehoben. Was denkst du, wie schnell dir jemand die Handtasche klauen kann.« Naomi drehte sich vielsagend um. Hinter ihrem Rücken hasteten Leute die Straße entlang. »Oma, was ich dir noch erzählen wollte. Gestern starrte mich so ein Typ bei unserer Ankunft am Hauptbahnhof an.«

»Ja, und?«

Naomi blickte nachdenklich auf die Themse. »Ich bin mir fast sicher, dass es sich dabei um denselben Kerl handelt, der vorhin im Anwaltsbüro so schnell verschwunden ist.«

»Ich habe im Büro niemanden bemerkt.« Leandra stand auf, drehte sich zu Naomi um und streckte sich umständlich. »Da bildest du dir was ein. Und ich dachte immer, ich leide an Verfolgungswahn.«

Ihre Großmutter hielt ihr die Hand hin. »Los. Gehen wir weiter. Ich zeige dir die Stadt.« Sie lächelte Naomi an. »Das dort vorn ist das berühmte London Eye.« Leandras Stimme wurde lauter. »Siehst du das hohe Gebäude dort? Das ist das Southpark Center, dahinter die Waterloo Station. Wir wären also tatsächlich besser hier ausgestiegen.«

Naomi sah sich das Riesenrad an. »Du willst doch nicht wirklich jetzt eine Stadtführung mit mir machen, oder?«

»Wir müssen deiner Mutter doch was zu erzählen haben!«

Den Weg bis zur Waterloo Bridge legten sie schweigend zurück. Obwohl Leandra sie unbeschwert auf dieses und jenes aufmerksam machte, kostete es Naomi unglaubliche Selbstbeherrschung, sich nicht ständig umzudrehen, bis sie es kurz vor der Brücke nicht mehr aushielt. Ihr Blick suchte das Ufer ab, doch sie konnte nichts Auffälliges entdecken. Trotzdem ließ sie das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden.

Naomi setzte sich auf die Kaimauer und zeigte mit dem Finger auf eine Häuserfront aus weißen Klinkersteinen, die imposant über den Eingängen der Geschäfte aufragte. »Was ist das für ein Palast? Ein Regierungsgebäude?« Nun konnte sie problemlos die Straße einsehen. Es eilten jedoch nur einige Fußgänger die Promenade entlang. Geschickt wichen sie den Touristen aus, die plötzlich stehen blieben, um sich irgendein Gebäude anzusehen.

»Das ist Sommerset House. Warum?«

Mit einem Satz sprang sie von der Mauererhöhung. »Das würde ich mir gerne mal ansehen, aber erst kommt der Tower dran.«

»Meine alten Knochen schaffen das nicht mehr.« Die Stirn in Falten gelegt, ging Leandra die Straße entlang. »Wir sollten ein Taxi anhalten, Kindchen.«

Die Hände in die Seiten gestemmt, ignorierte Naomi den Einwand. »Du hast mir doch eben eine Sightseeingtour versprochen.«

»Also gut, eine kleine Runde noch.« Mit einem tiefen Seufzer setzte Leandra einen Fuß vor den anderen. »Die große Tour holen wir nach, wenn ich bequeme Schuhe anhabe. Diese Absätze bringen mich um.«

Sie verließen die Victoria Embankment, spazierten zur Downing Street Number 10, wo sie durch das geschlossene Gittertor spähten, bevor sie den Weg zur Westminster Abbey einschlugen. Auch wenn Naomi die historischen Gebäude gerne besichtigt oder zumindest von außen betrachtet hätte, war ihr bewusst, dass der Aufenthalt in London keine Urlaubsreise war. Vielleicht bekäme sie später noch Gelegenheit für Besichtigungen.

Naomi bemerkte die langsamer werdenden Schritte ihrer Großmutter. Ohne die viktorianischen Häuser eines Blickes zu würdigen, schlurfte sie hinter Naomi her. Leandra benötigte dringend eine Pause. Ihr selbst brannten ebenfalls die Fußsohlen vom langen Gehen.

Naomi suchte nach einem Taxi. Mit einem Handzeichen brachte sie den Fahrer eines freien Wagens zum Halten. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Person wahr, die ein Handy hervorkramte, ein Gespräch entgegennahm und sich abwandte. Für einen kurzen Moment meinte sie, den Kerl aus der Anwaltskanzlei in ihm zu erkennen. Sie schüttelte den Kopf. Vermutlich sah sie Gespenster. Da der Mann ihr den Rücken zudrehte, war kein zweiter Blick möglich.

Durch die Heckscheibe versuchte sie, einen weiteren Blick auf ihn zu erhaschen. Er könnte in etwa so groß sein, wie der Typ in der Kanzlei, auch das kastanienfarbene Haar passte. Sein Gesicht erkannte sie beim besten Willen nicht.

Der Wagen entfernte sich, und sie sah nur noch, wie die Person mit dem Fuß aufstampfte und das Handy auf den Asphalt warf. Es zersprang in zwei Teile; ein weiteres Fußstampfen folgte, bevor er sich an die Stirn griff und hinter dem Taxi her starrte. Diesen Eindruck erweckte die Situation zumindest bei Naomi.

 

»Hast du den gesehen?«, fragte Naomi und warf einen verunsicherten Blick durch die Heckscheibe, als das Taxi an einer roten Ampel stoppte. Von dem Fremden war jedoch nichts mehr zu sehen. Hinter ihnen hielten weitere Fahrzeuge, unter anderem ein Transporter, der die Sicht auf die Stelle verdeckte, wo der junge Mann gestanden hatte.

Leandra folgte ihrem Blick. »Wen meinst du?«

»Schon gut, Oma.« Naomi kaute an ihrem Daumennagel. Die rote Ampel sprang auf grün um, und die Fahrt ging weiter.

Leandra zuckte nur mit den Schultern. »Geht’s dir nicht gut?«

»Doch Oma, alles bestens. Plündern wir bald das Schließfach?« Ein ungutes Gefühl drängte sie dazu, rasch zu handeln. Außerdem mussten sie umziehen. Die Aufzeichnungen von Romina waren einfach zu wertvoll. »Und danach suchen wir uns eine andere Unterkunft. Zumindest ich werde das tun. Du kannst ja bei deiner Freundin bleiben.«

Leandra strich sich die Haare zurück. »Lass uns morgen darüber reden, ja? Für heute hatte ich wirklich genug Abenteuer.«