Sechszehn

 

Roman strich Naomi eine Haarsträhne aus der Stirn und küsste sie zum Abschied. Sie sah ihm zu, wie er die Tür schloss und räkelte sich genüsslich unter der Bettdecke. Sie spürte, wie sie lächelte. Eigentlich sollte sie selbst aufstehen. Sie zog Romans Kopfkissen zu sich. Es roch nach ihm. Herb und würzig. Sie vergrub ihr Gesicht in den Federn. Was für eine Nacht! Sie musste Alice anrufen, und Kai. Mit einem Satz war sie aus den Laken. Der Zettel mit Kais Nummer lag auf dem Schreibtisch. »Kai?«, fragte sie, als sich eine namenlose dunkle Stimme meldete.

»Naomi?«, fragte es zurück.

»Du hörst dich merkwürdig an. Ist alles okay?« Seine Stimme klang anders als am Vortag. Sie war sich sicher, dass es nicht nur am Telefon lag. »Was ist los?«

»Sag mir lieber, wie es bei dir lief«, antwortete er.

»Roman hat mir den Black-out geglaubt. Aber bei dir stimmt doch was nicht.« Naomi wollte endlich wissen, warum er so seltsam klang. »Soll ich vorbeikommen?«

Kai seufzte. »Nein, wirklich nicht. Ich bin nicht zu Hause. Lass uns später reden, ja?«

»Immer später«, maulte sie. »Lass mich dir doch helfen.«

Kai wiegelte ab. Er versprach, sie später anzurufen. Naomi blieb neben dem Telefon stehen. Sollte Kai sich nicht melden, würde sie bei ihm vorbeigehen. Dieses Mal würde sie nicht locker lassen. Doch erst war Alice dran. Nachdem sie ihr nicht erzählen konnte, sie sei bei Roman gewesen, musste sie ihr die gleiche Black-out-Geschichte wie Roman erzählen. Das war vermutlich auch besser. Immerhin kannten sich die beiden. Besser, sie bliebe bei dieser einen Lüge. So war die Gefahr, sich zu verstricken weniger groß.

»Alice, bist du schon auf dem Weg zur Uni?«, fragte Naomi.

»Das wurde aber auch Zeit! Du bist mir eine tolle Freundin. Mir nichts, dir nichts übers Wochenende abhauen und mich hier einfach alleine sitzen lassen.« Alices Stimme klang leicht verärgert, wobei Naomi sich nicht sicher war, ob Alice diesen Tonfall nicht nur vortäuschte.

»So war das nicht«, sagte Naomi. »Komm vorbei und ich erkläre es dir auf dem Weg zum Hörsaal.«

»Ich will jedes schmutzige Detail erfahren.« Alice lachte übermütig.

Naomi hatte richtig gelegen mit der Vermutung, dass Alice sie nur aufziehen wollte. Alice war nicht nachtragend und außerdem viel zu neugierig, um lange eingeschnappt zu sein.

 

»Und du erinnerst dich an gar nichts mehr?« Alice riss die Augen auf, als Naomi den Kopf schüttelte. »Schräg. Echt schräg. Aber du solltest echt zum Arzt gehen.«

Naomi nickte ergeben.

»Jetzt aber zu Roman«, setzte Alice nach.

Naomi spürte, wie die Hitze in ihre Wangen stieg. Sie grinste vielsagend.

»Ihr habt es also getan«, quietschte Alice.

Naomi sah sich nach allen Seiten um. Doch die anderen Studenten waren in ihre eigenen Gespräche vertieft. Keiner nahm Notiz von ihnen. »Ja, und nicht nur ein Mal.« Sie erreichten den Eingang zum Vorlesungssaal. Naomi senkte die Stimme. Sie beugte sich zu Alices Ohr und flüsterte: »Und es war einfach nur ... göttlich.« Naomi ließ sich auf einen Stuhl fallen, streckte die Beine von sich und grinste Alice süffisant an.

Robert betrat den Saal. Unverzüglich war Ruhe. Alice sah immer wieder zu ihr, was Naomi zu einem noch breiteren Grinsen veranlasste. Nachdem sie Robert nicht verärgern wollte, kritzelte sie auf ihren Block. Naomi fiel der Zettel wieder ein, wo Alice geschrieben hatte, sie solle sie  dringend anrufen. Warum sollte ich dich anrufen?

Alice schrieb nur ein Wort. Später. Naomi würde sich gedulden müssen. Bevor Naomi jedoch mit Alice sprechen konnte, pfiff ihr Sporttrainer sie zu sich. Da Robert mit Roman befreundet war, wusste er von ihrem Verschwinden und Romans Suche nach ihr. Erst zögerte Naomi, Robert ebenfalls die Black-out-Geschichte aufzutischen und sich lieber damit herauszureden, es handle sich um eine private Angelegenheit. Doch durch Roberts Freundschaft zu Roman würde er es früher oder später sowieso erfahren. So erzählte sie ihm die Kurzversion. Auch er schickte sie zum Arzt, Naomi nickte und bekräftigte, sie würde noch diese Woche gehen. Sie war zwar erleichtert, dass jeder ihre Geschichte schluckte, trotzdem lagen diese Lügen wie eine Last auf ihrem Gewissen. Sie log nie. Manchmal bog sie sich zwar die Wahrheit ein wenig zurecht, oder sie verschwieg unangenehme Dinge, was man vielleicht auch als lügen auslegen könnte; aber eine gewohnheitsmäßige Lügnerin war sie nicht. Sie hoffte, nun endlich niemandem mehr diese Lüge auftischen zu müssen. Die sorgenvollen und mitfühlenden Blicke ertrug sie nur schwer.

 

*

 

Sammy gähnte herzhaft. Er trank den letzten Schluck kalten Kaffee aus und warf den leeren Pappbecher in den Fußraum der Beifahrerseite, wo sich schon ein ganzer Berg von leeren Getränkedosen, Pappschachteln und Chipstüten stapelte. Eigentlich könnte er nach Hause fahren. Kai hielt sich seit fünfzehn Stunden in Cassidys Wohnung auf. Sammy grinste. Irgendwann kommen sie alle wieder, dachte er. Es war nur eine Frage der Zeit. In Kais Fall waren sechs Jahre vergangen. Kai hatte zwar an Erfahrung gewonnen, aber schlauer war er in dieser Zeit nicht geworden. Ansonsten hätte er diesen Fehler nicht begangen. Kai musste wissen, dass Sammy diese Treffen nicht entgehen würden. Da nutzte auch die neue Haarfarbe seiner süßen Cassidy nichts. Vielleicht hätte er sie in Ruhe gelassen. Aber nur vielleicht. Kai hätte ihm Naomi überlassen sollen. Aber das hatte er nicht getan. Er hatte sie ihm weggenommen, bevor er wieder in der Lage gewesen war, die Höhle aufzusuchen. Nun würde er sich eben um Cassidy kümmern. Sammy gähnte erneut. Zeit, sich schlafen zu legen.

Sammy startete den Wagen und fuhr nach Hause. Cassidy würde ihm nicht davonlaufen. Ebensowenig wie Naomi, Roman oder Alice.

 

*

 

Naomi suchte nach Alice auf dem Unigelände. Sie hatten sich beim kleinen Park verabredet. Sie entdeckte sie auf dem sonnenüberfluteten Rasenstück. Alice lag auf dem Rücken und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. »Das nennst du also lernen.«

Alice öffnete die Augen und grinste.

Naomi ließ ihre Tasche fallen und setzte sich neben ihre Freundin. »Jetzt will ich aber endlich wissen, was los ist.«

Alice rappelte sich auf und schlug die Beine im Schneidersitz übereinander. Dabei stieß sie ihren Rucksack um. Ein Buch rutschte zur Hälfte heraus. »Das errätst du nie!«

Naomi sah das Glitzern in ihren Augen. Alice strahlte über das ganze Gesicht. »Du besuchst Karsten«, sagte sie.

»Och, Mensch.« Alice schob ihre Unterlippe nach vorn und schmollte. »Karsten kann was erleben! Ich wollte es dir selbst sagen, und er wusste das!«

»Falsch. Ich habe mit Karsten noch gar nicht gesprochen.« Naomi griff nach dem herausgerutschten Buch. Sie wedelte mit einem Reiseführer von Barcelona vor Alices Nase herum. »Den hättest du besser wegpacken müssen.« Naomi lachte. »Wie lange willst du bleiben?«

Alice schnappte nach dem Reiseführer. »Ha, wenigstens weißt du noch nicht alles.«

»Also?«, fragte Naomi.

Alice wollte mindestens drei Monate dort bleiben. Karsten hatte ihr einen freien Platz im ERASMUS-Programm besorgt. Ihr Sportstudium würde sie später fortsetzen; vielleicht sogar in Barcelona, wenn sie die Möglichkeit dazu hatte. Erst wollte sie Spanisch lernen. So hatte sie es zumindest ihren Eltern verkauft, die die Reise finanzierten. Eine Fremdsprache war immer wichtig, und Spanisch hatte sie schon in der Schule gehabt. Eine Auffrischung wäre wichtig und dringend notwendig.

»Von Karsten wissen sie nichts?«, wollte Naomi wissen.

Alice schüttelte den Kopf. »Noch nicht, sonst würden sie mich niemals gehen lassen und sagen, ich mache das nur wegen eines dahergelaufenen Typen, der mir den Kopf verdreht hat.«

Naomi schmunzelte. Karsten war also ein dahergelaufener Typ. Irgendwie konnte sie die Bezeichnung ja verstehen. Alices Eltern kannten Karsten nicht und würden sich um sie sorgen. »Aber genau so ist es doch oder etwa nicht?«

Alice zupfte einen Grashalm aus der Erde. »Schon, aber das müssen meine Eltern ja nicht wissen, oder? Besser, sie glauben, mein Ehrgeiz wäre endlich geweckt.«

Alice schmiss ihr Studium, ohne mit der Wimper zu zucken. Etwas, wofür Naomi so hart gekämpft hatte. Alice, ihre einzige Freundin, würde gehen. In zwei Wochen schon. Ohne Alice wäre es hier nicht mehr dasselbe. Sicher, sie unterhielt sich mit ihren Kommilitoninnen, aber eine tiefere Freundschaft hatte sich nicht entwickelt. Vermutlich lag es an ihr. Wirkliche Mühe hatte sie sich nicht gegeben. Anfangs hatte sie oft Einladungen bekommen. Angenommen hatte sie keine. Das Training, ihre Freunde, Roman. Immer war ihr irgendetwas wichtiger gewesen. Sie hatte Alice, Sammy und Roman gehabt. Alice ging nun fort, Sammy war nicht mehr Freund, sondern Feind, und Roman musste sie belügen. Und Kai? Ja, Kai war eher ein Leidensgenosse. Naomi erschrak über ihre selbstsüchtigen Gedanken. Anstatt sich selbst zu bemitleiden, sollte sie sich für Alice und Karsten freuen. Im Grunde wusste sie, dass die beiden gut zueinander passten, und sie würde Alice auch gar nicht als Freundin verlieren. Sie würden sich nur nicht mehr so häufig sehen. Naomi schob ihre trüben Gedanken beiseite. »Auf eure E-mails bin ich schon gespannt.« Naomi lächelte. »Und wenn es Probleme gibt und ich schlichten soll, dann zahlt ihr mein Flugticket. Klar?«

Alice fiel Naomi um den Hals. »Danke. Du bist echt die Beste. Ich hatte irgendwie befürchtet, dass du versuchen würdest, es mir auszureden. Karsten übrigens auch.« Naomi lächelte in sich hinein. Offensichtlich war sie leicht zu durchschauen. Genau das hätte sie versucht, wenn sie nicht selbst verliebt gewesen wäre. Aber sie verstand Alice besser, als diese dachte. Wenn Roman in Barcelona wäre, würde sie keine Sekunde zögern und sich in die nächste Maschine setzen.

 

*

 

Kai hielt sein Versprechen. Naomis Handy klingelte, als sie gerade die Haustür zu ihrem Studio aufschloss. Da Roman den verpassten Arbeitstag, den sie im Bett verbracht hatten, im Forschungslabor nachholen musste, vereinbarte sie mit Kai ein Treffen. Er würde sie in einer Stunde abholen. Naomi war gespannt, was Kai ihr erzählen mochte.

Naomi sah aus dem geöffneten Fenster. Die Sonne schien, keine Wolke war am Himmel. Es roch nach frisch gemähtem Gras, vermischt mit einem süßen Blütenduft. Es roch nach Frühling. Naomi beobachtete die Straße. Studenten joggten an ihrem Wohnblock vorbei, blieben hie und da für eine Begrüßung stehen. Lachen drang in ihr Zimmer. Die Normalität des heutigen Tages beruhigte Naomi ein wenig. Trotzdem wusste sie, dass nichts mehr wie früher war. Ihre Verabredung mit Kai hatte nichts Normales. Sie war neugierig auf seine Vergangenheit, doch fürchtete sie sich auch davor. Sie hatte seinen traurigen Gesichtsausdruck immer noch vor Augen.

Kai hielt vor dem Wohnheim und winkte ihr. Naomi griff nach ihrer Jacke und eilte nach unten.

»Wollen wir zum Italiener?«, fragte Naomi. »Ich habe Hunger.«

Kai schüttelte den Kopf und kramte im Handschuhfach eine Packung Kekse hervor. »Das muss reichen. Wir sollten nicht zu oft miteinander gesehen werden. Also fahren wir einfach raus aus der Stadt.«

Naomi griff nach den Keksen. »Wie du meinst.« In ihrer Stimme lag ein widerwilliger Tonfall.

Kai brummte nur. Schweigend fuhren sie dreißig Minuten in Richtung Norden. Naomi kannte die Gegend nicht, und es war ihr auch egal. Hauptsache, er würde ihr seine Geschichte erzählen. Auf einem kleinen Kiesweg, abseits der Hauptstraße, stellte er den Wagen ab. »Lass uns ein Stück gehen. Ich brauche Bewegung.«

Naomi stieg aus. Die Kekspackung nahm sie mit. Kai steckte zwei Flaschen Wasser in seine Jackentasche. »Ist mit Roman alles okay?«

Naomi nickte. »Ich soll nur zum Arzt gehen. Alice und mein Trainer drängen auch dazu. Diese Woche fahre ich nach Bangor. Danach sollten alle zufrieden sein. Alice geht übrigens nach Barcelona. Damit ist meine Ausrede für den nächsten Vollmond beim Teufel. Ich muss mir für Roman noch etwas ausdenken. Aber es ist ja noch Zeit.«

Sie gingen schweigend einige Schritte. Naomi sah, wie Kai nervös auf seine Lippen biss. Naomi hakte sich bei ihm unter. »Du wolltest mir deine Geschichte erzählen.«

Kai seufzte und verlangsamte seine Schritte. Zögernd begann er zu erzählen. Alles lag sieben Jahre zurück. Er war etwa in Naomis Alter gewesen. Naomi hob die Augenbrauen. Vor sieben Jahren? Dann wäre er ja höchstens achtundzwanzig. Kai sah viel älter aus. Sie hatte ihn auf mitte Dreißig geschätzt.

Kai musste ihren überraschten Gesichtsausdruck gesehen haben. »Ich sehe älter aus, als ich bin. Zu viele Sorgen.« Zu dieser Zeit lebte er in Arlington. Dort lernte er Cassidy kennen. »Ich habe mich sofort in sie verliebt. Ein Blick hatte genügt. Erst habe ich es gar nicht gemerkt, sie ging mir nur nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte zwar gewusst, dass wir uns nur ein einziges Mal verlieben, aber geglaubt habe ich es nicht. Es gab immer irgendein Mädchen, das mir gefiel, aber nie war es so gewesen, dass ich das Mädchen nicht mehr aus meinen Gedanken vertreiben konnte. Mit Cassidy war alles anders. Wir verliebten uns und hatten viel Spaß. An den Vollmonden schob ich Elternbesuche vor, manchmal auch irgendwelche Lehrgänge. Cassidy vertraute mir. Ich traf mich mit Jean und anderen im Wald. Jean achtete auf mich. Damals war ich noch sehr unerfahren. Sie trainierte mich, und warnte mich vor dem feindlichen Clan. Jean versuchte mir klar zu machen, dass ich Cassidy verlassen müsse. Wenn nicht, würde sie sterben. Ich machte mir nichts aus ihren Warnungen, bis sich die Unfälle häuften. Jemand hatte es auf Cassidy abgesehen. Cassidy ist begeisterte Free Climberin. Einmal stürzte sie beinahe ab. Es war ein Wunder, dass Cassidy sich verfing. Sie krallte ihre Finger in eine Felsspalte und konnte sich festhalten, bis auch ihre Beine irgendwo Halt fanden. Die Kontrolle des Seils ergab, dass es angeschnitten worden war. Ein anderes Mal versuchte jemand, sie mit dem Wagen von der Straße zu drängen, als sie mit dem Rad unterwegs war. Eine Woche später stieß sie jemand im Dunkeln die Treppe hinunter.«

Naomi schnürte es die Kehle zu. Sie wusste, worauf Kai hinaus wollte. Er hatte es bei ihrem ersten Treffen schon angedeutet. Nun wollte er ihr das Ausmaß der Bedrohung darlegen. »Weißt du, wer dahinter steckte?«

Kai nickte. »Sammy. Mit einem Freund.«

Deswegen hatte Kai Sammy einen Mörder genannt. Ihr Verstand weigerte sich immer noch zu glauben, dass Sammy tatsächlich dazu fähig war, jemanden zu töten. »Jean hatte vollkommen Recht. Ich brachte Cassidy in Lebensgefahr. Also habe ich sie verlassen. Eines Nachts gab ich ihr den Kuss des Vergessens und verschwand. Jean achtete auf Cassidy. Sie hielt mich auf dem Laufenden. Für mich war es schrecklich zu hören, dass es funktioniert hatte. Ich hatte tatsächlich Cassidys Gefühle für mich ausgelöscht. Sie ging mit anderen Jungs aus, amüsierte sich und schien mich einfach vergessen zu haben. Ich konnte sie aber nicht vergessen. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte. Je mehr Zeit verging, desto schmerzhafter war der Verlust.«

Naomi würgte kurz, bevor sie etwas sagen konnte. »Weißt du, wie es ihr geht?«

Kai ließ ihre Frage unbeantwortet. »Ich verließ Arlington und zog die letzten Jahre quer durch die Bundesstaaten Vermont, Pennsylvania und New Hampshire, bis ich vor drei Monaten in Maine landete. Ich traute meinen Augen kaum, als ich Cassidy in einem Supermarkt über den Weg lief. Sechs Jahre hatte ich sie nicht gesehen. Es war für mich ein Schock, sie so unvorbereitet wieder zu treffen. Ihr Blick streifte mich nur kurz. In ihrem Gesicht las ich Unverständnis und Unsicherheit, als sie mich nochmals ansah. Ich drehte mich weg. Zu verwirrt, um zu reagieren. Ein Typ war bei ihr. Du kennst ihn von der Prüfung.«

Naomi stand der Mund offen. »Dave«, flüsterte sie.

Kai nickte abwesend. »Cassidy kam auf mich zu. Sie sprach mich einfach an und fragte, ob wir uns von irgendwoher kennen würden. Ich verneinte und ging. Ich geriet in Panik. Ich dachte eigentlich, sie würde mich nicht erkennen. Doch das war ein Irrtum. Auf dem Parkplatz wartete ich, bis sie das Geschäft verließ. Ich fuhr ihr nach, und nachdem ich nun wusste, wo sie wohnte, lief ich ihr absichtlich über den Weg. Ich musste sie einfach wieder sehen. Es war wie damals. Ein Blick hatte genügt. Schicksal.« Kai schwieg für einen Moment. »Cassidy machte mit dem Typen aus dem Supermarkt kurz vor deiner Prüfung Schluss. Seitdem treffen wir uns regelmäßig. Um ihren Ex-Freund nicht zu provozieren, sehen wir uns nur heimlich. Mir ist das nur recht. Sammy darf nicht erfahren, dass Cassidy hier ist.«

Naomi wurde wütend. Sie stemmte die Arme in die Hüften und baute sich vor Kai auf. »Und mir willst du verbieten, Roman zu treffen.«

»Naomi, hör mir doch zu. Das mit Cassidy fing an, bevor ich wusste, dass Sammy hier ist. Oder du. Cassidy geht nächste Woche nach Lancaster, um einen neuen Job anzutreten. Sie will weg von hier, was mir nur recht ist. Damit ist sie aus der Schusslinie. Sobald ich sicher bin, dass du alleine zurechtkommst, folge ich ihr. Sammy weiß nichts von ihr, also besteht im Moment auch keine Gefahr. Cassidy ist für eine Woche im Acadia National Park beim Klettern. Sie wollte noch ein Mal in die Berge. Lancaster hat in diese Richtung nicht allzu viel zu bieten.« Kai packte sie an den Armen und sah ihr eindringlich in die Augen. »Ich versuche, dir zu erklären, dass du dich von Roman fern halten sollst. Du bringst ihn in Gefahr.«

Naomi machte sich los. »Sammy ist doch gar nicht mehr hier. Oder hast du ihn etwa gesehen?« Sie wollte und konnte Roman nicht einfach verlassen. Wie stellte sich Kai das denn vor? Einfach aufgeben, wie er? Warum war er nicht mit Cassidy weggezogen? Das hätte er doch auch tun können. Kai war feige. Sie würde nicht einfach aufgeben.

»Naomi. Sammy war in der zweiten Nacht bei der Lichtung. Er hat uns beobachtet. Ich habe seine Anwesenheit gespürt. Er ist nicht weg. Nicht, bevor er mit uns fertig ist. So einfach läuft das nicht. Verstehe das doch endlich!« Kai war wütend. Seine Stirn lag in tiefen Falten und seine Augen waren zu Schlitzen geworden. »Du glaubst, du könntest alles regeln, was? Nichts kannst du. Gar nichts. Sammy wird keine Ruhe geben. Ich dachte auch, ich könnte Sammy austricksen. Beinahe hätte ich deswegen Cassidy verloren. Willst du Roman sterben sehen?«

Naomi brach in Tränen aus. Wie konnte er nur so etwas Grausames sagen? Sie liebte Roman. Nie würde sie ihn in Gefahr bringen. Aber Kai sah alles viel zu schwarz. Für ihn gab es nur Tod oder Verlassen. Es musste eine andere Lösung geben. Sie wusste nur nicht welche. Ihre Schultern bebten, sie schniefte und kramte nach einem Taschentuch in ihrer Handtasche. Dann fiel ihr ein, was sie in der ersten Nacht gesagt hatte. Sie wischte sich die Tränen fort. »Nein, aber ich will Sammy sterben sehen.«

Kai sah sie lange an. Langsam schüttelte er den Kopf. »Das ist unmöglich.«

Naomi starrte ihn entschlossen an. »Vielleicht nicht bei Vollmond, aber als Mensch ist er nicht so stark, wie wir beide. Wir müssen ihn nur finden.«