Neun

 

Auf dem Weg zurück in ihre Pension dachte Naomi über den Brief nach. Hoffentlich lenkte der Theaterbesuch mit Emma ihre Großmutter für einige Zeit ab. Leandras bedeutungsschwangere Blicke hatten sie nervös gemacht und lustlos im Essen herumstochern lassen. Dabei hatte sich Emma solche Mühe gegeben.

Emma hatte einige Male ihren Mund geöffnet, nur um ihn kommentarlos wieder zu schließen. Vermutlich dachte sie, Naomis mangelnder Appetit hinge mit ihrem Freund zusammen und wollte nicht neugierig erscheinen, indem sie nachfragte.

Naomi musste ihrer Oma recht geben. Emma würde niemals in ihren Sachen herumschnüffeln. Trotzdem war sie in einem Motel für die kommenden beiden Nächte besser aufgehoben. Dort würde keiner Fragen stellen, wenn sie erst im Morgengrauen zurückkäme.

Als sie an der Rezeption vorbeikam, hob der Angestellte kurz seinen Blick aus der vor ihm liegenden Zeitung, nickte und widmete sich weiter den Schlagzeilen.

Mit zunehmender Dunkelheit wuchs Naomis Unruhe. Es kostete sie immer größere Anstrengung frei zu atmen. Das Gefühl des Eingesperrtseins drängte sie ins Freie. Selbst das geöffnete Fenster verschaffte ihr nur Linderung, wenn sie direkt davor stand. Der Blick auf den Friedhof, der langsam in der Finsternis verschwand, beruhigte sie mehr, als dass er sie ängstigte; zumal hinter dem Friedhof der Richmond Park lag.

Es war Zeit zu gehen. In ihrem Jogginganzug würde sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, da sicherlich mehrere Londoner abends eine Runde drehten. Mehr Sorge bereitete ihr das Tor.

Das schmiedeeiserne Tor war geschlossen. Unglücklicherweise beleuchteten Straßenlaternen den Eingang. In vielleicht fünf Sekunden könnte sie den Zaun überwinden. Wenn sie sich in die linke Ecke drückte, wäre es möglich, vom Gebüsch verborgen, darüberzuklettern. Allerdings führte dort direkt die Queens Road vorbei, und die Autofahrer würden sie zwangsläufig entdecken. Der Verkehr war zwar nicht mehr so dicht wie am Nachmittag, aber es fuhren noch genügend Fahrzeuge auf der Straße. Wenn nur diese blöde Laterne nicht direkt an dieser Ecke stünde!

Naomi kam eine Idee. Als Jugendliche hatten sie manchmal aus Spaß die Straßenlaternen mit einem kräftigen Tritt für kurze Zeit ausgekickt. Aber das war Jahre her. Ob es noch funktionierte?

Naomi sah sich um. Keiner zu sehen. Im Kampfsporttraining hatte sie an einem Sandsack regelmäßig harte und kurze Schläge geübt. Sie blieb in einem knappen Meter Abstand davor stehen, hob das Bein und trat im rechten Winkel gegen den Laternenpfahl. Das Licht flackerte, ging aber nicht aus. Als sich ein Wagen näherte, tat sie so, als müsse sie sich einen Schnürsenkel zubinden. Dass ihre Schuhe Klettverschlüsse besaßen, würde der Fahrer auf diese Entfernung nicht erkennen können.

Kaum war die Straße wieder leer, trat Naomi erneut gegen den Pfosten. Dieses Mal etwas kräftiger. Der Aufprall ließ den Masten schwanken, das Licht flackerte erneut und ging aus. Naomi riss die Faust in die Luft. Geschafft! Nun musste sie sich beeilen. Wenn sie sich richtig erinnerte, ging das Licht nach wenigen Minuten wieder an.

Die Ecke, wo sie über das Tor klettern wollte, lag nun im Dunkeln. Geräuschlos setzte sie einen Fuß in die Querstrebe und erreichte mit dem nächsten Schritt die Stange zwischen den aufragenden Gitterspitzen. Wenn sie jetzt stürzte, wären die Verletzungen immens. Konzentriert schob sie ihr Knie nach oben, bis sie mit der Fußsohle sicher auf der Eisenstange Halt fand. Mit Schwung stemmte sie sich hoch und stand mit einem Bein auf dem Gitter, bevor sie mit einem Satz auf der Grasfläche im Inneren des Parks landete. Einen Freudenschrei unterdrückend, lief sie im Schatten der Bäume den Pfad entlang, bis sie von der Straße aus nicht mehr gesehen werden konnte.

 

Das unsichtbare Band zog sie tiefer in den Wald hinein. Die Hitzewallungen nahmen zu. Naomi zog ihre Sweatshirt-Jacke aus und wischte sich damit über die Stirn. Immer wieder entdeckte sie Damhirsche in kleinen Gruppen. Mal lagen sie auf dem Waldboden, mal beäugten die aufgeschreckten Tiere Naomi. Auch wenn sie an Menschen gewöhnt waren, hatten sie normalerweise den Park nachts für sich; bis auf die Vollmondnächte. Aber auch damit waren diese Tiere bestimmt vertraut, nachdem nicht einmal der feindliche Clan es auf das Rotwild abgesehen hatte.

Naomi mochte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn eines der männlichen Tiere mit dem mächtigen Schaufelgeweih einen Angriff riskierte. Vorsichtshalber hielt sie Abstand zu ihnen, bevor sie in einem Bogen weiter in den Wald lief.

Ihr Weg endete wieder am See. Der Pen Ponds lag still und verlassen da. Die Schwäne vom Vortag hatten sich irgendwohin zurückgezogen. Von ihrem Standpunkt aus sah sie auf dem Hügel die Eiche stehen. Der Anblick dieses majestätischen Baums beruhigte ihren klopfenden Herzschlag und ließ sie ruhiger atmen.

Erleichtert lehnte sie sich an den Stamm. Bald kämen sie. Der Vollmond schob sich in einem glühenden Orangerot über die Baumkronen in den Nachthimmel empor und warf ein brennendes Spiegelbild auf den See.

Naomi lauschte in die Dunkelheit. Kein Geräusch ließ darauf schließen, dass sich jemand dem Treffpunkt näherte. Noch blieb Zeit.

Auch wenn sie sich noch nicht daran gewöhnt hatte, nackt von anderen gesehen zu werden, ging sie das Risiko dieses Mal ein. Die fiebrige Hitze setzte ihr zu. Zwischen den Wurzeln versteckte sie ihre Sneakers, den Jogginganzug und ihre Unterwäsche. Die Arme vor die Brust geschlungen, kauerte sie sich in Embryostellung hinter der Eiche zusammen. Wo steckten sie nur? Ihre letzte Überlegung galt den Clanmitgliedern, und wie viele wohl kämen, bevor sie die Augen schloss und nicht mehr in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen.

Naomi erwachte. Aufmerksam sondierte sie die Umgebung. Kein Geräusch war zu vernehmen. Die Ohren aufgerichtet, lauschte sie noch einen Moment, bevor sie sich streckte und ihr ganzer Körper erzitterte. Sie stand auf und entfernte sich einige Schritte von der Eiche. Niemand war hier. Niemand, außer ihr. Mit einem Schnauben ließ sie ihren Schädel zwischen ihre Vorderpfoten sinken. Der Blick auf ihre pelzigen Pfoten erschien ihr immer noch fremd, sodass sie kurz erschrocken zusammenzuckte, bevor ihr bewusst wurde, dass es sich dabei um ihre eigenen Tatzen handelte.

Was sollte sie jetzt tun?

Niedergeschlagen legte sie ihren Kopf auf den Vorderpfoten ab. Sie war sich so sicher gewesen, in dieser Nacht nicht alleine zu bleiben. Das Knacken eines Astes ließ sie aufschnellen. Ganz automatisch hatte sie die Knie- und Fußgelenke eng zusammengezogen und blitzschnell wieder gestreckt. Der Schub hatte sie gut zwei Meter zur Seite springen lassen. Das Training mit Kai zeigte seine Wirkung. Eine ganze Nacht lang hatten sie trainiert aus dem Stand oder aus der Sitzposition hochzuspringen und durch einen Sprung einer drohenden Gefahr zu entkommen.

Ihre Augen suchten die Umgebung ab. Das Rascheln nahm zu, kam näher. Aus dem Gebüsch brach ein Hirsch auf die Lichtung. Das Tier erstarrte und hielt seine Nase in die Luft. Entweder er spürte ihre Anwesenheit oder er hatte ihren Geruch gewittert. Auf alle Fälle riss er mit einem Ruck zur Seite aus und stürmte in die Dunkelheit davon.

Naomi sah unschlüssig dem Vollmond auf seiner Wanderschaft zu.

Nutzlos hier herumzusitzen, brächte sie nicht weiter. Wenn sie die Nächte einfach nur tatenlos vergeudete, entfernte sie sich nur von ihrem Ziel: An Kraft und Stärke zu gewinnen, um Roman vor dem feindlichen Clan schützen zu können.

Ebenso gut konnte sie trainieren, auf Bäume klettern, an Geschwindigkeit zunehmen und aus dem Sitz oder Stand kontrolliert in eine andere Richtung springen. Um sich aufzuwärmen, drehte sie einige Runden; erst im Trab, später im Galopp, bis sich die Bewegungen geschmeidig anfühlten.

In zwanzig Metern Entfernung blieb sie vor der Eiche stehen. Der Stamm durchmaß etwa zwei Meter und bis zum unteren Astkranz waren es höchstens fünf. In drei Sätzen könnte sie oben sein.

Die Baumkrone überragte alle umstehenden Bäume. Wenn sie behutsam durch das Geäst nach oben kletterte, wäre es ein guter Aussichtspunkt.

Kai hatte es ihr mehrfach demonstriert. Eine unbändige Traurigkeit überkam sie. Wenn Kai nur hier wäre! Er würde ihr helfen, ihr zur Seite stehen. Doch Kai war tot. Und sonst war niemand gekommen.

Sie schüttelte unwillig den Kopf, um die trüben Gedanken zu vertreiben, und nahm Anlauf. In schnellem Galopp rannte sie auf den Stamm zu, sprang ab, öffnete die Vorderpfoten, wie für eine Umarmung. Der Stamm raste auf sie zu. Beinahe hätte sie vergessen den Kopf zurückzunehmen, was unweigerlich zu einem Absturz geführt hätte. Im letzten Moment riss sie ihn zurück, schlug die Krallen in die Rinde, stieß sich wieder ab, um sie weiter oben erneut ins Holz zu treiben. Nach drei Sätzen stand sie oben. Stolz erfüllte sie. Hoch erhobenen Hauptes balancierte sie auf dem Ast, sah sich um und peitschte mit dem Schwanz. Bevor sie wieder herunterspränge, wollte sie sich die Umgebung ansehen. Sie kletterte die Äste weiter nach oben, bis sie fürchtete, die kleinen Zweige würden unter ihrem Gewicht brechen. Der Blick über den vom Vollmond beleuchteten Park war bezaubernd. Wie eine silberne Platte lag ihr der See zu Füßen. Die Kronen der unterhalb stehenden Bäume sahen aus wie dunkle Wattebäusche unter einem Sternenzelt. Für einen kurzen Moment fühlte sie sich mächtig, alles überragend, auch wenn dieses Gefühl nur aus ihrer momentanen Position heraus resultierte.

Der Abstieg durch das dünne Geäst gestaltete sich schwieriger als angenommen. Rückwärts ließ sie ihren Körper an den einzelnen Ästen hinabgleiten. Sie versuchte, sich mit den Hinterläufen abzustützen, verlor aber immer wieder den Halt.

In letzter Sekunde schlug sie die Klauen ihrer rechten Vorderpfote ins Holz. Da sie mit dem ganzen Gewicht an diesen Krallen hing, glaubte sie, es zöge ihr jede einzeln aus dem Fleisch. Heftig hieb sie mit der linken Tatze die Krallen in den Stamm. Sofort ließ der Zug nach.

Als sie letztlich auf dem untersten Astkranz ankam, musste sie eine Pause einlegen, um Kraft zu sammeln, bevor sie den Abstieg über den Stamm absolvieren konnte. Mit der Zunge strich sie über ihre Pfoten und massierte die schmerzenden Stellen. Das Abwärtsklettern ängstigte sie immer noch. Je schneller sie es hinter sich brächte, desto besser; und je öfter sie übte, umso leichter fiele es ihr irgendwann.

Anschließend konnte sie sich immer noch ausruhen.

Wie Kai es ihr gezeigt hatte, krallte sie sich mit den Vorderpfoten am Stamm fest. Mit den Hinterläufen stemmte sie sich gegen das Holz. Rücklings hing sie am Baumstamm und zog erst die Krallen der rechten Vorderpfote ein, bevor sie die Klauen weiter unten erneut ins Holz trieb. Mit der linken Pfote wiederholte sie den Vorgang, um gleich darauf mit der rechten nachzusetzen. Langsam arbeitete sie sich abwärts, bis sie nur noch zwei Meter vom Boden entfernt war. Sie zog die Krallen beider Pfoten gleichzeitig ein, wendete und stieß sich kräftig mit den Hinterpfoten ab.

Der Waldboden raste auf sie zu. Mit dem Schwanz steuerte sie den Fall – und landete, ohne zu straucheln, sicher auf allen vier Pfoten. Kai wäre stolz auf sie.

Übermütig hüpfte sie auf das Seeufer zu. Mit ihren Hinterläufen überholte sie beinahe ihre Vorderbeine, nur um dann mit allen Vieren gleichzeitig in die Luft zu springen. Der reibungslose Abstieg ließ sie die Anstrengung vergessen. Zum ersten Mal verspürte sie Durst. Am Seeufer blieb sie stehen, knickte die Vorderläufe ein und schob sich zum Wasser vor. Mit der Zunge leckte sie über die Oberfläche. Die Zapfen darauf nahmen erstaunlich viel Wasser auf und Naomi verschluckte sich. Ein kehliger Laut drang an ihre Ohren. Sie hustete.

Beim zweiten Versuch war sie auf die Wassermenge vorbereitet und schaffte es, problemlos zu trinken. Als sich die Wasseroberfläche wieder beruhigte, entdeckte sie ihr Spiegelbild. Eher einen Umriss, als ein wirkliches Bild. Trotzdem drehte sie sich zur Seite und versuchte, sich in voller Länge und Größe zu sehen. Mehr als einen langen Schatten, der sich wie ein Tintenklecks im Wasser bewegte, erkannte sie nicht. Ihr Schwanz wirkte lang. Sie bog ihn zu sich und probierte, ihn mit der Schnauze zu erreichen. Immer, wenn sie meinte, sie bekäme ihn zu fassen, fehlten doch noch ein paar Zentimeter, bis sie damit begann, dem Schwanz nachzulaufen und sich im Kreis um sich selbst zu drehen. Plötzlich stoppte sie.

Sie lief, wie eine gewöhnliche Hauskatze, ihrem eigenen Schwanz nach, obwohl sie wusste, dass sie ihn niemals mit ihrer Schnauze würde berühren können. Besser, sie begab sich auf Erkundungstour. Vielleicht gab es ja doch noch einen anderen Treffpunkt.

Naomi stromerte durch den Wald. Auf einem ebenen Wiesenstück standen acht ausgewachsene Damhirsche. Ihre weißen Flecken auf dem Fell leuchteten im Mondlicht.

Sie pirschte sich an die Herde heran. In ihrer neuen Gestalt fühlte sie sich mutiger. Je näher sie ihnen kam, desto nervöser reagierten die Tiere. Naomi ging arglos weiter, legte sogar noch an Tempo zu. Die Tiere schraken hoch und preschten in die entgegengesetzte Richtung davon. Ein Wettrennen! Eine gute Übung.

Mit ein paar Sätzen setzte sie ihnen nach, schloss bald auf und lief neben ihnen her, überholte die ausbrechenden Tiere, und als die Hirsche begannen, Haken zu schlagen, ließ sie sich auf das Spiel ein. Sie verhielt sich wie ein Hütehund, der seine Schafherde beisammenhalten wollte. Naomi stoppte, schlug Haken, sprang nach rechts oder nach links – bis ein Hirsch direkt vor ihr zusammenbrach.

Naomi blieb stehen. Was war passiert? Dem Damhirsch waren die Beine weggeknickt; er war einfach vor ihr zusammengesackt. Nachdem sie ihn zehn Sekunden wie erstarrt ansah, ging sie auf das reglose Tier zu.

Die Augen weit aufgerissen, lag es vor ihr. Tot. Naomi stolperte einige Schritte rückwärts. Das konnte nicht sein. Wie hatte sie nur glauben können, es handele sich um ein Spiel? Der Hirsch war um sein Leben gelaufen; und sie hatte das arme Tier zu Tode gehetzt.

Mit hängendem Kopf verließ sie die Wiese, trottete zurück zur Eiche und sprang nach oben. Dort legte sie sich auf den Ast und ließ ihre Beine herunterbaumeln. Ihren Kopf bettete sie auf dem rauen Holz. Hier würde sie bleiben, bis die Nacht vorüber wäre. So richtete sie wenigstens kein weiteres Unheil mehr an.

 

Auf dem Weg zum Ausgang machte Naomi einen großen Bogen um die Wiese. Wenn sie sich auch mit jedem Schritt von dem toten Damhirsch entfernte, verfolgte sie immer noch dessen starrer Blick. Der panische Ausdruck darin hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Nie hätte sie gedacht, einmal die Schuld am Tod eines Tieres zu tragen.

Trotz der frühen Morgenstunde begegnete Naomi vereinzelt Joggern im Park. Mit ihrem Sportanzug und den Sneakers erweckte sie den Eindruck, ebenfalls schon um sieben Uhr morgens ihr Sportprogramm durchzuführen. Erleichtert stellte sie fest, dass der Park um diese Uhrzeit bereits geöffnet war. So musste sie wenigstens nicht wieder über den Zaun klettern, um auf die Queens Road zu gelangen.

Die Rezeption des Bed and Breakfast war unbesetzt. Vermutlich bereitete der Rezeptionist gerade das Frühstück vor.

Naomi spähte in den Gang. Keiner zu sehen. Sie war froh, niemandem über den Weg zu laufen, der ihr, mit einem Lächeln auf den Lippen, einen Guten Morgen wünschte. Was sie wollte, war eine heiße Dusche, mit Leandra reden und ihre Ruhe.

Ungesehen schlüpfte sie in ihr Zimmer und seufzte, als sie die Tür hinter sich schloss. Naomi lehnte sich an das Türblatt und ... irgendetwas schien verändert. Ihre Augen suchten den Raum ab. Doch alles stand am selben Fleck wie am Abend zuvor. Selbst ihr Handy lag noch auf dem Nachttisch. Sie ging darauf zu. Vielleicht hatte ihr Leandra bereits eine Nachricht hinterlassen.

In dem Moment, als sie nach dem Telefon griff, klingelte es. Naomi drückte auf den grünen Hörer, um das Gespräch anzunehmen. Noch bevor sie sich melden konnte, hörte sie Leandra seufzen. »Na, endlich. Dem Himmel sei Dank. Alles in Ordnung bei dir?«

»Geht so.« Heute Nacht war ihretwegen ein Damhirsch gestorben. Aber das meinte ihre Großmutter nicht. Außerdem klang sie völlig aufgelöst. »Oma, bei mir ist wirklich alles okay. Kein Grund zur Panik.« Ihr Blick fiel auf ihre Reisetasche. Der Ärmel eines Rollis hing heraus. »Merkwürdig«, murmelte sie. Sie konnte sich nicht erinnern, am Vorabend nochmals an der Tasche gewesen zu sein.

»Naomi. Bei Emma wurde gestern Abend eingebrochen. Als wir im Theater waren, hat jemand das ganze Haus auseinandergenommen! Und weißt du, was fehlt?« Sie machte eine dramatische Pause. »Nichts! Absolut nichts. Der Schmuck und sogar das Bargeld liegen noch in Emmas Schlafzimmer. Die Polizei war gestern hier und meinte, vermutlich hätten wir die Einbrecher bei unserer Heimkehr gestört. Diese Halunken waren also noch im Haus, als wir heimkamen! Was alles hätte passieren können. Die ganze Nacht über haben wir aufgeräumt, weil wir vor Angst sowieso kein Auge zugemacht hätten. Und als ich dich vorher nicht erreicht habe, bin ich vor Sorge um dich fast verrückt geworden.«

»Rominas Papiere«, flüsterte Naomi. »Verdammt! Das glaube ich jetzt nicht ... warte.« Sie ließ das Telefon auf die Matratze fallen und starrte auf das Bild über dem Bett. Die feinen Umrisse der Umschläge waren noch erkennbar.

Trotzdem hechtete sie darauf zu, riss es von der Wand und machte sich an den Häkchen zu schaffen. Sie musste sichergehen. Nur weil die Umschläge dort waren, bedeutete das nicht, dass auch der Inhalt noch darin war. Die scharfkantigen Haken zerschnitten ihr den Daumen. Sie fluchte. Einen nach dem anderen bog sie zurück, bis sie die kartonierte Rückwand des Bildes anheben konnte. Die Umschläge rutschten heraus. Ungeöffnet. Erleichtert ließ sie das Bild sinken.

Leandra rief ihren Namen durch das Telefon. »Gleich, Oma. Moment noch!« Erst musste sie das Bild neben dem Kleiderschrank kontrollieren. Drei Schritte, und sie stand davor. Die Umschläge waren noch hinter dem Druck »Puh. Glück gehabt. Ich dachte schon, sie wären weg.« Sie griff nach ihrem Telefon.

»Was? Meinst du die Papiere? Du glaubst doch nicht ...«

Naomi unterbrach sie. »Oma, mein Zimmer ist ebenfalls durchsucht worden. Das ist doch kein Zufall.« Ihre Gedanken rasten. »Ich bin mir sicher, dass die Anwälte dahinter stecken. Verdammter Mist! Was sollen wir jetzt bloß tun?«

Leandra seufzte. »Lass mich kurz überlegen.«

Naomi klemmte sich ihr Handy zwischen Ohr und Schulter, um die Rückwand des zweiten Bildes zu öffnen. Die Briefumschläge rutschen hervor und sie drückte die Haken wieder fest. »Oma, ich will hier schnellstmöglich verschwinden. Hörst du?«

Leandra brummte leise. »Ich kann Emma nicht alleine lassen. Nicht nachdem, was gestern passiert ist.«

»Dann fahre ich alleine«, sagte sie. Auch wenn sie nicht wusste, wohin sie hingehen sollte. Hierbleiben wollte sie auf keinen Fall. »Oma, du bist doch sonst nie um eine Ausrede verlegen.«

»Sei nicht so vorlaut.«

»Ich springe kurz unter die Dusche, packe hier alles zusammen, und in der Zwischenzeit überlegen wir uns was, okay? Ich melde mich nachher bei dir.«