Zehn

 

Zwei Stunden später saßen sie in einem Zug von London nach Southampton. Leandra hatte in Lyndhurst mit ihren Eltern ihre Kindheit verbracht. Dort kannte sie sich aus und der Ort lag nicht zu weit von London entfernt.

Naomi umklammerte ihren Rucksack. Rominas Unterlagen waren ihr wertvollster Besitz und es ärgerte sie, dass sie die Briefe jetzt nicht lesen konnte. Damit verstrich ein weiterer Tag. Womöglich stünde sogar etwas über die Treffpunkte der Clanmitglieder darin

Leandra saß schweigend neben ihr und schüttelte nur hin und wieder hilflos den Kopf. Emma war wegen des Einbruchs zutiefst verstört und gab sich die Schuld für die überstürzte Abreise. Leandras Widerrede, dass Naomi sich in London nicht wohlfühlte, zumal sie sich nun endgültig von ihrem Freund getrennt hätte und lieber aufs Land fahren wollte, hatte Emma zwar zur Kenntnis genommen, doch nicht wirklich geglaubt.

Leandra zuckte plötzlich zusammen. »Sag mal, was war eigentlich im Richmond Park los?« Obwohl sie alleine im Abteil waren, flüsterte sie. »Im Radio brachten sie etwas über einen toten Hirsch. Sie haben Spuren auf der Wiese gefunden, dass eine ganze Herde durchgedreht sein muss.«

Naomi stöhnte und schloss die Augen. »Was haben sie darüber berichtet?«

»Sag schon. Hast du was damit zu tun?« Ihre Großmutter blickte sie unverwandt an.

Naomi spürte die aufsteigende Hitze in ihrem Gesicht und wusste, dass sie krebsrot geworden war. Ein zaghaftes Nicken war die Antwort. »Ich habe ... ich wollte doch nicht.«

»Was wolltest du nicht?«

»Na ja, ich wollte bloß testen, wie schnell ich rennen und Haken schlagen kann. Also bin ich neben der Herde hergelaufen. Als das Tier plötzlich umfiel, war es zu spät. Erst da habe ich bemerkt, wie sehr sie sich vor mir gefürchtet haben. Als ob ich ihnen etwas tun würde.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich dachte, sie sind bestimmt an uns gewöhnt ... durch den Treffpunkt im Park. Du weißt schon. Vor den Menschen reißen sie ja auch nicht aus. Und die restliche Nacht habe ich mich auf einem Baum verkrochen und mich erst zur Verwandlung wieder heruntergetraut.«

Leandra stöhnte auf. »In den Nachrichten hieß es, dass vermutlich ein größerer Hund versehentlich im Park eingeschlossen worden sein musste. Im ersten Moment hatte ich nur mit einem halben Ohr zugehört, bis ich bemerkt habe, worum es ging. Gott sei Dank kam die Meldung, nachdem ich schon wusste, dass es dir gut geht.«

»Verdammt!« Naomi riss die Augen auf. »Jetzt weiß jeder aus den Londoner Clans, dass ich im Park war und mich wie ein Vollidiot aufgeführt habe. Wenn wir nicht schon aus London abgehauen wären, hätte ich spätestens jetzt meine Koffer gepackt.«

Leandra zog die Luft ein. »Du sollst nicht ständig fluchen!« Einen Moment später nickte sie. »Na, immerhin sind wir schon unterwegs. Meinst du, jemand würde dich heute Nacht dort suchen?«

»Möglich.«

Naomi drückte den Rucksack noch enger an sich, als ein Mitreisender den Kopf ins Abteil steckte und fragte, ob noch ein Platz frei wäre.

Leandra nickte.

Der junge Engländer setzte sich und zog ein Buch hervor. Auch wenn Naomi nicht davon ausging, dass dieser Deutsch verstünde, beendeten sie das Gespräch vorsichtshalber.

Naomis Gedanken wirbelten durcheinander. Selbst wenn in der kommenden Nacht jemand vom feindlichen Clan käme, so wären doch mit Sicherheit auch welche aus ihrem Clan im Richmond Park. Ihre Artgenossen mussten nach diesen Nachrichten wissen, dass sich nur ein Neuling so benehmen würde.

Warum war sie nicht selbst darauf gekommen? Ein Treffpunkt in einem geschlossenen Park. Das war dumm. Wirklich dumm. Sie hätte schon beim ersten Besuch im Park darüber nachdenken müssen. Statt dessen war sie wie ein Einbrecher über den Zaun geklettert. Aber wohin hätte sie sonst gehen sollen? Und was wäre mit heute Abend?

In Southampton war sie noch nie gewesen. Und von Lyndhurst genau lag, wusste sie auch nicht. Ihre Oma hatte immer nur von England oder London gesprochen.

Es musste dort Wälder geben. Ihre Urgroßmutter hatte dort einen Ort gefunden, wo sie sich verwandeln konnte. Deshalb hatte Leandra vorgeschlagen, dorthin zu fahren. Nach Hause zu gehen, war unmöglich. Der Nachtzug war die einzige Verbindung, und im Zugabteil konnte sie sich schlecht verwandeln. Der Gedanke daran ließ sie frösteln. Das wäre eine Show. Wenn schon die Hirsche davonliefen, sprängen die Leute wahrscheinlich aus dem fahrenden Zug.

Vielleicht fuhren ja die Mitglieder von London nach Lyndhurst?

Naomi sah auf die Uhr. In einer halben Stunde kämen sie an. Ihre Großmutter kannte die Gegend aus ihrer Jugend. Sie hatte von einem abgelegenen Cottage gesprochen, was direkt am New Forest National Park lag. Hoffentlich gab es noch ein freies Zimmer. Aufgrund ihrer überstürzten Abreise war keine Zeit für ein Telefonat geblieben, zumal sich Leandra nicht mehr an den Namen des Cottages hatte erinnern können.

 

Am Bahnhof in Southampton stiegen sie in ein Taxi. Nach Lyndhurst waren es nur zehn Kilometer, aber es war bereits früher Nachmittag. Eine Busfahrt hätte zu viel Zeit gekostet. Naomi gähnte, spähte aber trotzdem interessiert aus dem Fenster. Die historischen Bauwerke im viktorianischen Stil wechselten sich mit Häusern im Tudorstil ab und bildeten einen herrlich bunten Mix, der sie glauben ließ, in ein anderes Jahrhundert einzutauchen. Nur die modernen Gebäude und die Autos erinnerten sie daran, dass sie sich in der Gegenwart befand.

»Sobald sich die Gelegenheit bietet, zeige ich dir die Stadt.«

Naomi lächelte und nickte. Ihre Großmutter musste ihr die Begeisterung an der Nasenspitze angesehen haben. »Diese Stadt ist unglaublich. Wie konntet ihr nur freiwillig von hier wegziehen? Und dann auch noch in die Lüneburger Heide.«

»Ich fühlte mich hier einfach nicht mehr sicher. Gerade du solltest das nachvollziehen können. Außerdem bin ich von hier aus nach Schweden gegangen.«

Die Lippen fest aufeinandergepresst, starrte Naomi aus dem Fenster. Die Innenstadt blieb hinter ihnen zurück und die Strecke führte durch eine sanfte Hügellandschaft. Saftig grüne Wiesen und dichte Wälder, so weit sie sehen konnte. Es musste ihrer Großmutter sehr schwer gefallen sein, diesen herrlichen Flecken zu verlassen, wo er doch der einzige Ort war, um sich ihrer Mutter näher zu fühlen.

 

Das Taxi hielt vor einem roten dreistöckigen Ziegelbau. Die Erkerfenster im Giebel verliehen dem Cottage ein imposantes Aussehen. Vor dem Haus lag eine ebene Rasenfläche. Dort grasten freilaufende Ponys und drei Esel.

»Sperrt in England denn niemand seine Tiere ein?«, brach es aus Naomi heraus. Der Gedanke, in dieser Nacht wieder ein harmloses Wesen zu Tode zu erschrecken, ängstigte sie.

Leandra bezahlte den Taxifahrer und antwortete ihr: »Es sind doch Haustiere, und sie bleiben immer in der Nähe. Keine Sorge.«

Der Fahrer stellte das Gepäck beim Eingangsportal auf die Treppe.

»So, dann wollen wir mal.«

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind? Das sieht teuer aus.« Naomi blieb unschlüssig stehen.

»Für ein paar Tage werden wir es uns schon leisten können. Es liegt für dich einfach ideal. Dichter am Wald kannst du fast nicht wohnen.« Leandra zeigte in Richtung Ortskern. »Mein Elternhaus liegt dort hinten. Lass uns morgen hingehen. Jetzt bin ich hundemüde und muss eine Runde schlafen.«

Naomi gähnte. »Und ich muss erst was essen.« Sie griff nach ihrer Tasche und folgte ihrer Großmutter über die Stufen zum Eingang.

Der Rezeptionsbereich war mit dunklen Möbeln überladen. Schwere, abgetretene Teppiche lagen vor der aus Naturstein gebauten Theke. Gegenüber stand eine dunkelgrüne Sitzgruppe vor einem offenen Kamin, links davon ein überquellendes Bücherregal, das bis zur Decke reichte. Der Aufgang zu den Zimmern lag rechter Hand. Eine pummelige Frau mit onduliertem Haar kam aus einem Nebenzimmer. Ihr Äußeres erinnerte Naomi sofort an Miss Marple. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein.

Der Zimmerpreis ließ Naomi schlucken. Die Küche war geschlossen und würde erst zum Abendessen wieder öffnen. Die Dame bemerkte Naomis enttäuschten Gesichtsausdruck und meinte: »Also, wenn Sie sich mit zwei Schinken-Käse-Sandwiches zufriedengeben, bringe ich Ihnen gerne welche auf Ihr Zimmer, um die zwei Stunden bis zum Abendessen zu überbrücken. Naomi knurrte der Magen. In diesem Moment wäre ihr sogar trockenes Brot recht gewesen.

 

Naomi saß auf dem Bett und verschlang ihr Sandwich. Ihre Großmutter lag auf dem Bett und sah sie missbilligend an. »Halte es wenigstens über den Teller, wenn du schon im Bett essen musst. Ich muss heute immerhin in diesem Bett schlafen, und mit den ganzen Krümeln wird das kein Vergnügen.«

Sie griff nach dem Teller und biss herzhaft in das Brötchen. Mit noch vollen Backen sagte sie: »Immerhin wirst du im Bett schlafen. Ich weiß nicht einmal, wo ich die Nacht verbringen werde.« Sie stopfte den letzten Bissen in den Mund. Ihre Großmutter sah ihr dabei nachdenklich zu.

»Du wirst den Weg schon finden. Wenn ich mich richtig erinnere, ist es nicht weit entfernt.« Leandra schloss die Augen. »Schlaf jetzt.«

Naomi wischte sich die letzten Krümel vom Mund. »Besser ich schau in Rominas Unterlagen, ob ich etwas über den Treffpunkt finde.«

Leandra drehte sich zu ihr um. »Nein, jetzt wird geschlafen. Den Weg findest du schon. Schließlich hast du ihn sogar in Stillwater gefunden. Aber du musst auf dich aufpassen, und das kannst du nur, wenn du ausgeruht bist. Versprich mir, dass du wenigstens versuchst, ein bisschen zu schlafen.«

»Also gut. Versprochen. Aber morgen früh will ich endlich die Briefe lesen.« Naomi ignorierte die Brotkrümel auf der Überdecke, schlug sie zurück und legte sich hin. Zwei Minuten später war sie eingeschlafen.