Fünfzehn

 

Leandra brachte Naomi eine Tasse Tee. Naomi pustete hinein, bevor sie daran nippte. »Ich kann dieses widerliche Zeug nicht mehr sehen.«

»Bald hast du es hinter dir. Du siehst auch schon viel besser aus. Nachher bringe ich dir eine Suppe.« Leandra lächelte ihr aufmunternd zu, bevor sie das Zimmer verließ.

Seit zwei Wochen waren sie zu Hause und genauso lange hütete sie das Bett. Schon auf der Fahrt von London nach Hamburg hatte sie gespürt, wie sich ihr Hals mit jeder Stunde mehr entzündete und ihr die Nase zuschwoll. Nachdem sie im falschen Zug gesessen hatten, waren sie an der nächsten Haltestation ausgestiegen, um dort ein Taxi zum Londoner Bahnhof zu nehmen. Wegen der nassen Kleidung hatte sie die Fahrt über gefroren, und bis sie ihre klatschnassen Jeans in der Bahnhofstoilette hatte wechseln können, war es schon zu spät gewesen. Nichts hatte die Erkältung mehr aufhalten können. Leandra war glimpflicher davongekommen. Ein leichter Schnupfen und etwas Husten, den sie mit Medikamenten schnell im Griff gehabt hatte.

Das kam für sie aber nicht in Frage. Starke Medikamente konnte sie aufgrund der Schwangerschaft nicht einnehmen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als die Erkältung mit einem Salzwasserspray für die Nase, mit Wadenwickeln gegen das Fieber und einem Bronchialtee vorübergehen zu lassen.

Die ersten Tage hatte sie wegen des Fiebers kaum klar denken können. Sobald sie eingeschlafen war, hatte sie von einer unbekannten Lichtung geträumt. Roman stand in deren Mitte. Zuerst konnte sie ihn deutlich sehen, dann schob sich eine Wolke vor den Mond und die Stelle, wo Roman sich befunden hatte, verschwand in der Dunkelheit. Weder wusste sie, wo dieser Ort war, noch konnte sie sich erklären, warum Roman ihr immer wieder in demselben Traum erschien. Das Gefühl von drohender Gefahr ließ sie beinahe wahnsinnig werden. Im Traum schrie sie manchmal laut seinen Namen, was sie dann selbst aus dem Schlaf riss. Ihrer Mutter erklärte sie nur, sie wisse nicht, wovon sie geträumt habe. Ihrer Großmutter konnte sie wenigstens die Wahrheit sagen, auch wenn diese ebenso wenig eine Erklärung dafür fand.

Als das Fieber nachließ, verschwanden auch die Albträume. Trotzdem nagte ein ungewisses Angstgefühl an ihr. Naomi war zu Hause und Roman in Sicherheit. Niemand würde ihm schaden, solange sie sich von ihm fernhielte. So oft sie sich das auch vor Augen führte, es verdrängte trotzdem nicht ihre Angst um ihn.

In kleinen Schlucken trank sie die Tasse leer. Dann kuschelte sie sich in die Decke und sah zum Fenster hinaus. Zwei Wochen waren vergangen und immer noch kein Wort von Romina. Langsam fragte sie sich, ob die Warnung tatsächlich von ihrer Urgroßmutter stammte, oder ob es nicht doch nur ein Versuch der Anwälte gewesen war, auf diese Weise herauszufinden, wo sie lebten.

Naomi grübelte. George und sein Sohn Alonso lebten in Barcelona. Wenn sie noch am Leben waren. An einen Nachnamen konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Ob Dorothea immer noch dort wohnte? Selbst wenn, so kannte sie auch deren Familiennamen nicht. Also wäre es unmöglich, Rominas Aufenthaltsort herauszufinden. Wenn Romina sich nicht meldete, mussten sie beim nächsten Vollmond wieder nach Lyndhurst fahren. Ihre Mutter würde die Geschichte mit Omas kranker Freundin kein zweites Mal glauben, zumal Leandra erzählt hatte, es ginge ihr schon besser, und eine entfernte Verwandte sei bereits angereist, um sich um sie zu kümmern. Es gäbe keinen Grund mehr, wieder nach England zu fahren. Eine Ausrede für ihre Mutter würde ihr so schnell nicht einfallen.

Eventuell wäre es aber auch nicht notwendig; vielleicht käme Romina hierher. Das brachte Naomi auf ihren nächsten Gedanken. Wie sollten sie ihrer Mutter den plötzlichen Familienzuwachs in Barcelona erklären? Ihre Großmutter wollte ihren Bruder Iker und dessen Familie kennenlernen.

Darüber würde sie nachdenken, wenn Romina eine Nachricht mit der Adresse schickte. Ohne die genaue Anschrift zu wissen, war es sowieso unmöglich, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Das bedeutete, sie mussten mal wieder warten.

Naomi gähnte. Besser sie wartete hier auf eine Nachricht, als in dieser teuren Unterkunft in Lyndhurst, wo Miss Marple herumschleichen würde, bis sie endlich herausbekäme, was eigentlich in ihrem Haus vorging. Mit einem breiten Lächeln überlegte sie, ob wohl auch bei ihr der Kuss des Vergessens funktionieren würde. Noch ein Punkt, den Romina ihr hoffentlich bald erklären konnte. Wenn sie sich nur endlich melden würde.

 

*

 

Roman verstaute seine Wintersachen in einem Umzugskarton. Die dicken Daunenjacken würde er in Barcelona nicht benötigen, auch nicht die Fellstiefel. Nach Pilars Aussage sank die Temperatur selbst im Januar nie unter den Gefrierpunkt, weil die Stadt am Meer lag. Die ganz dicke Kleidung wollte er zu seinen Eltern schicken, um sie dort zu lagern. Barcelona sollte zwar ein Neustart werden, aber er wollte nicht mit unnötig viel Gepäck reisen. Zwei Koffer mussten genügen. Sollte er etwas vergessen haben, so konnte er es sich dort immer noch kaufen.

In zwei Stunden wollte er alles zusammengepackt haben. Die Wohnung war klein, trotzdem hatte sich allerlei Kram angesammelt. Vor allem musste er noch die Papiere sortieren. Einige davon würde er in Spanien brauchen.

Er zog die Schreibtischschublade heraus und legte sie aufs Bett. Seine persönliche Ablage, die er einmal im Jahr durchsah. Neun Monate seines Lebens lagen in Papierform vor ihm. Verärgert über seine eigene Schlampigkeit, knallte er den Mülleimer neben das Bett, um die unwichtigen Unterlagen gleich wegzuwerfen. Er setzte sich im Schneidersitz auf die Matratze und zog einen Stapel aus der Lade. Ungeöffnete Briefumschläge seiner Bank, unbeachtete Telefonabrechnungen, Werbebriefe, Flyer eines Chinarestaurants und jede Menge Quittungen. Die Werbung warf er direkt in den Mülleimer. Die verschlossenen Briefe schlitzte er auf. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er die Telefonrechnungen aufbewahren sollte, und entschied sich dagegen. Wozu auch? Sie wurden von seinem Konto eingezogen. Sie wären nur unnötiger Ballast. Die Kontoauszüge überflog er kurz, bevor er sie auf den Papierstapel legte, den er ebenfalls bei seinen Eltern verstauen wollte. Ein Werbebrief weckte seine Neugierde. Mit hochgezogenen Augenbrauen griff er nach einem Kugelschreiber und öffnete damit den Umschlag eines Reisebüros in Stillwater. Es handelte sich nicht um ein Werbeschreiben, sondern um die Rechnung für eine Reise. Abgebucht von seinem Konto! Das konnte doch nicht sein. Wie kamen diese Leute dazu, ihm eine Reise in Rechnung zu stellen und die Summe von seinem Konto einzuziehen? Woher hatten die überhaupt seine Kontonummer?

Roman sprang auf die Beine. Auf der Küchentheke lag sein Handy. Der Sache musste er auf den Grund gehen. Eine Reise für knapp fünfhundert Dollar hatten sie ihm abgeknöpft. Wütend tippte er die Telefonnummer in sein Display und wartete, bis sich jemand meldete. Dann machte er seinem Ärger Luft. Als er seine Schimpftirade beendet hatte, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung nach der Rechnungsnummer, um die Angelegenheit nachzuprüfen. Die Erklärung der Frau ließ ihn sprachlos zurück. Ohne ein weiteres Wort legte er auf.

Was zum Teufel war hier los? Er sollte eine dreitägige Reise nach Cape Cod gebucht haben? Eine Flugreise und zwei Übernachtungen. Die Flugtickets waren auf die Namen Roman Barton und Naomi Roberts ausgestellt worden. Und – sie hatten die Reise weder angetreten noch storniert. Schon wieder Naomi.

In seinem Kopf pochte es und er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Warum erinnerte er sich nicht daran?

Mit der Faust schlug er sich gegen die Stirn, als könne er damit die Erinnerungen in seinen Kopf zurückprügeln. Sein Onkel Bertram hatte recht. Diese Naomi musste ihm etwas bedeutet haben, wenn er mit ihr ans Meer fahren wollte. Was war nur geschehen?

Rücklings ließ er sich auf das Bett fallen und starrte zur Zimmerdecke. Nun konnte er nicht einfach so tun, als sei nie etwas gewesen; als hätte es diese Beziehung, oder was auch immer es gewesen war, nicht gegeben. Doch, warum erinnerte er sich nicht? Der Arzt sagte, mit ihm sei alles in Ordnung. Was für ein Blödsinn. Überhaupt nichts war in Ordnung. Sein Körper straffte sich, und mit einem Ruck stand er wieder auf den Beinen. Er griff zum Telefon.

»Rob, du musst mir helfen.«

Er hörte seinen ehemaligen Kollegen aufstöhnen. »Roman. Was willst du? Mich noch mehr in Schwierigkeiten bringen?«

Robert hatte bei der Unileitung für ihn vorgesprochen. Mit seiner Hilfe hatte er trotz seines Verschwindens den Job behalten, allerdings unter der Bedingung sich ärztliche Hilfe zu suchen. Jetzt hatte er den Job hingeschmissen, was Robert ihm ziemlich übel nahm, weil er sich für ihn weit aus dem Fenster gelehnt hatte.

»Es ist wirklich wichtig.«

Robert schwieg.

»Bitte.«

»Schieß los.«

In knappen Worten erzählte Roman, was er eben entdeckt hatte. »Ich muss wissen, was vorgefallen ist. Und dazu brauche ich Naomis Adresse in Deutschland. Ich räume schon mein Apartment und kann nach meiner Kündigung nicht einfach so ins Uni-Sekretariat marschieren. Aber du, du könntest das. Außerdem warst du ihr Tutor. Und wenn du behauptest, du müsstest ihr die Prüfungsergebnisse nachschicken, dann ...«

»Das wird vom Sekretariat erledigt und nicht von mir«, unterbrach Robert ihn und seufzte. »Aber ich könnte eventuell in ihrer Akte nachsehen. Vermutlich steht dort ihre deutsche Adresse vermerkt. Versprechen kann ich dir aber nichts.«

 

*

 

Naomi rubbelte sich gerade die Haare trocken, als es an ihrer Zimmertür klopfte. »Seit wann wird hier denn angeklopft?«, fragte sie durch die geschlossene Tür.

Luna streckte den Kopf herein und zuckte mit den Schultern. »Gute Frage.«

»Gib´s zu, du hattest mein Zimmer untervermietet.« Naomi grinste ihre Mutter an.

»Dir geht es eindeutig wieder besser. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass das Essen auf dem Tisch steht und du herunterkommen sollst, bevor es kalt wird.«

Naomi ging an ihrer Mutter vorbei und schnupperte in den Flur. »Danke, Mama«, sagte sie, als sie den würzigen Geruch nach Pizza erkannte. »Noch einen Tag länger diese Suppen und du hättest das Zimmer tatsächlich untervermieten können, weil ich nämlich verhungert wäre.«

Sie stürmte an ihrer Mutter vorbei und flitzte in die Küche. Der Anblick der Pizza auf dem Tisch ließ Naomi sofort nach dem Pizzaroller greifen. Mit der Gabel zog sie sich ein großes Stück auf ihren Teller. Erst dann entdeckte sie zwei Briefumschläge, die für sie neben dem Besteck lagen. Sie griff danach. Kein Absender. Einer trug den Poststempel von Stillwater, der andere von Barcelona. Ihr Appetit war mit einem Mal verschwunden und einem merkwürdigen Druck im Magen gewichen.

Am liebsten hätte sie die Umschläge sofort aufgerissen, nur die Schritte auf der Treppe hielten sie davon ab. Leandra betrat noch vor ihrer Mutter die Küche und musste an ihrem Gesichtsausdruck erkannt haben, dass etwas nicht stimmte. Ihre Augen suchten in ihrem Gesicht nach einem Hinweis und ihre Großmutter folgte Naomis Blick, der immer noch auf die Briefe gerichtet war.

»Oh, du hast Post bekommen. Von Karsten?«, fragte Leandra in einem Ton, der Naomi warnte, jetzt nicht die Nerven zu verlieren. »Aber lass uns erst essen. Er hat mit Sicherheit einen halben Roman geschrieben und darüber würde nur die Pizza kalt werden.«

Naomi nickte. Die Pizza war das Letzte, was sie im Moment interessierte. Trotzdem riss sie sich zusammen, setzte ein Lächeln auf und servierte Luna und Leandra je ein Stück. Ihre Hände zitterten. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Karsten schrieb keine Briefe. Höchstens ab und zu eine E-Mail.

Der Brief aus Barcelona konnte nur von Romina sein. Nur, von wem stammte der Brief aus Stillwater? Die University of Maine würde ihr eigenes Briefpapier benutzen und nichts in einem neutralen Umschlag schicken. Nachdenklich biss sie in ihr Pizzastück, während ihre Mutter von dem Film erzählte, den sie am Vortag mit ihrer Freundin im Kino angesehen hatte.

Naomi nickte abwesend, bis ihr Leandra einen Tritt unter dem Tisch verpasste und sie warnend anblickte. Es kostete Naomi große Mühe, ihrer Mutter die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Das Essen zog sich fürchterlich lange hin, bis Luna endlich aufstand, um den Tisch abzuräumen.

Sofort sprang Naomi auf, stellte ihren Teller in die Spülmaschine und drückte ihrer Mutter ein Küsschen auf die Wange. »Die Pizza war lecker.«

»Du hast doch kaum was gegessen«, murrte ihre Mutter, während sie den Tisch abwischte.

»Das heißt aber nicht, dass sie nicht gut war.« Naomi griff nach den Briefen. »Ich hol mir später einen Nachschlag.« Polternd rannte sie die Stufen zu ihrem Zimmer hoch und riss zuerst den Brief aus Stillwater auf.

 

*

 

Roman nahm sich zusammen, um Pilar nicht vor den Kopf zu stoßen. Sie plapperte ohne Unterlass. Als im Flugzeug endlich das Hauptlicht ausging, schloss er die Augen und hoffte, Pilar würde ebenfalls versuchen zu schlafen, wenn er nicht mehr auf ihren Wortschwall reagierte. Nach wenigen Minuten schwieg sie tatsächlich.

Mit geschlossenen Augen ließ er sich die letzten beiden Tage durch den Kopf gehen. Wie im Zeitraffer waren sie an ihm vorbeigezogen. Irgendwie kam ihm immer noch alles unwirklich vor. Ein kurzer Abschiedsbesuch bei Bertram, das Telefonat mit seinen Eltern, die er vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, und das Treffen mit Robert, den er auf ein Bier eingeladen hatte. Worüber er mit Robert gesprochen hatte, konnte er sich kaum noch erinnern. Seine Gedanken waren um Naomi gekreist, als Robert ihm den Zettel mit ihrer Adresse in Deutschland in die Hand gedrückt hatte.

Naomi. Wie sollte er Pilar erklären, dass er gleich nach ihrer Ankunft in Barcelona alleine durch Europa reisen wollte? Unmöglich ihr zu sagen, warum er diese Reise unternehmen musste.

Seufzend drehte er sich zum Fenster, weg von Pilar, die den Gangplatz vorgezogen hatte, und zog die Decke enger um sich. In den kommenden Stunden konnte er sich etwas überlegen.

 

Die Maschine landete in den frühen Morgenstunden. Spätestens in der gemeinsamen Wohnung musste er mit Pilar sprechen. Weil ihm nichts Vernünftiges eingefallen war, wollte er einen ehemaligen Kollegen vorschieben, der nach Holland gezogen war und den er vor Antritt seiner Stelle noch kurz besuchen wollte. Irgendwie widerstrebte es ihm, Deutschland zu erwähnen. Das sollte sein Geheimnis bleiben.

Er zog Pilars letzten Koffer vom Transportband. »Damit hätten wir alle.«

»Na, dann los!« Pilar wirkte ausgeschlafen und aufgedreht. »Mein Vater wird schon auf uns warten.«

Roman wäre es lieber gewesen, wenn er Pilars Vater erst an der Uni getroffen hätte. Da er ihnen aber die Wohnungsschlüssel übergeben wollte, war ein Aufschub unmöglich. Pilar sah sich suchend um, kaum dass sich die automatischen Türen geöffnet hatten. Ihr Lächeln erstarb.

»Er ist mal wieder nicht gekommen ...« Mit enttäuschtem Gesicht schlurfte sie auf eine kräftig gebaute Frau zu. »Hola, Carla.«

Die Frau schlang die Arme um Pilar, drückte sie an ihre ausladende Brust und küsste sie rechts und links auf die Wange, bevor sie sich an Roman wandte, um ihn ebenfalls zur Begrüßung zu küssen.

Pilar kaute auf ihrer Unterlippe. Die Enttäuschung darüber, dass ihr Vater Carla zum Flughafen geschickt hatte, konnte Roman deutlich an ihrem Gesichtsausdruck erkennen.

Roman drückte ihr aufmunternd die Hand und schämte sich, weil er erleichtert war, nicht jetzt schon Pilars Vater kennenlernen zu müssen. Man würde ihn für den zukünftigen Schwiegersohn halten. Dabei war er sich noch nicht einmal sicher, ob er überhaupt mit Pilar zusammenbleiben wollte.

Auf der Fahrt in die Innenstadt redeten Carla und Pilar ohne Unterlass. Der Klang der spanischen Sprache gefiel Roman, auch wenn er kein Wort davon verstand. Sie hörte sich melodisch und lebendig an.

Während Roman noch seinen Gedanken nachhing und die Umgebung an sich vorbeiziehen ließ, ohne sie wirklich wahrzunehmen, hielt der Wagen vor einem Gebäude in einer schmalen Straße.

»Wir sind da!« Pilar rutschte auf dem Sitz hin und her. »Hoffentlich gefällt es dir. Die Wohnung ist mitten im Zentrum. Das Viertel heißt El Raval.« Sie riss die Beifahrertür auf und sprang aus dem Auto.

Roman atmete tief ein und aus. Rings um ihn ragten mehrstöckige Häuser auf, kaum ein Baum stand am Straßenrand. Daran musste er sich wohl gewöhnen, auch wenn ihm jetzt schon die Wälder in Maine fehlten. Vielleicht wäre ja die Nähe zum Meer ein kleiner Ausgleich. Pilar öffnete die hintere Wagentür. »Los, komm schon!«

 

Die Wohnung lag im dritten Stock eines renovierten Gebäudes. Aus allen Fenstern sah man nur die gegenüberliegende Häuserwand. Einen Balkon gab es nicht. Roman sah sich um. Das Wohnzimmer war gemütlich eingerichtet. Daran grenzte eine offene Küchenzeile, und es gab nur ein Schlafzimmer mit integriertem Bad. Auch wenn das Apartment sogar größer wirkte, als sein früheres, fand man hier keinerlei Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen. Für den Anfang musste es reichen.

»Dir gefällt es nicht.« Pilar zog eine Schnute.

»Nein, das ist es nicht. Es ist klein, aber okay.« Roman rieb sich das Kinn. »Mir fiel nur etwas ein, was ich dir schon die ganze Zeit sagen wollte. Ich muss spätestens übermorgen nach Holland.«

»Nach Holland? Meine Mutter wird ausrasten, wenn ich gleich wieder wegfahre.«

Er räusperte sich. »Pilar. Sei mir bitte nicht böse, aber ich möchte lieber alleine fahren.« Roman beobachtete, wie Pilars Gesichtszüge sich verhärteten. »Du würdest dich sowieso nur langweilen. Ein Studienfreund wohnt dort, und sobald ich den Job angetreten habe, fehlt mir die Zeit für einen Besuch.«

Pilar schmollte. »Dann langweile ich mich eben. Aber immerhin wären wir zusammen.«

Die Stirn in Falten gelegt, sah er Pilar an. Das fing ja prima an. Wenn er nicht ein schlechtes Gewissen wegen der Reise nach Deutschland hätte, würde er es auf eine Grundsatzdiskussion ankommen lassen, weil sie jetzt schon wegen zwei oder drei lausiger Tage ein Drama veranstaltete.

»Vergiss es. Besuch deinen Freund und amüsier dich.« Pilar lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist.« Sie ging auf ihn zu und küsste ihn. »Wann fährst du los?«

 

*

 

Naomi zerrte die Notiz aus dem Umschlag. Reist nach Barcelona. Iker schickt Adresse. Sie drehte den Zettel um, doch auf der Rückseite stand nichts weiter.

Enttäuscht ließ sie das Stück Papier sinken. Auch wenn Naomi wusste, wie unwahrscheinlich das war, so hatte sie doch auf eine Nachricht von Roman gehofft.

Mit zusammengepressten Lippen öffnete sie das zweite Kuvert. Es steckte eine Postkarte darin. Vermerkt war eine Anschrift in Barcelona und der einzelne Buchstabe I. Kein weiteres Wort, keine Information, nichts. Naomi runzelte die Stirn. Wenn die erste Nachricht von Romina war, wieso trug der Umschlag dann den Poststempel von Stillwater? Konnte die Nachricht tatsächlich von ihr sein?

Ihre Zimmertür öffnete sich und Leandra schob sich durch den Türspalt. »Und?«

»Sieh selbst.« Naomi streckte ihr die beiden Nachrichten entgegen. »Was hältst du davon?«

»Na endlich. Warum ziehst du so ein sauertöpfisches Gesicht? Darauf haben wir doch die ganze Zeit gewartet.« Leandra zog sich den Schreibtischstuhl neben das Bett und setzte sich.

»Der erste Umschlag ist in Stillwater aufgegeben worden.« Hilflos zuckte sie mit den Schultern. »Irgendwie ... ach, ich weiß auch nicht.«

»Was meinst du?« Ihre Großmutter sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Nach einem Moment seufzte sie auf. »Du hast doch nicht geglaubt ... doch, hast du.« Leandra stand auf, ging zu Naomi und schloss sie tröstend in ihre Arme.

Naomi verdrängte die aufsteigende Traurigkeit und löste sich aus der Umarmung ihrer Großmutter, um nicht doch noch zu weinen. Der kurze Moment der Hoffnung, Roman würde sich an sie erinnern, verwandelte sich augenblicklich in Wut auf den feindlichen Clan. In Barcelona bekäme sie endlich Antworten oder zumindest Unterstützung. »Was sagen wir Mama?«

»Darüber habe ich schon die ganzen letzten Tage nachgedacht. In Spanien kenne ich niemanden, aber du könntest Karsten und seine Freundin besuchen wollen. Und da ich als Rentnerin mehr als genug Zeit habe, begleite ich dich, um mir die Stadt anzusehen. Wie hört sich das an?«

»Ziemlich lahm. Außerdem macht mir Mama wegen des Studiums die Hölle heiß. Wenn ich jetzt schon wieder verreise ... ich weiß nicht.« Nachdenklich legte sie den Kopf schräg. »Ich könnte behaupten, dass ich das Auslandssemester in Barcelona abschließen will.«

»Bieten die Universitäten das dort an?«, fragte Leandra nach.

»Keine Ahnung.« Naomi stand auf. »Aber das könnte ich ja in Barcelona herausfinden. Es wäre sowieso eine gute Möglichkeit, von zu Hause wegzukommen. Ich könnte mein Studium fortsetzen und gleichzeitig wäre ich in Rominas Nähe.« Naomi nickte bekräftigend, als müsse sie sich selbst noch davon überzeugen. An ihre Ausbildung hatte sie die letzten Wochen überhaupt nicht mehr gedacht. Zuviel war in der Zwischenzeit passiert. »Zumindest könnte ich es Mama so verkaufen. Aber, was sagen wir, wenn sie mitkommen will, um sich die Uni anzusehen?«

 

»Du spinnst doch!« Luna saß am Küchentisch und stützte die Hände auf. »In ein paar Monaten kommt das Kind. Wie soll das funktionieren? Kannst du mir das verraten?«

»Aber du wolltest doch, dass ich weiter studiere«, gab Naomi trotzig zurück.

»Ja, aber doch nicht in Spanien, wo du kein Wort verstehst!« Luna stand auf und ging in der Küche auf und ab. »Wenn du Karsten und diese ... wie heißt sie noch?«

»Alice.«

»Und diese Alice besuchen willst, kannst du das ja tun, aber sobald das nächste Semester anfängt, studierst du hier weiter, damit sich jemand um das Kind kümmern kann.«

Leandra betrat die Küche.

»Was sagst du denn zu diesen Plänen?« Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Naomis Mutter in der Küche. »Mit Sicherheit weißt du schon längst schon wieder Bescheid.«

»Wovon sprichst du?« Leandra setzte eine Unschuldsmiene auf.

»Sie will nach Barcelona! Zum Studieren!«

»Stimmt das?«, fragte ihre Großmutter und warf Naomi einen fragenden Blick zu.

Naomi nickte und musste sich ein Grinsen verkneifen.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage.« Kopfschüttelnd sah Leandra von ihrer Tochter zu Naomi. »Alleine gehst du nirgendwo mehr hin. Wir haben ja gesehen, was dabei herauskommt.«

Luna nickte bekräftigend. »Immerhin sind wir uns in diesem Punkt einig.« Sie ging zu ihrem Terminkalender, der auf der Anrichte lag, und blätterte darin. Nachdenklich ließ sie ihn auf den Küchentisch sinken. »Da ich von der Arbeit nicht weg kann, fährst du mit.« Luna sah von ihrer Mutter zu Naomi. »Jemand muss schließlich auf sie achtgeben.«

»Ich?«, fragte Leandra. »Was soll ich denn in Barcelona?«

»Auf sie aufpassen, damit sie keinen Unfug treibt.« Luna stellte sich vor Naomi. »Also, entweder du fährst mit Oma, oder gar nicht. Damit das klar ist. Und wenn Oma nicht mitfährt, bleibst du eben zu Hause.«

Naomi schluckte. Normalerweise hätte sie spätestens jetzt angefangen zu widersprechen, weil sie immerhin volljährig war. In diesem Fall aber nickte sie nur ergeben und sah zu ihrer Großmutter.

Leandra rieb sich das Kinn und zögerte einige Sekunden. »Also gut, ich fahre mit, aber nur, wenn du mir versprichst, nicht nur mit Karsten zusammenzuhängen.«

Naomi sprang auf, um Leandra zu umarmen. »Danke Oma. Dann pack schon mal den Koffer.«

»Ich muss los.« Luna griff nach ihrem Terminplaner, steckte ihn in die Handtasche und zog sich die Jacke an. Mit einem Blick auf die Uhr murrte sie: »Jetzt komme ich auch noch zu spät zur Arbeit.«

Die Haustür fiel ins Schloss. Naomi hechtete zum Küchenfenster, um zu beobachten, wie ihre Mutter in den Wagen stieg und davonfuhr, bevor sie lauthals loslachte. »Oma, wir zwei sind unschlagbar. Arme Mama«, prustete sie weiter.

Leandra schüttelte lächelnd den Kopf. »Ja, das lief besser als erwartet. Dann fahren wir übermorgen?«

Naomi griff nach dem Telefon. »Ich ruf gleich Karsten an, damit er uns ein Hotel in seiner Nähe reserviert. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen!«

»Verplapper dich nicht, hörst du? Was wirst du ihm wegen Roman und deiner vorzeitigen Rückkehr sagen?«

»Dieselbe Geschichte wie Mama. Roman und ich haben uns getrennt, und erst später merkte ich, dass ich schwanger war. Deswegen bin ich nach Hause gefahren. Viel mehr gibt es da nicht zu erzählen.«