Zwölf

 

Pilar sah fortwährend in den Rückspiegel. Auf der Landstraße war keine Menschenseele zu sehen. Bevor sie in den Feldweg einbog, warf sie noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Sie musste sicher sein, dass ihr niemand folgte. Sammy würde toben, sollte sie jemanden direkt zu ihm führen. Seit Wochen versteckte er sich in einem kleinen Holzhaus außerhalb von Stillwater. Nachdem er in den letzten beiden Nächten nicht aufgetaucht war, wollte Pilar nach ihm sehen.

Der Kies knirschte unter den Wagenrädern, als sie die Zufahrt entlangfuhr und das Auto vor der Hütte abstellte. Die Fensterläden waren aufgeklappt. Sie ging auf das Haus zu und spähte durch ein Fenster hinein. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, der zuckende Schatten in den Raum warf. Die Augen mit den Händen beschattend, versuchte sie mehr im Inneren zu erkennen. Die Sonne spiegelte sich in den Glasscheiben und sie kniff die Augen zusammen. Ragte dort nicht ein Bein über das Sofa hinaus? Mit dem Finger trommelte sie leise gegen die Scheibe. Das Bein bewegte sich. Zuckte. Sammy musste also zuhause sein. Nun klopfte sie heftiger. »Lass mich rein! Ich bin´s, Pilar.«

»Die Tür ist offen«, rief Sammy von drinnen.

Pilar ging über die Holzveranda die Stufen nach oben, drückte die Klinke und öffnete die Tür. Ein heller Streifen Tageslicht leuchtete in das düstere Zimmer. »Warum warst du nicht bei der Höhle?«

Sammy stöhnte.

»Hey, was ist los?« Pilar trat an das Sofa und erschrak. Sammys Gesicht war blau und zugeschwollen, sein rotes Haar stand wirr vom Kopf ab. »Was ist denn mit dir passiert?«

»Nachdem du zu spät dran warst, wollte ich sehen, was auf der Lichtung los ist. Ein Einzelgänger hielt sich dort auf. Vermutlich hat man ihn wegen Naomi hingeschickt. Offensichtlich ein Anfänger.« Sammy hielt sich die Hand über die Augen. »Machst du die Tür zu? Die Helligkeit ist die Hölle. Mein Kopf ist am Platzen.«

»Ich war nicht zu spät. Du warst nicht dort.« Mit vier Schritten erreichte Pilar die Tür und drückte sie leise ins Schloss. »Was ist mit dem Anfänger? Der hat dich doch wohl kaum so zugerichtet, oder?«

Sammy brummte. »Nein. Er rannte davon.«

Pilar wartete, bis Sammy weitersprach.

»Na ja, ich dachte, er sei leichte Beute und bin hinter ihm hergerannt. Dabei habe ich den Lastwagen übersehen. Ich bin ihm in seine Hinterachse geraten und wurde ordentlich durchgeschleudert. Dabei habe ich mir den Kopf verletzt. Erst am nächsten Morgen kam ich am Straßenrand wieder zu mir.«

»Du musst ins Krankenhaus. Jemand sollte sich das ansehen. Das hätte schlimmer ausgehen können.« Pilar ging dichter an ihn heran. Die Augen waren kaum noch zu erkennen. Wäre nicht dieses kalte Blau durch die schmalen Schlitze geschimmert, hätte Pilar nicht beurteilen können, ob Sammys Augen geöffnet oder geschlossen waren. Die linke Gesichtshälfte war mit Schürfwunden übersät. Dort, wo die roten Haarbüschel abstanden, entdeckte sie ebenfalls verschorfte Wunden.

»Schlimmer konnte es kaum ausgehen«, knurrte Sammy.

Pilar sah ihn stirnrunzelnd an. »Doch, du könntest tot sein. Und das ist schlimmer.« Sicherlich litt er große Schmerzen, aber er war noch am Leben.

»Wenn du es sagst ...« Sammy sah Pilar an. »Du kannst aber nichts für mich tun, also schau mich nicht so an. Es wird heilen, und dann bin ich wieder wie neu.« Er setzte sich auf. »Erzähle mir lieber, wie es mit Roman läuft.«

Pliar zog sich einen Stuhl heran. »Und du solltest trotzdem zum Arzt.« Nachdem Sammy sie schweigend aus seinen zugeschwollenen Augen anfunkelte, antwortete sie ihm nach einem kurzen Zögern. »Mit Roman läuft alles bestens. Er ist ein netter Kerl.« Sammys Blick wirkte plötzlich noch kälter. »Keine Sorge. Ich vergesse deinen Plan nicht.«

Pilar wusste, was Sammy von ihr erwartete. Trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass sie sich in Roman verliebt hatte. Doch das würde sie Sammy keinesfalls verraten. Ihr war klar, dass er ausflippen würde. Aber was störte es schon, wenn der Auftrag, Roman für sich zu gewinnen, auch einen Vorteil für sie brächte? Immerhin sollte sie Roman nach Barcelona locken und nach Möglichkeit dazu bewegen, bei ihr zu bleiben. Das alles fiel ihr leichter, wenn sie etwas für ihn empfand. Sie wollte nicht so verbittert wie Sammy werden. Im Grunde wollte sie auch gar nichts mit seinem Clan zu schaffen haben.

Bis vor Kurzem hatte Pilar nicht einmal gewusst, dass es Andere gab, die sich bei Vollmond ebenfalls verwandelten. Generell wollte sie nur ihr eigenes Leben leben. Und da passte es ihr sehr gut, dass sie in Roman verliebt war. Er war höflich, klug, zuverlässig und sah auch noch gut aus. Nur die zu große Nase fand sie weniger anziehend. Aber besser, sie fände sich mit der zu großen Nase ab, als mit einer lieblosen Beziehung. Und auch sie war mit Sicherheit nicht perfekt. »Mein Vater hat ihm schon einen Platz an der Uni besorgt, an der er arbeitet. In sechs Wochen könnte Roman dort anfangen zu unterrichten. Mein Vater hat schon immer dafür gesorgt, dass ich bekomme, was ich will. Und wenn ich Roman bei mir haben will, sieht Vater eben zu, dass er dort Vorlesungen geben kann. Außerdem habe ich ihm angedroht, hierzubleiben, weil ich mit meinem neuen Freund zusammen sein möchte. Spätestens das hat ihn überzeugt.«

»Und du bist dir sicher, dass Roman einfach mitkommt?« Sammy kratzte behutsam an einer Kruste über der Augenbraue. »Ich meine, ist er so hinter dir her, dass er einfach alles zurücklässt? Er hat doch sicherlich Familie hier.«

Pilar lächelte. »Ich habe ihm von der freien Stelle erzählt und er meinte, vielleicht täte ihm ein Tapetenwechsel ganz gut. Wenn es ihm nicht gefiele, könnten wir immer noch versuchen, in den USA irgendwo unterzukommen. Von Stillwater hat er jedenfalls die Nase gestrichen voll.«

»Hat er wirklich wir gesagt?« Sammy legte sich mit einem Stöhnen wieder auf das Sofa.

Pilar störte sich an der Frage. Denn genau genommen war sie es gewesen, die Roman vorgeschlagen hatte, dass sie, wenn es ihm in Barcelona nicht gefallen sollte, gemeinsam eine andere Stelle in den Staaten suchen könnten. Roman hatte sich zwar interessiert gezeigt, als er hörte, er könne nach Barcelona gehen, aber irgendwie hatte sie das Gefühl gehabt, es ginge dabei weniger um sie selbst, als um Barcelona. Den Namen hatte er mehrfach wiederholt, bevor er sich bereit erklärte, über ihren Vorschlag nachzudenken. »Ruh dich aus, Sammy. Und ja, er hat wir gesagt.« Damit stand sie auf und stolzierte zur Haustür.

»Das werde ich beobachten. Ansonsten erleidet dieser Mistkerl eben doch einen kleinen Unfall. Der Gedanke gefällt mir sowieso viel besser. Außerdem solltest du dir ein bisschen Mühe geben. Du weißt, wozu ich in der Lage bin.«

Pilar bemühte sich ruhig zu bleiben. Um ihr Gesicht vor Sammy zu verbergen, öffnete sie erst die Haustür, bevor sie sich wieder zu ihm umdrehte. Das einstrahlende Licht ließ ihn zusammenzucken. »Das wird nicht nötig sein. Ich sagte doch, er frisst mir aus der Hand!« Sie rang sich ein Lächeln ab, bevor sie sich abwandte und die Tür hinter sich ins Schloss zog.

Eines war Pilar klar. Sammy war eiskalt und unberechenbar. Ihr Vater musste zusehen, dass Roman nach Möglichkeit sofort anfangen konnte. Sie konnte nicht sicher sein, ob Sammy seinen Hass nicht doch noch ausleben und Roman töten würde. Roman mochte sie, und bald würde er sie auch lieben. Das konnte sie sich keinesfalls von Sammy kaputt machen lassen. Clan hin oder her. Dieses dämliche Clangesülze, sie müsse an ihre Verpflichtungen denken, ging ihr sowieso mächtig auf die Nerven. Außerdem belastete eine weitere Drohung ihr Gewissen.

 

*

 

Roman saß vor seinem Computer und sah sich Fotos von Barcelona an. Was er sah, gefiel ihm. Es schien eine lebendige Hafenstadt mit einem eigenen Sandstrand zu sein. Die Bilder der Innenstadt zeigten Kolonialstilbauten und eine breite Fußgängerzone, die vom Meer weg in Richtung Norden führte, bis man direkt an diese Universität gelangte, von der Pilar gesprochen hatte. Sie befand sich mitten im Zentrum. Es gab Parks, Restaurants, eine außergewöhnliche Kirche, an der immer noch gebaut wurde, ein Künstlerviertel und unglaublich viele Menschen.

Pilars Vorschlag sich auf diese Stelle an der Universität von Barcelona zu bewerben hatte ihn überrascht; da Pilar wieder diese Stadt erwähnte, überlegte er nun, ob dies nicht eine gute Gelegenheit wäre, sich dort mal umzusehen. Raus aus seinem jetzigen Leben, was ihn momentan nicht befriedigte. Weg von Bertrams Sticheleien und Roberts merkwürdigen Blicken. Ein Neubeginn. Und Pilar hatte recht. Nichts hinderte ihn daran, wieder zurückzugehen, wenn es ihm dort nicht gefiele.

Pilar. Ein nettes Mädchen; aber wollte er wirklich mit ihr zusammenbleiben? Roman zuckte mit den Schultern. Das konnte er in Barcelona herausfinden. Sollten sie sich nicht verstehen, musste er ja nicht bei ihr bleiben.

Eigentlich hatte Pilar alles, wovon er nur träumen konnte. Sie sah fantastisch aus, war clever und charmant. Aber er liebte sie nicht. Das wusste er. Seine Exfreundin, die hatte er geliebt, und das hatte sich ganz anders angefühlt. Trotzdem war diese Beziehung zerbrochen, als er nach Stillwater gegangen war, um an der University of Maine zu unterrichten. Also brachte ihn die Liebe auch nicht unbedingt weiter.

Pilar hatte ihm den Bewerbungsbogen in die Hand gedrückt und gesagt, er solle es sich überlegen.

Barcelona.

Warum zog es ihn dorthin? Er konnte es sich nicht erklären. Aber vielleicht war das der Platz, an dem er glücklich werden würde. Roman griff nach einem Stift und begann, das Formular auszufüllen. Pilar würde sich freuen, und er war gespannt, was ihn dort erwartete.

 

*

 

Naomi griff nach dem nächsten Umschlag. »Mensch, bin ich neugierig, wie viele bei dem Treffen waren.«

»Und ich habe Hunger«, sagte Leandra. »Lass uns Mittagessen gehen.«

»Bist du verrückt?« Naomi sah sie ungläubig an. »Ich kann doch jetzt nicht Essen gehen!«

»Die Briefe laufen dir nicht weg.« Leandra stand auf und nickte auffordernd zur Zimmertür. »Los, komm schon.«

Naomi schüttelte energisch den Kopf. »Wenn du Hunger hast, dann hol dir doch bei Miss Marple ein Sandwich.«

Leandra schob ihre Unterlippe nach vorn. »Ich dachte eigentlich an was Vernünftiges, nicht schon wieder an ein belegtes Brötchen.«

Naomi war nach ihrem reichhaltigen Frühstück immer noch satt. Leandra hatte kaum etwas gegessen. Kein Wunder knurrte ihr der Magen. »Dann hättest du mehr frühstücken sollen.« Naomi verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich komme jedenfalls nicht mit. Und ich werde hier auch keine Stunde auf dich warten. Entweder du holst dir ein Sandwich oder ich lese ohne dich weiter.«

»Gott, bist du stur!« Leandra schnappte ihre Handtasche. »Soll ich dir auch etwas mitbringen?«

Naomi verneinte. Ihre Großmutter bedachte sie mit einem mürrischen Blick und verließ das Hotelzimmer. Naomi starrte auf die geschlossene Tür. Aufhören zu lesen? Jetzt? Das ging überhaupt nicht. Unmöglich.

Sie musste sich zusammenreißen, um nicht mit dem nächsten Brief zu beginnen. Nachdenklich drehte sie den Umschlag in Händen. Einen Blick konnte sie riskieren, da hätte selbst ihre Großmutter nichts dagegen. Mit einem Kugelschreiber schlitzte sie das Kuvert auf und zog mit spitzen Fingern das Blatt Papier heraus. Sie zögerte und biss sich auf die Unterlippe. Leandra wäre stinksauer.

Bei Miss Marple ein Sandwich zu holen, dauerte keine zehn Minuten. Seufzend steckte sie das Schreiben zurück in den Umschlag und legte ihn ans Fußende des Betts. Um nicht in Versuchung zu geraten, kroch sie zurück und lehnte sich ans Kopfteil; ihren Blick fest auf das Kuvert geheftet.

Romina hatte also in George einen Freund gefunden. Das war beinahe fünfzig Jahre her. Sie mussten in diesen Jahren eine Menge Informationen zusammengetragen haben. George wollte den feindlichen Clan vernichten. Gelungen war ihm das allerdings nicht. Sonst wäre sie weder Sammy begegnet, noch auf diesen Anwalt getroffen.

Ob George herausgefunden hatte, wie stark der feindliche Clan überhaupt war? Die traurige Geschichte über dessen Verlust ging ihr durch den Kopf. Es musste ein schwerer Schlag für George gewesen sein. Immerhin war ihm Alonso geblieben. Doch warum hatte Alba das Kind verschont? Das ergab keinen Sinn. Ging es vielleicht doch nicht so sehr darum, den anderen Clan zu schwächen, sondern nur darum, den Gegner leiden zu sehen? Eventuell hätte Alba das Kind nur später getötet. Möglich. Ebenso möglich wäre es, dass sie das Kind einfach mitgenommen hätte, um es bei ihrem eigenen Clan aufwachsen zu lassen.

Naomi strich sich über den Bauch. Selbst wenn sie ihr Kind nach der Geburt in die Obhut einer anderen Familie geben müsste. Romans Kind würde nichts geschehen. Dafür würde sie sorgen.

Ihr Blick blieb wieder am Umschlag hängen. Sie sah auf die Uhr. Wo steckte Leandra nur? Nun saß sie schon fünfzehn Minuten hier herum. In dieser Zeit hätte sie den Brief schon zwei Mal lesen können. Sie beugte sich nach vorn, griff danach und legte sich auf die Seite. Der Umschlag brannte in ihrer Hand. Sie hielt es nicht länger aus. Was konnte sie dafür, wenn Leandra trödelte? Die Geräusche im Gang ließen sie innehalten.

Die Tür schwang auf und Leandra schlüpfte ins Zimmer. Ihr Blick war eisig. Mit vollem Mund begann sie zu zetern: »Ich hätte wissen müssen, dass du dich nicht zurückhalten kannst. Dabei hast du es mir versprochen!«

»Ich habe ihn mir nur angesehen!« Naomi richtete sich auf. »Außerdem hast du ewig gebraucht. Hast du das Brötchen selbst backen müssen?«

»Also bitte. Ich war doch nur ganz kurz weg.« Ihre Großmutter biss herzhaft in das Sandwich, bevor sie sich zu ihr auf das Bett setzte. »Lies schon vor. Ich sterbe ja selbst vor Neugierde.«

Naomi zerrte das Papier heraus und las.

 

Mein liebes Kind, das Treffen liegt erst wenige Wochen zurück, und seither versuche ich, unsere Wurzeln zurückzuverfolgen, was mir bisher sehr schwer fällt. In vielen Archiven sind die Aufzeichnungen lückenhaft, und oftmals muss ich mich mit Schätzungen zufriedengeben. Bisher bin ich bis ins Jahr 1897 zurückgegangen. Was ich über unsere Ahnen herausgefunden habe, ist noch zu wenig, um wirklich darüber schreiben zu können. Das werde ich nachholen, sobald ich mehr weiß. Jetzt will ich dir vom Treffen erzählen.

Wir vereinbarten uns im Hyde Park, etwas abseits von Speakers Corner, zu treffen. Dort konnte jeder stehen bleiben, so tun, als würde er zuhören und sich nebenbei unauffällig nach den anderen Clanmitgliedern umsehen. George wartete dort den ganzen Tag. Er schickte die Mitglieder in ein kleines Hotel, wo er Zimmer reserviert und ein Hinterzimmer für den kommenden Tag angemietet hatte. Ich nahm die Ankommenden in Empfang. Sie kamen teilweise von weit her, doch hatte sich letztlich nur ein klägliches Trüppchen von sechs Mitgliedern die Mühe gemacht zu kommen. Nicht gerade viel, wenn man bedenkt, dass ich die Einladung an mehr als dreißig Adressen versandt habe. Es war darauf sogar vermerkt, die Unterkunft sei bezahlt, weil ein entfernter Verwandter ihren Besuch wünschte. Es musste ein Grund gefunden werden, um die Reise zu rechtfertigen. Damit auch möglichst viele kämen, bestand George sogar darauf, Reisegeld beizulegen. Entsprechend enttäuscht kam er mit dem letzten Ankömmling in das Hotel zurück.

Bei einem gemeinsamen Abendessen im Hinterzimmer wurde das eigentliche Thema unseres Treffens ausgeklammert. Jeder war vorsichtig, und man beobachtete sich während des Essens über den Tellerrand hinweg. Erst als das Bier in Strömen floss, lockerte sich die Stimmung etwas auf, und jeder erzählte wenigstens, woher er kam.

Eine junge Frau war aus Irland angereist und erklärte schüchtern, sie sei unverheiratet, weil sie sich fürchte, einen verhängnisvollen Fehler zu begehen. Dann waren noch zwei Cousins aus Wales, die sich gegenseitig unterstützten. Eine alte Frau reiste aus Spanien an, weil sie sich um ihre zehnjährige Urenkelin sorgte, und George hatte alle Hände voll zu tun, das Gesprochene zu übersetzen. Die Frau war völlig verängstigt, weil sie kaum verstand, was im Raum vor sich ging.

Was sich als Glücksfall herausstellte, wenn man das nachfolgende wirklich als Glück bezeichnen möchte, war die Anreise eines Großvaters mit seinem Enkelsohn. Die beiden kamen aus Newcastle. Der alte Herr strahlte, trotz seines gebeugten Rückens, eine unglaubliche Ruhe und Zuversicht aus. Sogar die alte Spanierin schien sich etwas zu entspannen, als sich der alte Charles zu ihr setzte und sie die Bierkrüge aneinanderstießen.

Wir wussten alle, weswegen wir hier waren. Es war eine Mischung aus Neugierde, Angst, Suche nach Unterstützung und Hilfe, und ein wenig vielleicht, um mit dieser Last nicht mehr alleine dazustehen.

George war neben mir der Einzige, der nur an seinem Bier nippte. Er beobachtete die Anwesenden, als könnte er durch langes Beobachten in ihre Köpfe sehen und erkennen, ob sie es auch tatsächlich ehrlich meinten. Doch so etwas ist natürlich unmöglich.

Ich war mir sicher, dass es nur Freunde sein konnten. Bei Leuten, bei denen wir uns nicht sicher waren, ob es Freund oder Feind ist, haben wir auf die Einladungen verzichtet. Zu groß war die Furcht, bei diesem Treffen von Feinden überfallen und getötet zu werden.

Georges Sohn Alonso war nicht bei unserer Runde anwesend, wenn er auch im selben Hotel weilte und sich zähneknirschend in sein Zimmer einschließen ließ. George hatte seinen Sohn zu Gehorsam erzogen, und so saß er in diesem Zimmer und wartete auf die Rückkehr seines Vaters.

George hoffte immer noch, Alonso bliebe verschont, doch bin ich mir sicher, er wird sich bald verwandeln. Im Laufe der Jahre habe ich ein gutes Gespür dafür entwickelt. Trotzdem wäre Alonsos Anwesenheit in dieser Gruppe auf Widerstand gestoßen, weil es eben noch nicht geschehen war.

Am kommenden Morgen fanden wir uns alle wieder im Nebenzimmer ein. Die Meisten wussten ebenso wenig über unsere Herkunft, wie George oder ich. Nur dieser alte Mann, Charles, der mit seinem Enkelsohn angereist war, berichtete uns von einer Legende, die ihm, als er noch jung war, ein anderes Clanmitglied eines Nachts erzählt hatte. Dieser Legende nach sei es möglich, sieben Leben zu erlangen.

 

Naomi sprang vom Bett auf. »Kai hat davon erzählt.«

»Wovon?« Leandra knetete ihre Hände.

»Von den sieben Leben!« Naomi ging vor dem Bett auf und ab. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, den sie sich nicht erklären konnte. »Und auch davon, dass es eine Frau geben soll, die es geschafft hat, diese sieben Leben zu erhalten.« Naomi beobachtete, wie ihrer Großmutter jegliche Farbe aus dem Gesicht wich.

»Meine Mutter?«, flüsterte sie. Dann schüttelte sie den Kopf.

Naomi rieb sich mehrfach den Nacken. Denkbar wäre es. Das wäre eine Erklärung, warum sie ihr so problemlos im Wald davongelaufen war. Auch ihre unglaubliche Größe spräche dafür. »Lass uns weiterlesen.«

 

Charles erzählte, wenn zwei Wesen unserer Art miteinander schliefen und dabei eines noch jungfräulich wäre, erlange der andere diese sieben Leben und damit unglaubliche Macht, da er nahezu unsterblich würde. Die Anwesenden verstummten schlagartig. George war kurze Zeit unfähig, diese Geschichte der alten Spanierin zu übersetzen, weil es ihm unmöglich war, das Gehörte in Worte zu fassen.

Charles wartete einige Minuten, bis sich alle wieder etwas gefangen hatten, bevor er mit seiner Erzählung fortfuhr. Das sei noch nicht alles, erklärte er. Bei diesem Akt entstünde ein Kind, und dieses Kind hätte außergewöhnliche Fähigkeiten. Es könne in die Seele der Menschen blicken. Er fügte hinzu, es handele sich zwar um eine Legende, und er wisse nicht, ob auch nur ein Funken Wahrheit daran sei; denn weder er noch sonst jemand habe jemals von einem solchen Kind gehört. Trotzdem glaube er, es könne etwas an dieser Geschichte dran sein.

Viel mehr erfuhren wir bei diesem Treffen nicht. Trotzdem genügte diese Erzählung, um unsere Neugierde zu wecken und uns noch intensiver mit unserer Vergangenheit zu beschäftigen.

Wir machten uns Gedanken, was man nicht alles im Laufe von sieben Leben über unseren Ursprung herausfinden könnte. Doch der Gedanke, der Feind könnte von dieser Legende wissen, flößte uns Angst ein.

Alonsos erste Verwandlung folgte wenige Monate später. George beschäftigte sich danach wieder mit dieser Legende. Alonso war noch nie mit einer Frau zusammen gewesen.

Also fing George eines Abends wieder davon an. Mir selbst war dieser Gedanke unerträglich. Ich wollte nicht über Jahrhunderte hinweg jeden Monat bei der Verwandlung mein Leben riskieren. Doch George sah nur die Möglichkeiten, die ein langes Leben in Aussicht stellten. Man könnte sich bedenkenlos den Feinden nähern, denn selbst wenn man ein Leben vergab, so stürbe man nicht auf ewig. Er flehte mich an, es wenigstens zu versuchen. Vielleicht sei diese Legende ja überhaupt nicht wahr.

So kam es also, dass ich mit Alonso schlief. Ich, eine dreißigjährige Frau, mit einem Grünschnabel wie Alonso. Der Junge tat mir leid, und wir sprachen lange darüber, bevor wir tatsächlich diesen Schritt unternahmen. Alonso war nicht nur einverstanden, er drängte mich geradezu, es zu tun. Für ihn ging es um die Vernichtung der Feinde, die seine Mutter auf dem Gewissen hatten.

Nie werde ich diesen Abend vergessen. Nachdem alles vorüber war, überkam mich ein übermächtiges Schwächegefühl. Es war, als explodierten mir die Knochen im Leib. Von einer Sekunde zur anderen verlor ich mein Augenlicht, mein Körper zuckte in wilden Krämpfen, mir war heiß und kalt zur gleichen Zeit. Nicht nur George und Alonso dachten, ich würde sterben; auch ich dachte an nichts Anderes, als dass es ein fürchterlicher Fehler gewesen war, nach ewigem Leben zu streben, um andere auszulöschen, und dass es nur gerecht sei, wenn ich nun selbst mein Leben geben müsste. Doch ich verlor nur das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, sah ich die Angst in Georges Augen. Ich konnte wieder sehen und fühlte mich ... ja, ich fühlte mich irgendwie stärker, obwohl ich immer noch auf dem Bett lag und nichts tat. Uns allen war klar, dass sich etwas verändert haben musste. Meine körperliche Reaktion war ein eindeutiges Zeichen dafür.

In den darauffolgenden Monaten stellte ich fest, dass ich nicht nur in den Vollmondnächten schneller und stärker war, als je zuvor; ich war auch schwanger. Niemals hätte ich geglaubt, nochmals ein Kind zu bekommen. Im ersten Moment war ich verzweifelt, doch George beruhigte mich. Er wollte sich um das Kind kümmern. Ich wünschte, ich könnte meine Angst, irgendwann auch dieses Kind aufgeben zu müssen, vergessen.

Vielleicht wird es irgendwann so weit kommen, dass du deinen Bruder oder deine Schwester treffen wirst. Ich hoffe es sehr.

In Liebe, deine Mutter.

 

Leandra saß reglos vor Naomi. Diese Nachricht war überwältigend. Es überwog sogar noch die Tatsache, dass diese Legende wahr war.

Einige Zeit blickten sie sich nur an, bevor Naomi sich in die Kissen fallen ließ und ungläubig vor sich hinstarrte. Was sollte sonst noch alles kommen? Irgendwie kam ihr das Gelesene vor, als hätte sie gerade in einem Sience Fiction Roman geblättert. Sieben Leben, wenn man mit einer Jungfrau schläft, Unsterblichkeit, besondere Kinder. War ihre Verwandlung nur der Anfang einer noch viel verrückteren Geschichte? Reichte das alles, was mit ihr passierte, nicht aus? Was würde noch alles auf sie zukommen? »Oma, ich glaube, ich brauche einen Schnaps. Und zwar einen doppelten.«

»Du?« Ihre Großmutter prustete. »Die Einzige, die sich über diese Minibar hermachen wird, bin ich.« Mit einem Ruck war sie auf den Beinen. »Und du, du trinkst brav ein Glas Wasser. Einen Schnaps bekommst du ganz sicher nicht.«

Naomi schämte sich. Für einen kurzen Moment war ihr entfallen, dass sie schwanger war. Oma überreichte ihr einen Becher mit Wasser und schraubte den Verschluss einer Whiskyflasche auf, um diese in einem Zug zu leeren.

Nachdenklich nippte Naomi ein paar Schlückchen, bevor sie nach dem nächsten Umschlag griff. »Bist du schon bereit? Wer weiß, was uns noch alles erwartet ...«

»Ich habe also eine Schwester oder einen Bruder ...« Leandra warf die geleerte Flasche in den Mülleimer und schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollte ich mir noch ein Fläschchen holen?«

»Du hast auch gar kein Mitleid mit mir.« Nachdenklich kratzte Naomi sich am Kopf. »Was hat es mit diesem Kind auf sich? Der Legende nach muss es über besondere Fähigkeiten verfügen.«

»Ich kann mir nichts darunter vorstellen. Wie soll man jemandem in die Seele sehen können?« Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Leandra neben Naomi auf das Bett fallen. »Komm, lass uns weiterlesen. Gedanken machen wir uns dann, wenn wir alles gelesen haben.«