Siebzehn

 

Sammy folgte in ausreichendem Abstand Cassidys Wagen. Er durfte ihr auf gar keinen Umständen auffallen. Er hatte gerade noch gesehen, wie sie zwei große Rucksäcke in den Kofferraum gepackt und den Deckel geschlossen hatte. Es sah nach einer längeren Reise aus. Beinahe hätte er sie verpasst.

Sie verließ die Stillwater Avenue Richtung Südwesten und bog auf die Interstate 95 ein. Sammy grübelte. Sie fuhr Richtung Bangor. Wenn sie das Auto am Flughafen abstellte, wäre er aufgeschmissen. Er hatte weder ausreichend Bargeld noch seinen Pass bei sich. Mit etwas Glück könnte er am Flughafen noch erkennen, mit welcher Airline sie abfliegen würde. Nützen würde das jedoch nicht viel. Sie könnte überall hinfliegen. Sammy umklammerte das Lenkrad, als sie sich Bangor näherten. Er kaute auf den Lippen und starrte auf Cassidys Wagen vor ihm. Sie fuhr an der Flughafenausfahrt vorbei. Wenig später nahm sie die Ausfahrt auf die Interstate 395 in Richtung Brewer. Erleichtert pfiff Sammy eine Melodie vor sich hin, bis ihm einfiel, dass auch Brewer einen nationalen Flughafen hatte. Das Lied erstarb auf seinen Lippen. Er biss die Zähne aufeinander und begann zu schwitzen.

Fünf lange Meilen bangte er, bis sie die Ausfahrt 6A in Richtung Ellsworth und Bar Harbor nahm. Zum Flughafen wollte sie also nicht. Aber wohin zum Teufel fuhr sie? Sammy schielte auf die Tankanzeige. Weit würde er damit nicht mehr kommen. Er verfluchte sich, weil er vergessen hatte, vorher zu tanken. Aber er hatte nicht wissen können, dass Cassidy Stillwater verlassen würde. In seiner Aufregung war er zu dicht aufgefahren. Er ließ sich zurückfallen, bis sich drei Fahrzeuge zwischen Cassidys und seinem Fahrzeug eingefädelt hatten und beschleunigte das Tempo wieder, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Meile um Meile legten sie zurück. Erst als sie Ellsworth passierten, dämmerte Sammy allmählich, wohin sie fahren wollte. Cassidy fuhr ans Meer. Doch wohin genau? Es gab unzählige Ortschaften und Buchten. Sie konnte noch fünfzig Meilen fahren. So lange würde seine Tankfüllung nicht mehr ausreichen. Dreißig, mit viel Glück sogar fünfunddreißig Meilen. Er folgte ihr auf der ME 3, bis sie Thompsons Island überquerten. Cassidy verlangsamte das Fahrtempo. Offensichtlich betrachtete sie die Umgebung. Sammy ließ sich weiter zurückfallen, als die Fahrzeuge vor ihm Cassidys Wagen überholten. Links und rechts der Straße glitzerte der Ozean im Sonnenlicht und ließ das flache Wasser am Küstenstreifen türkis leuchten. Sammy lächelte. Sollte sie diesen Ausblick ruhig genießen, lange würde sie nicht mehr die Gelegenheit dazu haben.

Fünf Meilen folgte er ihr über die ME 198, bevor sie den Sound Drive entlangfuhren. Zufrieden trommelte er im Takt der Radiomusik mit den Fingern gegen das Lenkrad. Es gab nur wenige Straßen, die zu den einzelnen Ortschaften, auf dieser vom Meer eingeschlossenen Insel führten. Der einzige Verbindungsweg zum Festland führte über Thompsons Island. Das Risiko ihr Fahrzeug hier noch aus den Augen zu verlieren, ging gegen Null. Nun kannte er ihr Ziel. Cassidy wollte offensichtlich ein paar Tage im Acadia Nationalpark verbringen. Sammy folgte ihr bis zum Jordan Pond, wo Cassidy vor einem kleinen Cottage ihren Wagen abstellte. Sie waren angekommen.

Sammy wartete noch, bis Cassidy mit einem Schlüssel aus dem Haupthaus kam und ihr Gepäck aus dem Kofferraum nahm. Dann fuhr er weiter, auf der Suche nach einer Tankstelle und einem billigen Zimmer in der Nähe. Ein Zimmer mit Blick auf den See konnte er sich nicht leisten, zumal er nicht wusste, wie viel Zeit er hier verbringen musste.

 

*

 

Naomi spazierte den ganzen Nachmittag durch Stillwater. Sie hoffte, irgendwo Sammy zu entdecken. Was sie dann machen würde, wusste sie zwar nicht, aber immerhin wüsste sie, ob er sich noch hier herumtrieb. Als die Dämmerung hereinbrach, machte sie sich auf den Rückweg ins Wohnheim. Roman wollte sie zum Essen abholen.

Der Tag war sonnig und warm gewesen, doch nun fiel die Temperatur, und sie fröstelte. Sie ging über die Brücke und sah auf den Fluss hinaus. Das Wasser war noch kalt. Durch die Wärme des Tages entstanden zarte Nebelschwaden. Sie verharrte auf der Brücke und dachte nach. Sammy war wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hatte ihn gesehen. Bei Alice hatte er sich seit dem letzten Vollmond nicht mehr gemeldet. Naomi hatte zwei Mal versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Doch Sammy nahm das Gespräch nicht an. Es klingelte durch, bis der Anrufbeantworter ansprang. Sie hatte keine Nachricht hinterlassen. Was hätte sie auch sagen sollen? Sammy wusste, was Kai ihr über ihn erzählt haben musste. Er hatte bisher nicht zurückgerufen. Vielleicht war er inzwischen weit weg, und sie machten sich unnötig Sorgen. Cassidy war vorerst irgendwo beim Klettern und damit in Sicherheit. Ob Roman in Gefahr war? Vermutlich übertrieb Kai in seinen Erzählungen. Sammy war ihr gegenüber niemals aggressiv oder feindselig gewesen. Täuschte sich Kai vielleicht? Vermutlich nicht, dachte sie niedergeschlagen. Naomi drehte sich um und ging weiter.

Als sie vor ihrem Wohnheim ankam, wartete Roman bereits auf sie.  »Ich bin zu früh. Wir hatten sieben Uhr verabredet.«  Er sah auf seine Armbanduhr. »Und jetzt ist es kurz nach sechs.« Roman ging auf sie zu. »Du hast mir aber einfach gefehlt.«

Naomi schmiegte sich in seine Arme, hob den Kopf und küsste ihn. »Und du mir. Unheimlich sogar. Lass uns hochgehen. Ich muss noch duschen, dann können wir los.«

Nur mit einem Handtuch umwickelt, kam Naomi aus der Dusche. »Ich bin gleich soweit.«

»Ich bin aber jetzt schon hungrig.« Roman fläzte auf dem Bett und blinzelte ihr zu. »Und du siehst einfach zum Anbeißen aus.«

Roman stand auf. Naomi lachte, als er sie auf das Bett zog und niederküsste.

 

*

 

Der Morgen dämmerte, als Sammy das Cottage erreichte. Die Straßenlaternen waren immer noch angeschaltet, und er suchte sich eine dunkle Ecke unter einer Pinie, von der er den Eingang gut im Blick hatte. Früher war Cassidy eine Frühaufsteherin gewesen. Sollte sich an ihren Gewohnheiten nichts geändert haben, würde er nicht lange warten müssen. Er nippte an seinem Kaffee und wartete.

Die Straßenbeleuchtung ging aus. Sechs Uhr dreißig. Der Himmel klarte auf, und es versprach, ein sonniger Tag zu werden. Sammy trank den letzten Schluck, als sich die Tür von Cassidys Cottage öffnete. Sie trug einen Rucksack und Outdoor-Kleidung, feste Schuhe und eine Baseball-Kappe. Sammy lachte und schlug vor Begeisterung mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Auf Cassidy war Verlass. Aus dem Rucksack baumelten dicke Seile. Allem Anschein nach würde sie klettern gehen. Sammys Herz schlug schneller. Es hämmerte hart in seiner Brust. Besser hätte er es nicht planen können. Ein Unglück in den Bergen. Wie tragisch. Armer Kai. Sammy lachte auf. Endlich kam wieder Bewegung in die ganze Sache. Die letzten Monate waren viel zu langweilig gewesen.

Sammy folgte Cassidy. Die verschlungenen Wege waren ideal für eine Verfolgung. Sein Wagen verschwand immer wieder hinter den Kurven, um später wieder aufzutauchen. Es gab keine andere Straße, und warum sollte Cassidy auch misstrauisch werden, nur weil ein Wagen hinter ihrem fuhr?

Es waren nur wenige Meilen bis Otter Creek. Cassidy fuhr durch den Ort und bog am Schild ab, das den Weg zum Otter Cliff auswies. Der Parkplatz war noch menschenleer. Sammy stellte seinen Wagen in einem Feldweg ab, um nicht von ihr gesehen zu werden. Zwei Menschen, die gleichzeitig auf einem verlassenen Platz ankamen, ließen selbst den größten Trottel aufmerksam werden. Sie sollte ihn nicht sehen.

Sammy schlich den Weg entlang. Durch die Büsche beobachtete er, wie Cassidy sich einen Klettergurt über ihre Hosen zog und festschnallte. Sie wuchtete den Rucksack auf ihren Rücken und marschierte los. Sammy folgte ihr.

Der Aufstieg war steil. Sammy schwitzte, wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel aus dem Gesicht. Plötzlich tauchte vor ihm eine Straße auf. Schmal und mit einer kleinen Steinmauer begrenzt. Die andere Seite war von aufsteigenden Felsen eingefasst. Cassidy ging auf der abschüssigen Straßenseite entlang. Sammy folgte ihr. Er warf einen Blick über die niedrige Mauer. Der Hang fiel fast senkrecht ab. Nur wenige Pinien klammerten sich an den steinigen Abhang. Tief unterhalb klatschte der Ozean gegen die Schieferfelsen. Es würde leichter werden, als angenommen.

Cassidy setzte sich auf einen Mauerstein, öffnete den Rucksack und zog Seile, Klettersteigsets, Karabiner, Klemmkeile und anderes Zubehör heraus. Hinter ihr färbte sich der Himmel blau. Sie hatte sich an eine Stelle gesetzt, die steil nach unten ging; zu steil sogar für die allgegenwärtigen Pinien. Sammy sah sich um. Er lauschte auf ein Motorengeräusch. Jeden Moment könnte ein Fahrzeug kommen. Doch alles lag verschlafen da. Nur ein paar Vögel begrüßten zwitschernd den Morgen. Sammy trat auf die Straße, ging mit flotten Schritten an der Mauer entlang. Er nahm die Arme hoch und bewegte sie, die Hände zu Fäusten geballt, mit jedem Schritt rhythmisch im Wechsel auf und ab. Auf Cassidy musste er den Eindruck eines Walkers machen, der, wie sie, gerne zu früher Stunde unterwegs war. Cassidy lächelte ihn an, als er vor ihr stoppte.

»Willst du etwa hier hinunter?«, sprach er sie an.

Cassidy drehte sich um, sah hinunter zum Meer. Als sich wieder zu ihm drehte, veränderte sich der Ausdruck in ihren Augen. Sie hatte Sammy erkannt. Nach nur wenigen flüchtigen Begegnungen vor sechs Jahren, erkannte sie ihn tatsächlich wieder. Sammy zögerte nicht länger. Er versetzte Cassidy einen harten Schlag auf das Kinn. Der Schlag riss sie nach hinten. Erstaunen lag in ihrem Blick. Sie zappelte wild mit den Armen in der Luft, fand keinen Halt. Sammy stand sehr dicht bei ihr. Um nichts in der Welt wollte er verpassen, wie Kais Freundin in den Abgrund stürzte.

Durch die jahrelange Übung im Klettern verfügte Cassidy über ein ausgezeichnetes Gleichgewicht. Sie war es gewohnt, ihre Hände und Beine kontrolliert und unabhängig voneinander einzusetzen. Das hatte Sammy vergessen. Cassidy umfing in letzer Sekunde mit ihren Beinen Sammys Unterleib, klammerte sich an ihm fest. Den Blick fest auf ihn geheftet, zischte sie: »Du gottverdammtes Arschloch. Ich kenne dich. Wenn ich falle, dann mit Sicherheit nicht alleine!«

Sammy riss die Augen auf. Warum reagierte sie nicht überrascht? Hilflos? Ihr Gewicht zerrte an ihm. Er schwankte, und einen Moment sah es so aus, als könne er sich soweit zurücklehnen, um das Gleichgewicht zu halten. Er versuchte Cassidys Beine von sich zu lösen. Doch die hielten ihn wie ein Schraubstock fest. Er sah, wie sich vereinzelte Teilchen aus der Mauer lösten, spürte den Ruck, als der Stein, auf dem Cassidy saß, durch ihr Gewicht nachgab und unter ihr wegrutschte. Er fiel vornüber, seine Beine verloren den Kontakt zum Boden, und er stürzte gemeinsam mit Cassidy in die Tiefe. Cassidy schrie, als sie hart auf die zackigen Felsen aufschlug. Ihr Körper schützte seinen Aufprall, wobei er trotzdem glaubte, ihm würde jeder Knochen im Körper einzeln gebrochen. Cassidy blieb auf einem vorstehenden Felsen liegen. Der Klammergriff ihrer Beine löste sich, und sie strampelte um sich, bis Sammy von ihrem Körper glitt und über sie hinwegrutschte. Mit seiner rechten Hand klammerte er sich an einer Felsnase fest. Er versuchte sich hochzuziehen. Als er nach oben blickte, sah er nur noch, wie Cassidys Stiefel auf ihn herabsauste, ihm ins Gesicht donnerte und es plötzlich schwarz um ihn herum wurde.

 

*

 

Naomi trat kräftig mit ihrem Bein gegen den Sandsack. Außer ihr trainierten nur noch drei weitere Studenten in der Halle. Sie trat weiter, bis ihr der Schweiß in die Augen rann. In ihrem Kopf arbeitete es unablässig. Sie ließ vom Sandsack ab und setzte sich auf eine Bank. Mit dem Handtuch wischte sie sich über das Gesicht, bevor sie die Wasserflasche ansetzte und sie leer trank. Den Kopf zwischen die Beine gebeugt, saß sie da. Wie konnte sie Sammy besiegen? Wäre sie überhaupt in der Lage dazu, einen Menschen zu töten?

Das Quietschen der Eingangstür ließ sie aufsehen. Alice hatte sie entdeckt. Sie trug ein Handtuch um die Schulter und kam auf Naomi zu. »Hi.« Ihre Stimme klang niedergeschlagen.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Naomi.

Alice plumpste neben ihr auf die Bank. »Ach, nichts. Ich habe nur schlechte Nachrichten erhalten. Eigentlich kenne ich sie ja nur vom Klettertraining in der Halle. Furchtbar ist es trotzdem.«

Naomi hob ratlos die Schultern. Sie sah Alice auffordernd an. Naomi hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

»Du hast es noch gar nicht gehört? Es geht wie ein Lauffeuer auf dem Campus herum.« Alice lehnte sich an die Wand. »Bevor das Semester anfing, hatte ich einen Kletterkurs belegt.« Sie machte eine Pause. »Vorhin habe ich erfahren, dass die Trainerin einen Unfall hatte und keiner sagen kann, ob sie durchkommt. Die Leute sagen, sie läge im Koma.«

Naomi legte ihre Hand auf Alices Knie. »Ein Autounfall?«

Alice schüttelte den Kopf. »Keiner weiß genau, wie es passiert ist. Auf alle Fälle ist sie eine Klippe hinuntergestürzt. Sie war mit einigen Leuten zum Klettern verabredet und hat ihre Ausrüstung ausgepackt. Sie saß am Straßenrand auf der Steinmauer. Irgendwie muss sich ein Stein gelöst haben und ...« Alice zuckte hilflos mit den Schultern. »Sie fiel mit dem Stein die Klippen hinab. Ihr ganzes Zeug lag noch auf der Straße. Wäre sie nicht auf einem Felsen aufgeschlagen, wäre sie direkt in den Ozean gestürzt. Das hätte sie nicht überlebt.«

Naomi wurde heiß. Die Hitze breitete sich in Wellen in ihrem Körper aus. Ihr Magen zog sich zusammen, und sie würgte.

»Ist dir nicht gut?«, fragte Alice.

Naomi legte ihren Kopf zwischen die Beine. Sie atmete tief ein und aus. »Geht schon wieder. Hier ist es nur so stickig. Die Frau heißt nicht zufällig Cassidy?« Mit Sicherheit gab es in Maine viele Leute, die kletterten, trotzdem war Kais Freundin die Erste, die ihr in den Sinn gekommen war. Bitte lass es nicht Cassidy sein, flehte sie im Stillen. Bitte nicht.

Alice riss die Augen auf. »Du kanntest sie?«

Naomi würgte erneut. Dieses Mal schaffte sie es nicht, die plötzliche Übelkeit niederzukämpfen; sie übergab sich mitten in die Sporthalle.

 

*

 

Kai öffnete nicht. Keine Reaktion auf ihr Klingeln, auch sein Handy war abgeschaltet. Naomi ging ratlos vor seinem Haus auf und ab. Es war nur ein Unfall, redete sie sich ein. Nur ein tragischer Unfall. Woher hätte Sammy wissen sollen, wo sich Cassidy aufhielt? Es war unmöglich. Kai hatte gesagt, er sei sehr vorsichtig gewesen. Also kann Sammy gar nichts von ihr gewusst haben. Es kann gar nicht sein. Es muss ein Unfall gewesen sein. Sammy ist weg, abgehauen. Eine leise Stimme rührte sich. Und was ist, wenn nicht? Wenn Sammy doch von Cassidy gewusst hatte? Dann ist Roman in Gefahr. Du bringst Roman in Gefahr. Naomi schüttelte energisch den Kopf, um der Stimme Einhalt zu gebieten. Es war nur ein Unfall. Sie wählte erneut Kais Nummer. Dieses Mal klingelte es. Er nahm aber nicht ab. Sie setzte sich auf den Randstein und wartete. Sie wartete den ganzen Nachmittag, die halbe Nacht. Kurz nach zweiundzwanzig Uhr kam Kai vor seinem Apartment an. Naomi erkannte den Wagen sofort. Schnell war sie auf den Beinen und lief auf ihn zu. »Wie geht es ihr?«

Kai ging wortlos an ihr vorbei. Er sah sie überhaupt nicht an. Seine Augen waren rot und verschwollen. Es war unübersehbar, dass er geweint hatte. Heftig geweint.

Naomi folgte ihm schweigend. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. Er ließ es geschehen. Mechanisch schloss er die Tür zum Apartment auf, ging in die Küche und holte eine angebrochene Flasche Whisky hervor. Er trank direkt aus der Flasche.

»Kommt sie wieder in Ordnung?«, fragte Naomi. Sie ließ die Schultern hängen, ratlos, was sie ihm hätte sagen können.

Kai setzte die Flasche erneut an; trank sie leer und warf sie mit Wucht gegen die Wand.

Naomi schreckte zusammen. Sie sah ihn einfach nur an. Sein Blick war stumpf, wütend, traurig, verzweifelt, voller Hass. Alles auf einmal. Dieser Blick verriet ihr, dass Cassidy tot war. Sie schlug die Hände vor die Augen, drehte sich weg und weinte. Der modrige Whiskygeruch und die Gewissheit, dass Kais Freundin tot war, ließen ihren Magen rebellieren. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, rannte auf die Toilette und würgte, bis nichts mehr kam.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Kai durch die geschlossene Tür.

Naomi spülte sich den Mund aus und wusch sich ihr Gesicht, bevor sie ins Wohnzimmer zurückkehrte. »Ist schon das zweite Mal heute.«

Kai kauerte zusammengesunken auf dem Sofa. Naomi setzte sich neben ihn. »Denkst du, dass Sammy dahintersteckt?«

Kai schnaubte zornig. »Was glaubst du denn? Dass sie über ihre Füße gestolpert und in den Abgrund gestürzt ist?«

»Möglich wäre es doch, oder?« Naomi gab die Hoffnung immer noch nicht auf, dass Sammy verschwunden war und nichts mit alldem zu tun hatte.

»Sicher«, sagte er. »Das würde dir so passen, nicht?« Kai sprang auf die Beine. »Wie bequem. Unfälle passieren nun mal. Das ist bequemer, als zuzugeben, dass man selbst Schuld hat, weil man zu schwach war. Zu schwach, um zu gehen, zu schwach, um zu beschützen, zu schwach, um etwas zu ändern.« Kai trat gegen die Schlafzimmertür. Das Türblatt zersplitterte. »Kapier doch endlich! Es ist immer unsere Schuld!« Kai biss sich so heftig auf die Lippen, dass sie bluteten. »Meine Schuld«, flüsterte er. Blut lief über sein Kinn. Er bemerkte es nicht. »Und bei Roman wird es deine Schuld sein.« Er ging in sein Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Naomi saß auf dem Sofa. Wie sollte es nur weitergehen? Ihre Augen füllten sich mit Tränen.