Neun

 

Naomi starrte die halbe Nacht aus dem Fenster und fand keinen Schlaf. Der fast volle Mond prangte am Nachthimmel. Seit Monaten schlief sie kurz vor Vollmond schlecht oder gar nicht. Romans Besuch und sein Kuss hielten sie zudem vom Schlafen ab. Die Decke fest um sich gewickelt, träumte sie mit offenen Augen. Um acht Uhr wollte Roman sie abholen, um ihr seinen Lieblingsplatz zu zeigen. Wo dieser war, hatte er mit einem spitzbübischen Lächeln verschwiegen. Was sollte sie morgen anziehen? Nicht den kleinsten Hinweis hatte sie ihm entlocken können. Nun stellte sich die Kleiderfrage. Sie entschied sich für die eng sitzende Jeans und ein sexy T-Shirt. Sollte er im Anzug auftauchen, würde sie sich einfach umziehen. Nachdem sie das für sich geklärt hatte, fiel sie doch noch in einen unruhigen Schlaf.

Obwohl sie kaum geschlafen hatte, fühlte sich Naomi erholt und munter, als sie um sieben Uhr morgens erwachte. Sie streckte sich wohlig; ein breites Lächeln auf den Lippen, während sie an den Kuss der vorangegangenen Nacht dachte. Das bevorstehende Date ließ sie aus den Federn springen. Ein Lied vor sich hin summend, stapfte sie zur Badezimmertür und erstarrte, als sie einen Blick auf den Bürosessel warf. Warum lagen dort die Jeans und das sexy T-Shirt? Verunsichert blieb sie stehen und überlegte. War sie aufgestanden? Es musste so sein. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Kopfschüttelnd betrat sie das Badezimmer.

Frisch geduscht verschwendete sie an die nächtliche Aktion keinen Gedanken mehr und griff zum Telefon.

»Habe ich es doch geahnt!«, kreischte es aus dem Hörer.

Naomi strahlte über das ganze Gesicht und nickte zustimmend. »Alice, wenn du künftig noch auf einem Besen durch mein Zimmerfenster fliegst, statt an der Tür zu klopfen, dann zweifle ich nie wieder an deinen Worten.«  Naomi trank ihren Kaffee leer. »Wir sehen uns nachher, ja? Ich jogge jetzt meine Runde.«

Alice prustete ins Telefon. »Gestern hattest du noch dichte Gewitterwolken vor der Stirn. Und heute? Heute scheint dir die Sonne aus dem Arsch. Das nenne ich mal wirklich emotional flexibel.«

Naomi grinste immer noch über Alices derben Spruch, als sie in den Wald einbog. So ganz unrecht hatte Alice nicht. Selbst wenn es geregnet hätte, würde ihr das heute nicht die gute Laune verderben. Doch die am Himmel prangende Sonne leckte die letzten Nebelfelder weg; von Regen oder Nebel keine Spur. Das Leben war herrlich, und sie fühlte sich so gut und beschwingt, wie nie zuvor. Ihr war, als müsse jeder sehen, wie sie von innen heraus strahlte, so leicht und hell erschien ihr alles.

Der feuchte Waldboden duftete würzig, die Tautropfen auf den Ahornblättern funkelten in der Sonne, und die ersten Blüten öffneten ihre zarten Knospen. Beschwingt hüpfte sie über Wurzeln, wich herabhängenden Zweigen aus und rannte weiter in den Wald, bis sie auf der Lichtung ihren alten Freund, den Baum, entdeckte. Sie schnaubte auf, stützte die Arme in die Hüften und schlenderte auf die Ulme zu, um sie mit einem Klaps zu begrüßen. »Was treibt mich nur immer zu dir? Du lockst mich an, wie das Kloster die Nonnen.« Die Strahlen der aufsteigenden Sonne brachen gemächlich durch die Baumkronen und verwandelten den Ort in ein magisches Spiel aus Licht und Schatten. Schmetterlinge tanzten übermütig inmitten der Lichtung. Trotz des friedlichen und zauberhaften Moments, spähte Naomi in das umliegende Gehölz. Wie schon früher, entdeckte sie jedoch nichts zwischen den Bäumen, obwohl sie überzeugt war, nicht alleine zu sein. Sie verharrte einen Moment, bis die Sonne die Schatten endgültig vertrieb, bevor sie sich auf den Rückweg machte.

 

*

 

Pünktlich um zwanzig Uhr klingelte Roman an Naomis Haustür. Sie drückte auf den automatischen Türöffner, warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel und öffnete.

»Wow. Du siehst großartig aus«, sagte Roman und küsste sie zärtlich zur Begrüßung.

Er stand in Designerjeans und dem rosa Hemd, das er damals bei ihrem ersten Zusammenstoß getragen hatte, vor ihr. Sie war passend gekleidet. Naomi grinste. »Kein Mann, außer dir, kann es sich erlauben, ein rosa Hemd zu tragen. Zumindest kenne ich keinen. Bei anderen wäre ich mir nie sicher, ob sie nicht auf dieselben Typen stehen, wie ich.«

»Ach.« Roman sah an sich hinunter. »Dürfen nur schwule Männer rosa Hemden anziehen?«

»Nein. Du bist das lebendige Beispiel dafür.« Naomi schnappte ihre Handtasche und hakte sich bei Roman unter. »Und jetzt lass uns gehen. Ich habe einen Bärenhunger.«

Galant öffnete Roman ihr die Beifahrertür, bevor er selbst einstieg und auf die Ladefläche zeigte. »Der Fernseher ist endlich repariert. Ist es okay für dich, wenn wir bei Bertram vorbeifahren? Er wartet mit einem Essen auf uns.« Naomi hatte mit einem Besuch in einem der Restaurants im Ort gerechnet, doch war es ihr im Grunde egal, wohin sie mit Roman ging. Hauptsache, sie waren zusammen.

 

*

 

Sammy saß in seinem Auto und beobachtete Naomis Hauseingang. Die Dämmerung war hereingebrochen und bot ihm endlich besseren Schutz. Sollte Naomi ihn entdeckten, wusste er keine passende Ausrede. Er könnte höchstens behaupten, er sei eben erst gekommen, um sie zu besuchen. Glaubhaft wäre es, aber auch ziemlich lahm. Romans Pick-up fuhr vor den Eingang. »Was zum Teufel will der schon wieder?«, fluchte Sammy und stieg aus, um ihn besser im Blick zu haben. Er versteckte sich hinter der Hausecke und sah, wie Roman das Haus betrat. Sollten die beiden nicht in zwanzig Minuten aus der Tür kommen, würde er klingeln, um sie zu stören. Er durfte nichts riskieren. Sammy drehte sich ruckartig um. Seine Augen verengten sich, als er seine nähere Umgebung absuchte. Nichts zu sehen. Trotzdem war er überzeugt, nicht der einzige Beobachter in dieser Nacht zu sein. Sammy grinste schief. »Wir werden uns schon noch sehen. Bald sogar. Und dann mache ich dich endgültig fertig.« Die Haustür ging auf. Roman öffnete die Beifahrertür, bevor er selbst einstieg. Sammy lief zurück zu seinem Wagen. Er ließ den Motor an und folgte dem Pick-up durch die Dunkelheit.

 

*

 

Auf der Fahrt zu Bertram erzählte Roman über seine letzte Beziehung, die wegen seines Umzugs nach Stillwater zerbrochen war, und er deswegen daran zweifelte, dass Fernbeziehungen halten konnten. Dies sei neben seiner Arbeit als Dozent ein weiterer Grund gewesen, weswegen er sich nicht mehr bei ihr melden wollte. Naomi nickte. Sie verstand ihn. War sie nicht selbst jemand, der sich jede Entscheidung genau überlegte? Trotzdem hatte sie keinen Moment gezögert, als es um Roman ging. Sie war das erste Mal verliebt, und ihr Verstand hatte komplett ausgesetzt. So kannte sie sich selbst nicht. Wenn sie es genau bedachte, war ihr fester Plan gewesen, ihr Sportstudium so schnell als möglich voranzutreiben. Hatte sie nicht auch zu Sammy gesagt, sie hätte für einen festen Freund gar nicht die nötige Zeit? Die Begegnung mit Roman hatte alles verändert. Nicht, dass sie ihr Studium vernachlässigen würde; das nicht. Aber in ihrem Herzen war nun neben ihrer Liebe zum Sport ein neuer Raum besetzt worden, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass er überhaupt frei war.

 

Bertram erwartete Roman und Naomi bereits auf der Veranda. Er freute sich über seinen reparierten Fernseher und schloss ihn sofort an die Satellitenanlage an. Wie ein Kind zappte er von einem Programm zum anderen, bis Roman ihm die Fernbedienung aus der Hand nahm und ihn an das versprochene Essen erinnerte. Naomis Magen knurrte. Der Geruch nach Schmorbraten zog verführerisch durch die Räume.

»Lass dich erst mal ansehen.« Bertram sah sie amüsiert an. »Vor lauter Freude über den Fernseher, habe ich wohl meine guten Manieren vergessen.« Er fasste Naomi unter das Kinn und drehte ihr Gesicht ins Licht. »Ich ahnte schon, dass du mir eine Schönheit ins Haus gebracht hast. Selbst die Nasenklammer konnte dagegen nicht ankommen.« Er zwinkerte Roman zu. »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich selbst mein Glück versuchen. Allerdings würde ich mir dabei ein rosa Hemd verkneifen.«

Während Roman und Bertram die Schüsseln mit Schmorbraten, Knödeln und Kürbisgemüse auf den gedeckten Tisch stellten, genoss Naomi den Blick durch die Panoramafenster. Der Vollmond spiegelte sich auf der schwarzen Oberfläche des Sees wider, und es schien, als schwimme darauf flüssiges Silber. Der silberne Lichtkegel legte eine glitzernde Spur bis ans Seeufer. Roman trat hinter ihren Stuhl, beugte sich über sie und schloss sie in seine Arme. Naomi lehnte sich an seine Brust. »Danke, dass du mich wieder hierher gebracht hast. Es ist einmalig schön hier.«

»Du kannst gerne bei mir einziehen«, sagte Bertram. Seine Augen blitzten amüsiert auf. »Es ist einsam hier draußen, und ich hätte gerne so hübsche Gesellschaft.«

Roman lachte. »Das würde dir so passen!«

 

Naomi lehnte sich satt und zufrieden an die Rückenlehne ihres Sitzes und schnallte sich an. Sie warf Bertram zum Abschied eine Kusshand zu, was dazu führte, dass er sich theatralisch ans Herz fasste und auf die Knie sank.

»Verrückter Kerl«, sagte Roman, bevor er den Wagen startete.

Naomi sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Kurz vor zehn. Hoffentlich wollte Roman sie nicht schon nach Hause bringen. Es war immerhin Samstagabend.

»Bist du bereit?« Roman steuerte den Wagen zurück Richtung Orono.

Naomi zog die Augenbrauen nach oben. »Bereit wofür?«

»Bertrams Haus hat zwar seinen Reiz, aber es gibt da einen Ort, an dem ich fast noch lieber bin.« Roman sah sie an. »Du hast doch nicht angenommen, dass das hier schon alles war, oder?«

Naomi schüttelte verneinend den Kopf, obwohl sie genau das gedacht hatte. Schweigend fuhren sie durch die Nacht. Naomi rätselte, wohin die Fahrt wohl ginge. Roman bog auf das Unigelände ein. Naomi runzelte die Stirn. Was sollte es schon für einen besonderen Ort auf dem Unigelände geben? Sie fuhren an den Sportanlagen vorbei, bogen immer wieder in kleine Straßen ab, bis Naomi die Orientierung verlor. Erst als sie auf die College Avenue einbogen, die parallel zum Stillwater River verlief, wusste sie wieder, wo sie sich befanden. Roman bog nochmals in eine Seitenstraße ein, bevor er den Wagen parkte. »Wir sind da!«

Naomi sah sich um. Sie standen vor einem gewöhnlichen Haus aus rotem Backstein, wie es auf dem Gelände unzählige gab. Nichts war daran besonders. Roman zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und schüttelte ihn vielsagend vor ihrem Gesicht. »Los, komm schon!«

Naomi zuckte mit den Schultern, bevor sie ihm hinterherstapfte. Das Innere des Hauses war nur schwach beleuchtet. Roman bugsierte sie in einen hohen Raum mit Sesseln. Sie waren im Kreis angeordnet. Er deutete auf einen, bevor er in einem Nebenzimmer verschwand. Naomi ließ sich in den nächsten Plüschsessel fallen und lehnte sich zurück. Die Rückenlehne gab nach, bis sie in Liegeposition stoppte. Naomi gluckste. Ein Raum voller Liegestühle. Wozu sollte das denn gut sein? Das Licht ging aus. Musik erklang. Naomi fröstelte instinktiv. Sie schlang die Arme um sich, als über ihr ein Meer aus Sternen aufleuchtete, und sie begriff, dass sie sich in einem Planetarium befand. Die Musik wurde lauter. Sie bemerkte Roman erst, als er nach ihrer Hand griff und den Liegestuhl neben ihr in die gleiche Liegeposition brachte. Mit der Fernbedienung wechselte er die unterschiedlichen Sternbilder, zeigte Filme über eine Sonnenfinsternis im Zeitraffer, die Ringe des Saturn und Bilder der Mondkrater. Die Weite des Weltraums mit dem Farbenspiel der verschiedenen Planeten, in Verbindung mit den dramatischen Klängen, trieben ihr die Tränen in die Augen. Naomi drückte Romans Hand, der nah an sie herangerückt war. Sie kuschelte sich an seine Schulter und genoss die faszinierenden Bilder. Roman strich ihr sanft über das Haar, beugte sich über sie und küsste sie. Naomi drängte sich an ihn, küsste ihn, schloss die Augen und ließ sich von der Musik treiben, bis sie jegliches Zeitgefühl verlor. Die Musik verklang. Die Wirklichkeit holte sie wieder ein. Verlegen löste sie sich aus Romans Umarmung. Sein liebevoller Blick ließ ihr Herz schneller schlagen.

 

Naomi lag in ihrem Bett, die Beine an die Wand gelehnt, und hatte das Gefühl, schwerelos zu sein. In Gedanken sah sie eine gemeinsame Zukunft mit Roman. Nach diesem Abend schien es ihr unmöglich, ohne ihn nach Deutschland in ihr altes Leben zurückzukehren. Bevor sie ihn kennen gelernt hatte, hatte sie sich glücklich geglaubt. Nun wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Sie rollte sich auf dem Bett zusammen, kuschelte sich in die Kissen und schlief mit einem glücklichen Seufzer ein.

 

*

 

Naomi streifte durch den Wald, bis sie die Lichtung mit der alten Ulme erreichte. Der Vollmond prangte am Himmel. Sie spähte durch die Äste und konnte ihre Umgebung deutlich erkennen, obwohl es Nacht war. Sie vernahm ein Flüstern, konnte jedoch die Worte nicht verstehen. Sie lauschte. Es war eine Männerstimme. Sie versuchte, Worte herauszufiltern. Das Flüstern wurde lauter, rief ihren Namen. Sie hörte es ganz deutlich. Jemand klopfte auf Holz. Erst leise, bis es zu einem Hämmern anschwoll. Naomi erschrak. Sie riss die Augen auf und bemerkte, dass sie in ihrer Wohnung war. Und noch etwas bemerkte sie; sie lag nicht in ihrem Bett, sondern vor der Küchenzeile auf dem Boden. Sie hatte geträumt. Obwohl sie wach war, rief immer noch jemand ihren Namen, auch das Klopfen war nicht verstummt. Naomi stand vom Boden auf und schüttelte den Kopf, um richtig wach zu werden. Das Pochen war an der Tür. Sie zog sich eine Strickweste über um nachzusehen. Neun Uhr. Wer mochte so früh an einem Sonntag vor ihrer Tür stehen? Sie öffnete die Haustür einen Spalt und lugte hinaus. Davor stand Karsten. »Was machst du denn hier?«

Karsten stemmte die Arme in die Hüften. »Was ist das denn für eine lausige Begrüßung? Willst du mich nicht hereinlassen? Es ist saukalt hier draußen.«

Naomi ging automatisch einen Schritt zurück, um Karsten eintreten zu lassen. Er warf seinen Rucksack auf das Bett, drehte sich zu Naomi, drückte sie an sich und wirbelte sie herum. »Die Überraschung ist mir gelungen. Du solltest dein Gesicht sehen!« Breit grinsend stellte er sie wieder auf die Beine.

»Träume ich noch oder bist du tatsächlich hier?« Naomi rieb sich die Augen. Karsten stand wirklich in ihrem Studio vor ihr. »Solltest du nicht in Spanien sein?«

»Ein Kaffee wäre nicht schlecht. Hast du welchen?« Karsten sah sich um, ging in die Küche und stöberte in den Regalen. Naomi stand wie vom Blitz getroffen da und sah zu, wie Karsten Kaffee aufsetzte.

»Warum hast du nicht angerufen?« Naomi schlüpfte in eine Jogginghose.

»Es wäre einfacher, wenn Madame ab und zu ans Telefon ginge oder wenigstens den Anrufbeantworter abhören würde.« Karsten suchte nach dem Telefon und drückte auf die Abspieltaste des Anrufbeantworters. Es waren mehrere Anrufe von Naomis Oma, ihrer Mutter und von Karsten aufgezeichnet. Naomi schluckte, als sie die besorgte Stimme von Leandra hörte, die dringend um einen Rückruf bat. Naomi ließ sich auf ihr Bett plumpsen und schüttelte den Kopf. Sie hatte in den vergangenen Tagen tatsächlich keinen Wert aufs Telefonieren gelegt. Noch zu gut hatte sie Leandras ängstliche Stimme im Ohr, als Naomi mit ihr gesprochen hatte und wegen Roman völlig verzweifelt gewesen war. Sie hatte ihrer Oma vormachen wollen, dass alles in bester Ordnung sei und mit keinem Wort ihren Liebeskummer erwähnt. Leandra musste ihre niedergeschlagene Stimmung geängstigt haben. Und nun hatte sie Karsten geschickt, um nach ihr zu sehen.

»Hey, jetzt mach nicht so ein Gesicht. Ich habe die Feiertage genutzt, um dich zu besuchen.« Karsten hielt ihr eine Tasse dampfenden Kaffees vor die Nase.

»Logisch. Es hat auch nichts mit einem Kontrollbesuch zu tun, um herauszufinden, ob die kleine Naomi nicht besser wieder nach Hause kommen sollte.« Sie fixierte Karsten, um zu sehen, ob sie richtig vermutete und ihre Oma hinter dem plötzlichen Besuch steckte.

»Wenn ich behaupte, ich hätte dich vermisst, glaubst du mir sowieso nicht, oder?«

Naomi schüttelte verneinend den Kopf.

»Also, was ist los? Warum rufst du nie zurück? Du kennst doch Leandra. Sobald sie nichts von dir hört, ist sie versucht, eine Vermisstenmeldung aufzugeben.« Karsten sah sich nach einem Sitzplatz um. Nachdem der Schreibtischstuhl mit Kleidung belagert war, setzte er sich neben sie auf das Bett.

»Mir geht es gut. Zumindest jetzt wieder.« Naomi drehte ihre Tasse in Händen und schielte zu Karsten, der kurz vor einem Lachanfall stand.

»Ich fasse es nicht«, sagte er. »Du hast dich verknallt, und der Kerl ist nicht interessiert. Was für ein Trottel!« Er streckte sich auf dem Bett aus. »Los, erzähl.«

Als sie Karsten alles über Roman erzählt hatte, berichtete sie ihm ausführlich über ihr Leben auf dem Campus, die Prüfung und ihre gebrochene Nase. »Komm, jetzt bist aber du dran«, forderte sie ihn auf.  »Bisher hast du kaum etwas erzählt.«

 

Karsten berichtete gerade von einem berühmten Markt in Barcelona und wie bunt das Leben dort war, als es an der Tür klopfte.

»Lust auf Pizza?«, fragte Alice. Sie stand mit Sammy vor der Tür und sah an ihr vorbei. »Oh, ich glaube, wir stören.« Alice zog die Augenbrauen nach oben. Naomi seufzte auf. Sie wusste, wie es aussehen musste. Gestern hatte sie Alice von ihrer Verabredung mit Roman erzählt, und jetzt lag Karsten auf ihrem Bett. »Das ist mein guter Freund Karsten.« Sie winkte die beiden herein. »Aus Deutschland«, fügte sie erklärend hinzu. »Das sind Alice und Sammy. Alice ist eine Leidensgenossin, und Sammy hat mir mit der Prüfung geholfen. Ich habe dir eben davon erzählt.«

Karsten sprang auf die Beine und schüttelte den beiden die Hand. »Das hast du. Schön euch kennen zu lernen.«

»Dann wird es wohl nichts mit der Pizza, oder?« Alice wand sich unter Karstens Blick, der erst forschend zwischen ihr und Sammy hin und her wanderte, bevor er endgültig bei Alice hängen blieb.

Sammy war der Blick wohl ebenfalls aufgefallen, denn er griff nach Alices Hand. Naomi grinste. Karsten hatte sich nicht verändert. Er wusste genau, wie er auf Frauen wirkte und machte ein Spiel daraus, sie in Verlegenheit zu bringen. Nachdem es bereits zwölf Uhr mittags war, beschlossen sie, sich in einer Stunde beim Italiener zu treffen.

 

*

 

Roman klopfte an Naomis Wohnungstür. Er war sich unsicher, ob sie sich über seinen Überraschungsbesuch freuen würde. Der gestrige Abend war schön gewesen, und er wollte den Sonntag nicht ungenutzt verstreichen lassen. Trotzdem kannte er Naomi nicht gut genug, um einfach bei ihr hereinzuplatzen. Nach dem ersten Klopfen öffnete niemand. Er klopfte weiter, bis er Schritte hörte. Sie war also doch zu Hause. Die Tür schwang auf. Vor ihm stand ein Kerl, nur mit einem Handtuch um die Hüften geschlungen. Roman machte einen Schritt zurück und starrte ihn an. Freundliches Gesicht, durchtrainierter Körper, nasses dunkles Haar. Der Typ machte eine einladende Bewegung und ging zur Seite. »Du musst Roman sein.« Sein Gegenüber lächelte ihn an. Er musste seinen verwunderten Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben. »Naomi ist unter der Dusche. Sie wird gleich da sein.« Roman stand immer noch bewegungslos im Türrahmen.

»Nun komm schon herein. Ich bin Karsten.« Karsten sah belustigt an sich hinunter. »Und es ist tatsächlich nicht so, wie es aussieht.«

Roman verstand immer noch nicht. Wer war Karsten? Und, was machte er in diesem Aufzug in Naomis Wohnung? Er hatte einen ähnlichen Akzent wie Naomi. Hatte Naomi einen Bruder? Romans Neugierde siegte. Er betrat die Wohnung und sah sich um. Das Bett war zerwühlt, ein Rucksack lag daneben. Dieser Karsten wollte wohl länger bleiben. »Wenn es nicht so ist, wie es aussieht, wie ist es dann?«

Karsten kramte aus dem Rucksack Unterhosen und eine Jeans hervor. »Ich bin ein Freund aus Deutschland. Nachdem sich Naomi nie meldet, bin ich auf einen Besuch hereingeschneit. Vor ein paar Stunden bin ich angekommen. Wir wollen Pizza essen gehen. Hast du Lust mitzukommen?«

 

*

 

Naomi drehte das Wasser ab. Stimmen? Im Wohnraum? Naomi stutzte. Sie schlüpfte in einen Bademantel und wickelte sich ein Handtuch um den Kopf. Geräuschlos öffnete sie die Badezimmertür, um zu lauschen. War das Roman? Sie meinte, seine Stimme erkannt zu haben. Hoffentlich war Karsten wenigstens angezogen gewesen, als er zur Haustür gegangen war. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie es auf Roman wirken musste, wenn ihm ein halbnackter Typ die Tür öffnete. Naomi atmete tief durch, bevor sie in den Wohnraum trat. Es war Roman. Er starrte sie mit verwundertem Blick an. Sie ging auf ihn zu und küsste ihn auf den Mund. »Offensichtlich hast du Karsten schon kennen gelernt. Er hat mich heute Morgen hier überfallen. Wir kennen uns schon ewig.«

Naomi war froh, Roman mit dem Kuss ein klares Zeichen gegeben zu haben. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich merklich. »Erst weckt mich Karsten, dann stehen Alice und Sammy vor der Tür, und dann ...«

»Ja. Dann tauche auch ich noch unangemeldet hier auf«, unterbrach er ihren Redeschwall.

Naomi zog die Augenbrauen hoch und blickte ihm fest in die Augen. »Ich wollte dich eben anrufen, um zu fragen, ob du uns im Restaurant treffen möchtest.« Sie drückte ihm versöhnlich noch ein Küsschen auf die Wange. »Jetzt mache ich mich schnell fertig, und dann kann es losgehen.«

»Von uns aus kannst du gerne im Bademantel mitkommen«, sagte Roman.

Karsten grinste Roman verschmitzt an. »Solange du ihn an der Garderobe abgibst.«

Naomi funkelte Karsten an, drehte sich theatralisch um und stapfte mit erhobenem Kopf ins Badezimmer zurück. Das amüsierte Lachen von Roman und Karsten begleitete sie.

 

*

 

Sammy saß Alice am Tisch gegenüber. Alice sah hübsch aus mit ihrem blonden Pferdeschwanz, der tief ausgeschnittenen Bluse und den engen Jeans, die ihren athletischen Körper betonten. Sammy wusste, dass Alice gut bei Männern ankam; auch er fand sie attraktiv. Aber, sie war nicht Naomi. Alice war auch witzig; trotzdem langweilte er sich mit ihr und wünschte, Naomi und dieser Karsten würden bald kommen. Noch lieber wäre es ihm jedoch, wenn Naomi ohne diesen Typen käme. Es hatte ihm missfallen, wie er Alice angesehen hatte. Auch wenn er nicht wirklich an Alice interessiert war, so war es doch wichtig, dass sie bei ihm blieb. Ansonsten würde es schwierig werden, weiterhin so einfach zu erfahren, welche Pläne Naomi hatte, zumal er sie nicht mehr so oft sehen konnte. Alice schwärmte davon, dass sie nun häufiger zu viert ausgehen könnten, was Sammy nur recht wäre. Er durfte nicht riskieren, dass Naomi ihm völlig entglitt.

Alice winkte Naomi, die sich suchend im Lokal umsah. Sammy drehte sich um. Sein Magen verkrampfte sich, als sich Karsten, mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen, neben Alice setzte und Sammy kumpelhaft auf die Schulter klopfte. Hinter Karsten trat Naomi an den Tisch. Und mit ihr Roman. Sammys Laune verschlechterte sich augenblicklich. Es war ihm am Vortag schon schwer genug gefallen, sie nicht die ganze Nacht über zu beobachten und seinen Beobachtungsposten erst am frühen Morgen wieder einzunehmen. Wenigstens war Romans Pick-up morgens nicht vor Naomis Haus gestanden.

Roman zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Sammy. Nun saß Naomi nicht, wie eigentlich geplant, neben ihm. Er saß eingekeilt zwischen Karsten und Roman, was ihm überhaupt nicht passte. Er schluckte trocken, als Roman seine Hand auf Naomis Oberschenkel legte, sich zu ihr beugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Naomi lächelte, und ihre Augen strahlten, was ihn noch wütender machte. Sammy wusste nicht, wie er dieses Essen hinter sich bringen sollte, ohne dass jeder mitbekäme, wie es um ihn stand.

Nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte, drehte sich das Gespräch nur noch um Karsten. Alice hing an seinen Lippen, als er von Barcelona erzählte und sich bei seinen Geschichten in einen Spanier oder sogar in eine Spanierin verwandelte. Er berichtete so lebendig, dass alle am Tisch sich vor Lachen bogen; alle, bis auf Sammy. Er rang sich ein Lächeln ab, das ihm wie eingefroren ins Gesicht getackert war. Seine Augen ruhten die meiste Zeit auf Naomi, die sich über Karstens Berichte amüsierte und immer wieder zu Roman sah, der seinerseits nicht weniger Spaß an Karstens lebhafter Erzählweise hatte. Karsten erlaubte es sich sogar, einige Male um Alice herumzugockeln, um das stolze Gehabe eines spanischen Kommilitonen nachzumachen. Alices Augen blitzten vor Vergnügen, was Sammy nur noch mehr in Rage brachte. Als Karsten noch eine Anspielung auf Alices Dekolleté machte, ballte er unter dem Tisch eine Faust. Er hatte erwartet, dass Alice ihn zurechtweisen würde, doch sie fand die anzüglichen Bemerkungen nicht weniger lustig, als Naomi und Roman. Karsten witzelte, dass er Blondinen bevorzuge, wobei er Alice tief in die Augen blickte und anschließend mit einem sarkastischen Spruch weiterspottete, dass sie wohl eher auf Füchse stünde und nicht wisse, was sie verpasse. Naomi warf ihm deswegen zwar die Serviette an den Kopf, aber alle lachten über den Witz, der auf seine Kosten ging. Sammy versuchte gar nicht erst, Karsten über den Mund zu fahren. Er wusste, dass das Großmaul nur noch zwei Tage bliebe und er den Vollidioten bald wieder los wäre.

Solange musste er Karsten aus dem Weg gehen. Sammy war überzeugt, dass er sich bei einem weiteren Treffen nicht mehr im Griff haben und dem Clown seine große Fresse stopfen würde. Er schluckte seine Aggressionen mit einem kräftigen Schluck Wein hinunter, blickte auf die Uhr und verabschiedete sich von der Runde mit der Ausrede, eine Sonderschicht schieben zu müssen. Alice drückte er einen langen Kuss auf den Mund, und ihn beschlich während des Kusses das Gefühl, dass sie ihn eher widerwillig über sich ergehen ließ.

 

*

 

Gegen zehn Uhr abends schloss Karsten Naomis Wohnungstür auf. Ohne Licht zu machen trat er ans Fenster. Neugierig schielte er auf die Straße. Naomi und Roman standen dort und küssten sich innig, was ihm einen leichten Stich versetzte. Einerseits war es unübersehbar, dass die beiden ineinander verliebt waren, doch andererseits liebte auch er Naomi, wenn auch mehr, wie ein großer Bruder. Naomi wurde flügge. Und er würde kaum noch eine Rolle in ihrem Leben spielen. Der Gedanke machte ihn traurig. Naomi löste sich aus Romans Armen, um auf den Hauseingang zuzugehen, drehte sich nochmals um, eilte zurück in seine Arme und küsste ihn kurz, bevor sie tatsächlich ins Haus ging. Roman stand noch auf der Straße, als Naomi durch die Wohnungstür ging und Karsten am Fenster stehen sah.

»Du hast gespannt? Schlimmer als ein Vater!« Naomi grinste in sich hinein und schleuderte ihre Schuhe von den Füßen. »Diese hohen Hacken bringen mich noch um!«

Karsten wandte sich vom Fenster ab. »Ich habe Leandra versprochen, dich während der drei Tage nicht aus den Augen zu lassen.«

Naomi zog sich die engen Jeans aus und schlüpfte in ihre bequeme Jogginghose. »Was war heute eigentlich los?«

Karsten öffnete seine Sneakers. »Was meinst du?« Naomi nahm Karstens Sporthose vom Schreibtischstuhl und warf sie ihm zu.

»Das weißt du ganz genau.« Naomi ging in die Küche. »Noch einen Kaffee?«

Karsten nickte und folgte ihr. »Ich mag diesen Sammy nicht. Das ist los. Er hat etwas Verschlagenes.«

»Sammy ist mein Freund. Ohne ihn hätte ich die Prüfung niemals bestanden. Er ist in Ordnung. Also lass ihn in Ruhe.« Naomi füllte das Kaffeepulver in die Maschine und schaltete sie an.

»Er schaut dich merkwürdig an.« Karsten griff nach einem Kugelschreiber und spielte damit herum. »Er ist in dich verknallt. Sobald er sich unbeobachtet fühlt, sticht er Roman mit den Augen ab. Und die arme, süße Alice ist ihm wirklich scheißegal.«

Naomi beobachtete, wie Karsten wirre Muster auf eine Zeitschrift malte. Sammy war ihr Freund. Wie konnte Karsten nur so etwas sagen? War er etwa eifersüchtig? »Alice gefällt dir. Ist es das? Immerhin hast du den ganzen Tag mit ihr geflirtet.«

Karsten blickte auf. »Ja, sie gefällt mir. Dafür gefällt mir nicht, wie Sammy sie behandelt. Er ignoriert sie vollkommen. Er lässt dich nicht aus den Augen, und seine Halsschlagader fängt an zu zucken, sobald dein Lover dich auch nur streift.«

»Mein Lover hat einen Namen.« Naomi lehnte sich an die Küchentheke. »Und du hast dich heute wie ein Trottel benommen. Ich meine, ich fand es lustig, wie du Alice in deine Geschichten mit eingeflochten hast. So war es viel realer. Aber Sammy fand das nicht witzig. Wenn du mal genau darüber nachdenkst, würde es dir an seiner Stelle auch nicht gefallen. Vielleicht hat er mich so angesehen, weil er sich Hilfe von meiner Seite erwartet hat.«

Karsten warf den Kugelschreiber auf die Theke. »Also, der Blick hat für mich anders ausgesehen.« Er griff an ihr vorbei nach der Kaffeekanne. »Außerdem hat er dich von Anfang an so angestiert. Der Kerl steht auf dich, und ich habe keine Ahnung, was er von Alice will. Sie tut mir jedenfalls Leid. So einen zwielichtigen Typen hat sie nicht verdient.«

Naomi entwand ihm seinen Kaffeebecher. »Ach, und deswegen hast du ganz selbstlos auf Teufel komm raus mit ihr geflirtet?« Sein breites Grinsen sagte alles. Naomi kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht aus Mitleid mit einer Frau flirtete. Schon gar nicht dermaßen intensiv.

»Ich habe doch schon gesagt, dass Alice mir gefällt und Sammy nichts für sie ist.« Karsten setzte sich neben sie. »Jetzt aber mal ernsthaft. Der Kerl hat etwas an sich, was mir die Haare zu Berge stehen lässt.«

Naomi setzte sich auf das Bett und ließ sich nach hinten umfallen. Ein Spritzer Kaffee schwappte aus der Tasse und landete auf den Fliesen. Gleichgültig zuckte sie mit den Achseln. »Was hältst du eigentlich von Roman?«

Karsten legte sich auf den Bauch neben sie und sah auf sie hinab. »Was soll ich schon von ihm halten? Er macht einen intelligenten Eindruck.«

»Und?«, stocherte sie weiter.

»Er scheint okay zu sein.« Karsten lächelte.

»Aha, er ist intelligent und okay. Mehr kann ich von dir wohl nicht erwarten, oder?« Sie hob den Kopf an und trank im Liegen einen Schluck Kaffee. »Blödmann.«

»Also gut. Er sieht auch noch ganz passabel aus.«

Naomi boxte Karsten an die Schulter. »Gib es zu. Wir passen gut zusammen.«

»Ja. Sicher. Superman und Superwoman; das perfekte Paar.« Karsten lachte schallend los.

Naomi stellte ihre Tasse in die Pfütze neben ihrem Bett, griff hinter sich nach dem Kopfkissen und prügelte damit auf Karsten ein. Er fingerte nach dem zweiten Kissen und schlug zurück. Nach einer kurzen Balgerei lagen sie kichernd nebeneinander. »Schön, dass du da bist. Du hast mir gefehlt.«

»Und das, obwohl du jetzt Superman an deiner Seite hast?« Karsten grinste breit. »Ich habe dich auch vermisst.«

 

*

 

Eine zarte Stimme lockte Naomi. Sie fror. Naomi streifte durch den Wald, bis sie die alte Ulme erreichte. Sie lauschte dem Flüstern, versuchte einzelne Worte zu verstehen. Vergeblich. Der Vollmond erhellte die Lichtung. Sie sah sich um, konnte jedoch niemanden entdecken. Die Stimme wurde leiser. Verstummte. Jemand griff nach ihr. Panisch schlug sie um sich, versuchte dem eisernen Griff zu entkommen. Sie wand sich wie eine Schlange. Plötzlich fiel sie. Ein heiserer Schrei entwich ihrer Kehle.

»Ruhig, alles in Ordnung.«

Naomi schlug die Augen auf. Sie starrte direkt in Karstens verschlafenes Gesicht. Er strich ihr die Haare aus der Stirn. »Dein rechter Haken ist echt nicht ohne.« Karsten rieb sich das Kinn.

»Ich war im Wald.« Naomi Herz raste. »Und es war eiskalt.« Sie zog die Bettdecke fest um sich. »Jemand hat mich gepackt.«

Karsten runzelte die Stirn. »Wundert mich nicht. Du lagst in der Küche auf dem Fußboden. Als ich dich ins Bett tragen wollte, hast du mich fast k.o. geschlagen.« Er ging in die Küche und kam mit einem Glas Wasser zurück. »Hier. Trink.«

Naomi nahm einen Schluck. »Ich lag auf dem Fußboden?«

»Ja.« Karsten setzte sich neben sie auf das Bett. »Seit wann machst du das?«

Naomis Herzschlag beruhigte sich. »Was?«

»Na, schlafwandeln.«

Um die Kälte zu vertreiben, rieb sie sich die Arme. Schlafwandeln. Sie? Niemals. Sie schüttelte den Kopf.

Dunkel erinnerte sie sich an den Traum der vergangenen Nacht. Morgens war sie auf dem Fußboden aufgewacht, als Karsten bei ihr geklopft hatte. Auch in jenem Traum war sie auf der Lichtung gewesen. Sie hatte es nur vergessen, weil Karsten plötzlich vor der Tür stand. Und was war mit der Kleidung, die sie herausgelegt hatte, ohne sich zu erinnern? Sie schüttelte den Kopf. »Sag bloß Oma nichts davon.«

»Warum nicht? Ist doch nichts Schlimmes.«

»Weil sie einen Megaaufstand machen wird. Darum.« Naomi griff nach dem Wasserglas. »Machst du uns eine Tasse Tee? Mir ist immer noch eiskalt.«

Wenig später reichte ihr Karsten die Tasse. Sie hielt sie in Händen und wärmte sich daran. Eine Erklärung für das plötzliche Schlafwandeln fand sie nicht. Vielleicht lag es einfach nur an der fremden Umgebung. Bestimmt träumte sie deswegen von dieser Lichtung.

Sie nahm Karsten nochmals das Versprechen ab, nichts davon zu erzählen. Er willigte ein, wenn er auch nicht verstand, warum er nichts sagen sollte. Viele Leute wandelten im Schlaf. Karsten stand auf, sperrte die Tür ab und zog den Schlüssel ab. »Sicher ist sicher. Ich bin hundemüde und habe keine Lust, dich später auf der Straße zu suchen.« Den Haustürschlüssel ließ er in seiner Hosentasche verschwinden, bevor er sich ins Bett legte. »Schlaf schön. Und keine nächtlichen Ausflüge mehr, verstanden?«

 

Naomi lehnte sich an das Kopfende des Bettes, schlürfte den heißen Tee und grübelte. Der Vollmond schien in das Zimmer. Karstens Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Er war schon wieder eingeschlafen. Naomi seufzte. Ihre Hormone mussten schuld am Schlafwandeln sein. Seit sie Roman kannte, war ihr Magen wie zugeschnürt, sie schlief kaum und fühlte sich trotzdem großartig. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Roman. Die leere Tasse stellte sie neben das Bett, um die wärmende Decke nicht zurückschlagen zu müssen.

Die Stunden krochen dahin. Naomi fand keine Ruhe. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere, und Karstens gleichmäßige Atemgeräusche gepaart mit seinem leisen Schnarchen machten es nicht besser. Es dämmerte, als sie endlich Schlaf fand.

 

Der Wecker riss Naomi aus dem Tiefschlaf. Frischer Kaffeeduft zog durch das Studio. Von Karsten keine Spur. Sie streckte sich ausgiebig, bevor sie aufstand und unter die Dusche ging. Das heiße Wasser prasselte auf sie nieder und weckte endgültig ihre Lebensgeister. Obwohl sie kaum drei Stunden geschlafen hatte, fühlte sie sich fit wie ein Murmeltier nach dem Winterschlaf. Naomi schnürte ihre Turnschuhe zu, als die Haustür aufschwang und Karsten eintrat.

»Nachdem sich in deinem Kühlschrank aus Verzweiflung eine Maus erhängen würde, habe ich etwas zum Frühstücken besorgt!« Er wedelte mit einer Tüte vor ihrem Gesicht herum. »Milch habe ich übrigens auch gleich mitgebracht.« Mit gerunzelter Stirn betrachtete er Naomi. »Wo willst du denn hin?«

Naomi stellte ihre leere Kaffeetasse auf den Schreibtisch. »Nach was sieht es denn aus? Kommst du mit?«

»Frühsport war noch nie was für mich. Lass uns erst frühstücken, okay?«

Naomi gluckste kurz und schüttelte den Kopf. »Erst joggen, dann frühstücken. Vollgefressen durch den Wald laufen ist nichts für mich.«

Karsten verzog angewidert das Gesicht.

»Jetzt hab dich nicht so. Ich will dir was zeigen.«

Karsten ließ die Tüte mit den frischen Brötchen auf den Küchentresen fallen. »Muss das sein?«

»Wir sind auch schnell wieder da.«

 

Karsten trabte neben Naomi her und atmete schwer ein und aus. »Du hast die letzten Wochen wohl gar nichts für dich getan, richtig? Außer natürlich leckeren Wein zu trinken, spanische Tapas zu essen und mit den südländischen Señoritas zu flirten

Karsten nickte nur mit dem Kopf. »Ertappt!«

Naomi lachte und hüpfte über eine Wurzel. Eigentlich müsste sie schon längst an der Lichtung mit der alten Ulme angelangt sein. Sie lief voraus, blieb stehen und sah sich um.

Karsten holte sie ein und stützte die Hände auf die Knie. »Es ist zwar schön hier, aber was zum Teufel willst du mir zeigen? Und was noch wichtiger ist, wie lange müssen wir hier noch wie die Hasen Haken schlagen?« Er beobachtete, wie Naomi von links nach rechts sah, sich um die eigene Achse drehte, um sich zu orientieren. »Du hast keinen blassen Schimmer, wo wir sind.«

»Doch habe ich.« Naomi verstand nicht, warum sie die Lichtung nicht fand. Sie hatte sich noch nie im Wald verlaufen. »Wir sind gleich da«, behauptete sie. Sie lief nach Osten, damit kämen sie wenigstens in die Nähe des Stillwater Rivers, der nah bei der Lichtung lag. Vielleicht fand sie auf diese Weise den Weg. Naomi stöhnte innerlich auf, als sie nach weiteren zwanzig Minuten am Flussufer standen. In sanfte Dunstschleier gehüllt, lag die Brücke rechter Hand in Sichtweite. Sie waren im Kreis gelaufen. Der Blick auf den Fluss war zauberhaft, aber es war nicht die Lichtung, die sie Karsten eigentlich hatte zeigen wollen. Um ihren Fehler nicht zugeben zu müssen, streckte sie triumphierend den Arm aus und zeigte auf die alte Hängebrücke.

Karsten reckte den Hals. »Du willst mich verscheißern, oder?« Er drehte sich zu ihr um. »Über genau diese Brücke sind wir vorher gelaufen. Jetzt sind wir vielleicht dreihundert Meter davon entfernt. Dafür jagst du mich eine Stunde durch den Wald? Gib´s endlich zu. Du hast dich verlaufen!«

Naomi scharrte mit der Fußspitze im Waldboden. Sie hätte wissen müssen, dass Karsten ihr das nicht abnehmen würde. Trotzdem konnte sie nicht klein beigeben. »Hätte ich dir gesagt, wir machen nur einen Waldlauf, dann wärst du nicht mitgekommen! Selbst Schuld!« Sie boxte ihn auf den Oberarm und rannte los. »Wer zuerst zu Hause ist, bekommt die Brötchen!«

Mit einem Spurt legte sie einige Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und Karsten. Er versuchte, sie einzuholen und rief ihr nach, sie solle langsamer laufen. Naomi verlangsamte das Tempo, lief aber trotzdem noch so schnell, dass Karsten sie nicht einholen konnte und ihr Zeit blieb, darüber nachzudenken, was sie bei ihrem Waldlauf falsch gemacht hatte. Sie war denselben Weg wie immer gelaufen, ohne sich treiben zu lassen. Selbst, wenn sie nicht auf den Weg achtete, landete sie immer auf der Lichtung. Es war merkwürdig. Auf der Brücke hielt sie an und wartete auf Karsten, der mit hochrotem Kopf auf sie zugelaufen kam.

»Nur damit eines klar ist, die Brötchen gehören mir!«