Sieben

 

Aus dem Fenster des Zimmers im dritten Stock blickte man direkt über den Richmond Cemetery. Der Anblick des gepflegten Friedhofs mit den aufragenden Gedenksteinen und Kreuzen ließ Naomi nachdenklich den Kopf schütteln. Wie hatte sie damals über Leandra gelacht?

Die Nähe zum Park lieferte eine ideale Kulisse für einen Horrorfilm, wo Vampire aus Gruften stiegen und in vornehme Hälse bissen oder die angebetete Heldin, im vom Vollmond romantisch beschienen Park, verführten. All die Fantasyromane, die sie gerne gelesen und als blödsinnige Hirngespinste abgetan hatte, fielen ihr wieder ein. Auch jetzt hielt sie diese Geschichten immer noch für Unsinn. So eine Verwandlung war alles andere als romantisch. Ebenso wenig, mit solch einer Last leben zu müssen. Trotzdem musste sie nun zugeben, dass Gestaltwandler sehr wohl existierten. Sie selbst war einer. Hoffentlich träfe sie heute Nacht jemanden aus dem Clan. Diese Unwissenheit über ihr eigenes Wesen ließ sie verzweifeln.

Das Klopfen an ihrer Zimmertür riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah auf den Wecker. Neun Uhr. Verdammt. Sie musste eine ganze Stunde am Fenster gestanden haben. Mit eiligen Schritten ging sie zur Tür. »Guten Morgen, Oma. Komm rein, ich bin gleich fertig!« Sie griff nach ihren Jeans, einer weißen Bluse und verschwand ins Badezimmer, um sich fertigzumachen.

»Wieso rennst du immer noch in Unterwäsche herum?« Leandra stand im Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Naomi zuckte die Schultern, die Zahnpasta lief ihr vom Kinn. »Gleich.« Sie schrubbte nochmals über die Zähne, bevor sie ausspuckte. »Irgendwie ist mir die Zeit davongelaufen. Der Blick auf den Friedhof ließ mich über heute Nacht nachdenken, und plötzlich hast du geklopft.« Sie bürstete sich ihr langes Haar zurück, fischte nach einem Haargummi und band sich einen Pferdeschwanz.

»Eine Minute noch, und wir können los«, erklärte sie, während sie sich die Wimpern tuschte. Sie schlüpfte in die Jeans und zog ihre Sneakers aus der Reisetasche. »Ich hole mir noch ein Brötchen aus dem Frühstücksraum und ab zur Bahnstation. Die Adresse der Bank hast du?«

 

Die Linie acht fuhr in die Richmond Station ein, als sie mit ihrem Ticket in der Hand am Gleis ankamen. In der Waterloo Station stiegen sie um in die Linie nach West End. Seither herrschte Schweigen. Keine der beiden brachte auch nur ein Wort über die Lippen. Naomi spürte einen dicken Knoten in ihrem Magen. Ihre Großmutter schien nicht weniger nervös zu sein. Sie saß zusammengesunken in ihrem Sitz und knetete sich die Hände. Schließlich hielt es Naomi nicht mehr aus. »Oma, was denkst du, was wir in dem Schließfach finden?«

»Oxford Circus. Hier müssen wir aussteigen«, meinte ihre Großmutter, ohne auf ihre Frage zu antworten.

Naomi nickte und erhob sich. Wenig später verließen sie den Bahnhof und sahen sich um. Vierstöckige viktorianische Gebäude säumten die Straße. Alle waren herrlich mit Stuck verziert. Sie sah nach oben, bis Leandra sie an der Hand mit sich zog.

»Komm schon. Dafür haben wir später noch Zeit.« Leandra sah auf das Straßenschild und nickte zufrieden. Great Castle Street. Einhundert Meter weiter kamen sie an eine Kreuzung. An jeder Straßenecke stand Cavendish Square, doch das Bankenschild war nirgendwo zu entdecken.

Naomi versuchte, sich an den Hausnummern zu orientieren. Square hatte sie mit Platz übersetzt, aber es handelte sich dabei um einen ganzen Straßenzug. Sie gingen weiter nach Westen, bis sie vor einem Eckhaus stehen blieben. In dezenten Lettern prangte der Name der Bank über dem gebogenen Eingangsportal. Ein niedriger schmiedeeiserner Zaun mit zackigen Spitzen hielt die Fußgänger auf Abstand. Vermutlich war er angebracht worden, damit keiner neugierig durch die milchigen Fensterscheiben in die Bank sehen konnte. Die Fenster waren oben abgerundet und, wie das gesamte Erdgeschoss, mit hellen Klinkersteinen abgesetzt. Das Gebäude erweckte nicht den Eindruck einer mondänen Bank, wie sie im Bankenviertel zu finden waren. Dort hatten die prunkvollen Hochhäuser sie eingeschüchtert. Naomi fühlte sich augenblicklich wohler in ihrer Haut.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe und stieß die Luft geräuschvoll aus. Der Schlüssel brannte heiß in ihrer Hosentasche.

»Na, dann wollen wir mal ...« Leandra drückte den Rücken durch, ging voraus zur Eingangstür und öffnete die schmucklose Holztür. Naomi folgte ihr ins Innere. Es roch angenehm nach Holz und Akten, wie in einer alten Bibliothek. Am Empfang erkundigte sich Leandra nach den Schließfächern. Die Empfangsdame kam aus ihrem verglasten Häuschen und trippelte wegen ihres engen dunkelblauen Kostüms in kurzen Schritten über den steinernen Boden. Jeder Tritt hallte deutlich durch den Raum. Trotzdem hob keiner der Mitarbeiter den Kopf. Die an ihren Schreibtischen sitzenden Angestellten arbeiteten weiter, als hörten sie die Schritte überhaupt nicht. Naomi hingegen spürte, wie dieses schnelle Trippeln ihren eigenen Herzschlag aus dem Rhythmus brachte. Endlich kamen sie am Ende des Raumes an, wo ein anderer Mitarbeiter sie übernahm und in das Untergeschoss führte.

»Sie besitzen den anderen Schlüssel und wissen das Codewort?«, fragte er steif nach. Naomi nickte.

»Natürlich«, bestätigte Leandra.

Naomi und Leandra blieben vor einem Tresen stehen. Der Angestellte eilte hinter die Absperrung zu einem Computer. »Auf welchen Namen läuft das Schließfach?«

»Romina ...« Leandra räusperte sich. »Auf Romina Thomson.«

Er gab den Namen ein. Inmitten der Täfelung öffnete sich eine Klappe und brachte eine Tastatur zum Vorschein. Er drehte sie zu Leandra. »Wenn Sie bitte den Code eingeben.« Diskret wandte er seinen Blick ab. Leandra tippte das Wort JUDASKUSS ein. Naomi beobachtete, wie die Finger ihrer Großmutter zitterten.

Kurz darauf klackte es vernehmbar. Ein weiteres Fach fuhr seitlich aus dem Holztresen. Der Angestellte bückte sich, entnahm den Schlüssel und übergab ihn Leandra. »Schließfach 2189. Kommen Sie bitte hier entlang.« Mit ausholenden Schritten ging er voraus zu einer eisernen Tür, holte mit zielsicherer Bewegung einen Schlüssel aus seiner Anzugtasche, steckte ihn ins Schloss und legte einen metallenen Hebel um. Naomi hörte, wie Bolzen über Metall rutschten. Er zog die Tür auf, an deren Seite zehn Querstreben aus Stahl im Inneren des Türrahmens verschwunden waren. »Hier hinten rechts«, zeigte er. »Wenn Sie mich brauchen ... ich warte vor der Tür auf Sie. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

Naomi schlich hinter ihrer Großmutter in den Raum. Eigentlich sah er nicht eindrucksvoller aus, als der Schließfachbereich bei der Post. Nur war er bedeutend besser gesichert.

Leandra ging auf das Schließfach zu. Ihre Finger zitterten zu sehr, als dass sie den Schlüssel ins Schloss hätte stecken können.

Nach drei Versuchen griff Naomi nach dem Schlüssel. »Lass mich, Oma.« Energisch stieß sie ihn in die Öffnung und kramte nach dem zweiten Schlüssel in ihrer Hosentasche. Naomi atmete tief durch, bevor sie auch diesen ins Schloss hineinschob. »Bereit?«

Leandra schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht.« Trotzdem drehte Naomi beide Schlüssel erst nach links. Nichts bewegte sich. Ein weiterer Versuch nach rechts. Nichts. Dann drehte sie beide in entgegengesetzter Richtung: Die Klappe sprang auf. Naomi zerrte die Box aus der Öffnung und legte sie auf einem der Tische ab.

»Mach schon«, drängte Leandra.

Schwungvoll hob sie den Deckel an. In der Box lagen Umschläge. Naomi entnahm einen. Die Ziffer vier stand darauf. Sie hob weitere Umschläge an. Auf jedem war eine Nummer angebracht. »Was das wohl bedeutet?«

Leandra zuckte mit den Schultern. »Pack die Sachen ein und lass uns verschwinden.« Sie nestelte aus ihrer Handtasche einen Briefumschlag. »Den hinterlegen wir in der Box. Meine Mutter, oder derjenige, der sich um das Schließfach kümmert, soll wissen, dass ich die Unterlagen abgeholt habe.«

Naomi steckte die Umschläge in ihren Rucksack. »Was hast du aufgeschrieben? Doch nicht etwa deinen Namen, oder?«

»Es ist nur eine Karte. Darauf steht: Ich habe den Kuss nicht vergessen, in ewiger Liebe. Kein Empfänger, kein Absender.« Die Stimme ihrer Großmutter brach »Sollte meine Mutter noch am Leben sein, weiß sie, dass ich hier war.«

Naomi rechnete nach. Romina müsste annähernd neunzig Jahre alt sein. Möglicherweise lebte sie noch. Aber mit Sicherheit kümmerte sie sich nach all den Jahren nicht mehr um dieses Schließfach. Anhand der Umschläge ließ sich nicht erkennen, wann der Letzte in dieses Fach gelegt worden war. »Lass uns gehen.« Sie brannte darauf, endlich zu erfahren, was in Rominas Unterlagen stand. »Und lass uns für den Rückweg ein Taxi nehmen.«

»Erst müssen wir aber noch einige Zeitschriften kaufen. Emma will heute ins Theater und sie hat keine Ahnung, welche Vorstellungen es gerade gibt.«

Naomi zog eine Schnute. Der direkte Weg in ihre Pension wäre ihr lieber gewesen. Aber sie fand kein Argument, was gegen den Zwischenstopp sprach. Leandra konnte kurz aus dem Taxi steigen und die Zeitungen an einem Kiosk besorgen, während sie den Inhalt in ihrem Rucksack bewachte.

 

Gegen ein Uhr setzte das Taxi sie am Bed and Breakfast ab. Naomi sah sich aufmerksam um. Niemand zu sehen. Sie drückte dem Fahrer einige Pfundnoten in die Hand und schlüpfte durch den Eingang ins Innere. Leandra folgte ihr. »Du wirst immer merkwürdiger, weißt du das? Die Straße ist menschenleer und du führst dich auf, wie in einem Spionagethriller.«

»Und du bist zu leichtfertig!«, meckerte Naomi. »Nur, weil wir niemanden sehen, bedeutet das nicht, dass wir unvorsichtig werden sollten. Ich traue diesen Anwälten nicht.« Naomi stürmte die Treppen hoch.

Leandra schnaufte, als sie im dritten Stock ankam, wo Naomi bereits wartete und eilig die Tür hinter sich schloss. Dann riss sie den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und zog die Briefumschläge heraus. Naomi nahm einen nach dem anderen in die Hand und sortierte sie nach den darauf vermerkten Zahlen. Vier nummerierte Umschläge und einer mit der Aufschrift: Leandra. Ehrfürchtig sah sie sich das Kuvert an, bevor sie es ihrer Großmutter hinstreckte.

Leandra trat einen Schritt zurück. »Mach du es auf.« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist ...«

»... für dich, Oma. Romina hat ihn für dich geschrieben.« Naomi sah ihre Großmutter an. »Vielleicht erklärt sie, was es mit diesen Nummern auf sich hat.« Am liebsten hätte sie mit dem vierten Kuvert angefangen, da es sich dabei vermutlich um das letzte hinterlegte Dokument handelte.

Leandra ging auf das Bett zu. Mit einem Seufzen setzte sie sich, griff nach dem Brief und öffnete ihn.