Achtzehn

 

Während des Rückflugs nach Barcelona überlegte Roman, was er unternehmen sollte. Pilar verdiente eine Erklärung. Er liebte sie nicht. Das wusste er schon die ganze Zeit. Sich weiterhin einzureden, dies würde sich irgendwann ändern, nützte niemandem, weder Pilar noch ihm selbst. Doch was sollte er ihr sagen?

Nach Barcelona war er nur gereist, weil der Name dieser Stadt etwas in ihm ausgelöst hatte. Ein unbestimmtes Gefühl, an diesem Ort das zu finden, was in ihm diese merkwürdige Leere ausfüllte. All das hatte er ihr verheimlicht, obwohl sie ihm gegenüber immer aufrichtig gewesen war. Pilar träumte von einer gemeinsamen Zukunft, die es so nicht geben würde.

Seitdem er dieses Foto besaß, war Roman klar, dass er Naomi finden musste, um zur Ruhe zu kommen und die fehlende Zeit wieder mit Bildern füllen zu können. Sein Weg hatte mit diesem Mädchen zu tun. Selbst wenn sie ihn abwiese, wollte er wenigstens herausfinden, was geschehen war und was zu diesem überstürzten Aufbruch geführt hatte. Anschließend könnte er sich bei seinen Eltern verkriechen, bis er in der Lage wäre, eine Entscheidung zu fällen.

Pilar glaubte, er sei noch in den Niederlanden. Das verschaffte ihm einen Aufschub. Er entschied sich, ein Zimmer zu mieten. Die drei Tage, die er angeblich noch verreist war, wollte er nach Naomi suchen. Obwohl er Naomis Mutter angefleht hatte, ihm zu verraten, wo ihre Tochter in Barcelona wohnte, hatte er sie nicht dazu bewegen können, ihm den Hotelnamen zu nennen. Einzig eine Nachricht durfte er für sie hinterlassen.

Luna hatte ihn die ganze Zeit über merkwürdig taxiert, fast so, als sei er ein Spinner, der ihre Tochter verfolgte. Er war davon überzeugt, dass sie mehr über ihn wusste, als sie ihm verriet. Bis auf das Foto war Luna auf nichts eingegangen. Aber dieses Bild würde ihn zu Naomi führen. Als Touristin würde sie sich bestimmt die Sehenswürdigkeiten der Stadt ansehen und irgendwo würde er sie entdecken.

Eine Stunde später verließ er den Flughafen, setzte sich in ein Taxi und bat den Fahrer, ihn zu einer günstigen Unterkunft zu bringen. In der Pension warf er seine Reisetasche aufs Bett, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und begann mit seiner Suche nach Naomi. Er startete am südlichen Ende der La Rambla. Aufmerksam betrachtete er jedes Mädchen, das auch nur annähernd eine Ähnlichkeit mit Naomi aufwies. Gemächlich schlenderte er in nördlicher Richtung die Fußgängerzone entlang. Ausgerechnet in Spanien suchte er nach einer Frau mit schwarzem, langem Haar. Doch irgendwann fände er sie, und dann ließe er sie nicht wieder gehen.

 

*

 

Naomi hakte sich bei ihrer Großmutter unter. Gemeinsam folgten sie Romina bis vor einen hölzernen Durchgang, der hinter einer Treppe von einem Bücherregal versteckt war. Iker musste in der Zwischenzeit das Regal beiseitegeschoben haben, um den Eingang freizugeben.

»Wir müssen sehr vorsichtig sein. Dort befinden sich alle Unterlagen, die wir zusammentragen konnten. Das Meiste ist mittlerweile zugeordnet, bei anderen Dokumenten fehlen uns noch die Zusammenhänge.« Romina duckte sich unter dem Holzbalken hindurch. »Achtet auf eure Schritte. Wir sind vor vierzig Jahren zufällig darauf gestoßen, als die Täfelung eines Tages herunterfiel. Und zieht den Kopf ein. Die Decke ist sehr niedrig und die Stufen sind schmal und hoch. Das Versteck muss schon seit vielen Jahrzehnten existieren.«

Naomi folgte Romina durch die Tür.

»Ich geh voran. Solltest du stolpern, landest du auf mir.« Sie zwinkerte Leandra zu.

»Sehr witzig. Achte du lieber auf deinen Dickkopf, damit du ihn dir nicht stößt.« Leandra grinste. »So eine alte Greisin, wie ich, kann dich nämlich nicht auffangen.«

Naomi tastete sich nach vorn. Die Treppenstufen besaßen eine Tiefe von höchstens sieben Zentimetern. Vorsichtig setzte Naomi ihren Fuß seitlich auf. Nur mit der Ferse aufzutreten, schien ihr zu riskant. Jeder Schritt nach unten steigerte das Kribbeln in ihrem Magen.

Am Ende der Treppe führte ein enger Gang zu einem einzigen Raum, in dem Licht brannte. Naomi blieb mitten im Türrahmen stehen. »Wow. Das sieht ja wie eine richtige Kommandozentrale aus!«

Das Zimmer maß sechzig Quadratmeter. An den Wänden hingen Pläne und Skizzen in unterschiedlichen Farben. Vier Computer standen in der Zimmermitte an einer Seite eines quadratischen Tischs, an dem fünfundzwanzig Personen Platz gefunden hätten. Die Tischplatte quoll über mit Dokumenten und Plakatrollen.

Leandra drückte sich an Naomi vorbei und schlug sich mit der Hand auf den geöffneten Mund. »Wie habt ihr nur diesen Tisch hier hereinbekommen?«

Naomi lachte.

Iker und Romina sahen sich verwundert an und begannen ebenfalls zu schmunzeln.

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«, fragte Naomi.

Iker schaltete die Wandlampen an. »Womit wollt ihr beginnen?«

»Am besten mit der Ahnentafel«, antwortete Romina.

Leandra entdeckte einen Drehsessel, zog ihn heraus und setzte sich. Naomi folgte Romina zu einer Wand, an der eine Skizze befestigt war. Darauf notiert standen Namen und Zahlen. Auch ihren eigenen las sie in einem Kästchen, welches in der untersten Reihe eingezeichnet war.

»Hast du schon einmal einen Stammbaum gesehen?«, wollte Romina wissen.

»Nein.« Naomi entdeckte einen vertrauten Namen. »Ihr wisst von ihm?«

»Was denkst du, wer dir Kai geschickt hat?« Romina strich ihr über die Schulter. »Wenn ich allerdings geahnt hätte, dass sich einer unserer Feinde dort aufhalten könnte, wäre ich selbst gekommen. Kai sollte beweisen, dass er auf dich achten kann und dieses Mal keinen Fehler begeht. Das Ergebnis kennst du. Ich verstehe bis heute nicht, warum er sich und dich in Gefahr gebracht hat. Das hätte ich niemals zugelassen!«

»Du wusstest, wo ich war?«

Iker lachte auf. »Natürlich.«

»Und woher?«, fasste Naomi nach.

»Ihr haltet nicht viel von Mülltrennung. Der Umschlag der Universität lag in eurer Tonne.«

Leandra schnaubte. »Ihr habt unseren Müll durchsucht?«

»Irgendwie musste ich mir die Informationen ja besorgen.« Romina ging auf ihre Tochter zu. Sie setzte sich neben sie auf die Tischplatte. »Sicherheitshalber rief ich aber bei der University of Maine an, bevor ich Kai den Auftrag gab, dort hinzureisen.

Der Gedanke an Kai versetzte Naomi einen Stich. »Er war der Einzige, der sich um mich gekümmert hat. Das werde ich ihm niemals vergessen.«

»Er könnte noch leben«, meinte Romina. In ihrer Stimme schwang ein verärgerter Unterton mit. »Wenn er auf mich gehört hätte.«

Dass sie an Kai herummäkelte, gefiel Naomi nicht. Ihn traf keine Schuld. Er hatte sein Leben gegeben, um ihres zu retten. »Romina, das ist unfair.«

»Nein. Es ist die Wahrheit.« Romina zog die Beine an und setzte sich im Schneidersitz auf die Tischplatte.

»Vielleicht hättet ihr ihn nicht einfach unvorbereitet losschicken sollen«, stichelte Naomi. Sie erinnerte sich noch genau, dass Kai kaum etwas über den Clan und die Verbindungen untereinander gewusst hatte. »Wenn er mehr Informationen gehabt hätte, wäre es vielleicht gar nicht erst zum Kampf gekommen.«

»Zum damaligen Zeitpunkt konnte man sich auf Kai nicht verlassen. Er hing in den Vollmondnächten seinen trüben Gedanken nach. Keine Information war bei ihm sicher. Zwar hätte er uns nicht aus Absicht verraten, aber er hatte die schlechte Angewohnheit mit sich selbst zu reden, wenn sonst niemand beim Treffpunkt war. Kannst du dir vorstellen, was passiert wäre, wenn man ihn belauscht hätte?«

Naomi nagte an ihrer Unterlippe. War das der Grund? Kai hatte damals etwas anderes behauptet. »Er hat mir erklärt, ihr würdet ihn im Unklaren lassen, weil er sich nicht von Cassidy trennen wollte.«

»Auch das. Er setzte ihr Leben aufs Spiel.«

Romina beobachtete jede ihrer Bewegungen. War das Ganze hier eine Prüfung? Ihre Urgroßmutter überschüttete sie mit ihren Beweggründen und Iker las in ihrem Kopf, was sie darüber dachte. Aber nicht nachzudenken war einfach unmöglich.

»Naomi. Bitte. So ist es nicht.« Iker ging vom Computer weg, an dem er bisher gearbeitet hatte. »Wir verfolgen doch dasselbe Ziel. Es ist kein Test, den du bestehen musst.«

Romina lächelte milde. »Keine Sorge, ich werde Iker nicht fragen, was er in deinen Gedanken gelesen hat. Mein Wunsch ist, dass du mit mir sprichst und mir vertraust. Nur so kann ich dir helfen.«

»Helfen? Wie denn?«, fragte Naomi.

»Meines Wissens gibt es nicht mehr viele aktive Mitglieder von Neophars Clan. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass alles bald ein Ende hat. Du liebst Roman und willst ihn zurück. Dass du leidest, brauchst du mir nicht zu sagen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, diejenigen zu verlassen, die man liebt.« Romina seufzte. »Seit sechzig Jahren kämpfe ich darum, endlich in Frieden zu leben. Wir stehen kurz davor.«

Naomi nickte und starrte auf ihre Hände. Sie kam sich egoistisch und nörglerisch vor. Eigenschaften, die sie verabscheute. Nach einigen Sekunden des Schweigens erhob sie sich. »Gut. Einverstanden. Ich hör auf dich, und im Gegenzug erzählst du mir alles, was ich wissen muss.«

»Das nenne ich einen Deal.« Romina sprang vom Tisch. »Fangen wir mit unserer eigenen Ahnentafel an.«

Naomi griff nach einem Gummiband, das auf dem Tisch herumlag, und band sich ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, bevor sie Romina zum ersten Diagramm folgte.

»Ganz oben steht Dorothea und ihre Familie, siehst du?« Romina zeigte mit ihrer Hand auf die oberste Zeile. »Wir haben ihre nächsten Verwandten in die erste Reihe geschrieben. Ihre Familie überlebte das Massaker damals nicht. Einzig Dorothea und ihre Schwester Hanna kamen mit dem Leben davon. Ihre gesamte Sippe wohnte im gleichen Dorf. Daher gibt es nur noch ihre direkte Linie und die ihrer Schwester, die kurz davor heiratete und in die Stadt zog. Dorotheas Geschichte kennst du, oder?« Romina blickte zu ihr.

»Nur aus deinen Briefen«, bestätigte Naomi.

»Dorothea wurde von ihren Eltern mit vierzehn Jahren verheiratet. Das war noch vor ihrer ersten Verwandlung. Ihr Mann starb nach zwei Jahren an einer Lungenentzündung. Als Dorothea sich verwandelte, traf sie im Wald auf einen entfernten Cousin, mit dem sie später eine kurze Beziehung einging. Ihr Cousin war noch jünger als sie und hatte noch nie mit einer Frau geschlafen. So erlangte Dorothea, ohne es zu wissen, sieben Leben. Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie keine Kinder bekommen, weswegen aus dieser kurzen Beziehung kein besonderes Kind hervorging.

Als ihr zweiter Mann Paul sie eines Nachts verletzt im Wald entdeckte, verliebte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie heiratete Paul und blieb mit ihm zusammen, bis es zu diesem Unglück kam, bei dem ihre Sippe den Tod fand. In dieser Nacht verlor sie ihr erstes Leben durch das Feuer.

Da Dorothea nach Pauls Tod alleine blieb, gibt es aus ihrer Blutlinie keine Nachkommen.

Ihre Schwester Hanna, sie steht hier rechts außen, brachte zwei Jungen zur Welt.«

Naomi folgte Rominas Finger, bis sie die Namen lesen konnte. Die durchgestrichenen Felder waren mit einer Jahreszahl versehen. Dem Todesjahr.

»Einer starb an Scharlach, der andere heiratete, und bekam zwei Töchter. Barbara und Maria. Barbara, die ältere Tochter, ging mit ihrem Mann in die USA, wo ihre Nachkommen noch heute in Texas leben. Bisher konnte ich aus dieser Linie nur noch Carol ausfindig machen.«

»Handelt es sich bei Carol um diese Großtante, die du in einem der Briefe erwähnt hattest?«, fragte Naomi.

»Ja. Und sie bekam ebenfalls zwei Kinder, einen Jungen namens Frank und ein Mädchen mit dem Namen Brenda. Beides normale Menschen.

Frank heiratete und bekam drei Kinder. Jason, Katie und Alison. Bei dem Ältesten, Jason, war ich überzeugt, dass er wie wir ist. Vor einem Jahr hat er sich zum ersten Mal verwandelt. Jetzt achtet er auf seine jüngere Schwester Katie. Auch sie wird sich verwandeln. Es ist nur eine Frage der Zeit. Nur Alison ist ein normaler Mensch.«

»Was ist aus Franks Schwester Brenda geworden? Hatte sie keine Kinder?«

»Nein. Brenda ist Nonne. Sie engagierte sich schon früh für die Kirche und trat nach einem längeren Aufenthalt in Südamerika in ein Kloster ein.«

Naomi betrachtete den verzweigten Stamm nach unten, bis sie auf die Geburtsdaten von Jason, Katie und Alison stieß. Alleine aus dieser Linie gab es drei Jugendliche in ihrem Alter, mit denen sie verwandt war. Und zwei davon sollten, wie sie, Katzenmenschen sein.

Ihr Blick wanderte auf die andere Hälfte des Blattes. Ihr eigener Name stand auf der anderen Seite. Sie folgte dem Verlauf der Kästchen.

Von Dorotheas Schwester Hanna gingen zwei Kästchen ab, in denen die Vornamen ihrer beiden Söhne eingetragen waren. Der Name ihres verstorbenen Sohnes war durchgestrichen, die Jahreszahl notiert. Er starb bereits mit fünf Jahren. Als der Ältere mit dreißig Jahren verstarb, hinterließ er zwei Töchter. Barbara, die ausgewandert war, und Maria, die weiterhin in England lebte und aus deren Linie Romina abstammte.

Dorothea hatte einige Zeit bei ihrer Enkeltochter Maria verbracht. Obwohl Maria vier Kinder geboren hatte, war nur ein Mädchen am Leben geblieben. In den sechs darauf folgenden Generationen hatte immer nur eine einzige Tochter überlebt.

Auch Rominas Geschwister kamen alle kurz nacheinander ums Leben. Zwei Schwestern und vier Brüder. Manchmal starben sogar zwei im selben Jahr.

»Warum?«, fragte Naomi hilflos. Sie wusste nicht, wie sie ihre Vermutung in Worte fassen sollte.

»Warum immer nur eine von uns überlebt hat? Meinst du das?«, wollte Romina wissen.

Naomi nickte. Ab dem Jahr 1612 hatte immer nur ein einziges Mädchen überlebt. Die Geschwister erreichten selten ihr sechzehntes Lebensjahr.

»Dasselbe habe ich Dorothea auch gefragt. Mir fiel es ebenfalls auf. Es war wie ein Fluch, der auf unserer Familie lastete.« Romina seufzte. »Das dachte ich zumindest.« Sie verstummte.

»Aber ...«, fasste Naomi nach. Die vielen durchgestrichenen Kästchen mit einem Kreuz und der Jahreszahl dahinter erinnerten sie an einen aufgezeichneten Friedhof.

»Aber der Clan bekämpfte uns damals schon. Dorothea kämpfte alleine gegen ihn. Sie konnte eben nicht alle beschützen. Ich wusste nichts davon. Es war Krieg, meine Brüder wurden eingezogen oder arbeiteten in London, und London war zu dieser Zeit ein gefährliches Pflaster. Auch andere Familien erlitten Verluste. Ob im Krieg oder durch Krankheit. Dorothea achtete auf mich, nur deshalb bin ich noch am Leben.« Romina ließ sich auf einen Stuhl fallen. Es schien fast so, als nehme ihr die Erzählung jegliche Kraft.

Naomi setzte sich auf die Tischkante und starrte weiter auf das Diagramm.

»Was ist mit meinem Mann geschehen? Weißt du etwas darüber?«, fragte Leandra mit brüchiger Stimme.

»Es gab Gerüchte. Ich konnte nicht herausfinden, wer aus Neophars Clan hinter dem Mord steckte. Doch es war kein Unfall.« Romina stand auf und legte Leandra die Hand auf die Schulter. »Es tut mir sehr leid. Es kamen zwei Täter in Frage. Beide sind nicht mehr am Leben, falls dich das tröstet.«

Naomis Großmutter presste die Lippen zusammen. Sie sah ihr an, dass sie gegen die Tränen ankämpfte, bis sich zornige Falten auf ihrer Stirn bildeten.

»Trösten?« Leandra schüttelte den Kopf. »Nichts bringt ihn mir wieder. Ich habe nie daran geglaubt, dass er betrunken ins Hafenbecken gestürzt und dort ums Leben gekommen ist.«

Naomi überlegte. Wenn ihr Großvater ermordet worden war, konnte dann der Überfall auf ihren Vater noch ein Zufall sein?

»Und mein Vater?«, flüsterte sie.

Romina sah sie mitfühlend an. »Ob er wirklich nur zur falschen Zeit durch diese Gasse ging, oder ob der Clan darin verwickelt war? Ich weiß es nicht.«

Naomi schnürte es die Luft ab. Selbst wenn sie ihren Vater nie kennengelernt hatte, erschien ihr die Tatsache grausam, dass Neophars Clan ihr den Großvater und den Vater genommen hatte. Der Clan hatte sie der Möglichkeit beraubt, in einer normalen Familie aufzuwachsen. Einen Vater zu haben, der mit ihr spielte, sie in den Arm nahm, wenn sie sich die Knie blutig schlug und sie unterstützte, wann immer sie Beistand nötig hatte. »Romina. Warum tötet der Clan in erster Linie die Männer? Wenn ich mir die Tafel ansehe, haben in unserer Familie nur die Frauen überlebt. Warum?«

»Dorothea erklärte mir, es wäre für sie leichter gewesen, die Frauen zu schützen. Früher war es schwierig, eine Freundschaft zu einem Mann aufrechtzuerhalten, ohne dass es Gerede gab. Wir haben uns auch den Kopf darüber zerbrochen, um in Zukunft besser vorbereitet zu sein.« Romina holte eine Flasche Wasser aus einem Regal, schenkte ein und reichte erst Leandra, dann Naomi ein Glas, bevor sie selbst den Inhalt direkt aus der Flasche hinunterstürzte.

»Im Grunde wisst ihr es nicht«, schloss Naomi.

»Spielt das eine Rolle?«, fragte Leandra. »Diese Monster töten unsere Familie! Das muss aufhören.«

»Eines Tages wird es das.« Romina straffte die Schultern und zeigte auf eine weitere Ahnentafel. »Seht hier. Wir sind sicher, dass wir nicht alle Nachfahren von Neophars Clan aufgespürt haben. Viele von ihnen haben wir bei Kämpfen vernichtet, und die anderen betrachten wir als Schläfer, die uns in Frieden lassen. Wobei Iker etwas belauscht hat, was beängstigend ist.«

Naomi stellte ihr Wasserglas ab und trat neben Romina. Sie betrachtete den Stammbaum. Dort fand sie den Namen von Walter Thursfield. Sein Sohn war mit dem Vermerk Mensch versehen. In einer Seitenlinie stand der Name Nicholas. Naomi entdeckte, wer als Nicholas` Bruder vermerkt war. Hörbar zog sie die Luft ein. Ein Kreuz zeigte an, dass er nicht mehr am Leben war. Sie wich zurück und stieß gegen die Tischplatte.

»Dieses Datum ist falsch«, flüsterte sie.

Romina zog die Stirn in Falten. »Welches Datum?«

Aus zwei Metern Entfernung zeigte Naomi auf die Tafel. »Sammy.« Kopfschüttelnd stand sie da. »Roman hat ihn vor drei Monaten getötet.«

Ihre Urgroßmutter riss die Augen auf. »Unmöglich.« Hilfe suchend blickte sie zu Iker. »Er starb vor drei Tagen bei einem Autounfall. Ich war dabei.«

»Das kann nicht sein.« Naomi sah von Romina zu Leandra. »Oma, ich habe dir davon erzählt. Sammy ist seit drei Monaten tot. Er ist im Wald gestorben.«

Romina eilte zum Tisch. Mit flinken Händen suchte sie nach etwas in den herumliegenden Dokumenten, bis sie ein Bild aus einem Umschlag zog. »Ist das hier Sammy?«

Sie hielt ihr das Foto hin.

Naomi griff danach. Die Aufnahme zeigte Sammy von vorn in einem Restaurant. Seine stahlblauen Augen blitzten ihr entgegen. Sein rotes Haar leuchtete kupfern im Neonlicht. Niemals würde sie sein Gesicht vergessen. Naomi schaffte es nicht zu antworten und nickte nur zustimmend. Das war Sammy. Eindeutig.

»Und du bist sicher, dass er wirklich tot war und nicht nur verletzt?«, fragte Iker.

Naomi überlegte. Sie selbst war verletzt gewesen, schockiert über Kais Tod und durcheinander, weil Roman sie entdeckt hatte. Später war sie ohnmächtig zusammengebrochen. Hatte Roman überprüft, ob Sammy noch geatmet hatte? War er verletzt zurückgeblieben? Konnte das möglich sein?

»Er hat ihm einen kräftigen Ast in den Leib gestoßen. Zwei Mal sogar. Für mich sah er tot aus. Wie hätte er das auch überleben können?«

»Vielleicht fand ihn jemand aus seinem Clan. Möglich wäre es.« Romina strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Außer ...«

Iker riss die Augen auf. »Außer er verfügt über sieben Leben!«

Leandra sprang auf die Beine. »Du hast aber nicht ...«

»Spinnst du?«, unterbrach sie Naomi und stemmte die Hände in die Hüften. »Wie kommst du denn darauf? Er war für mich ein Freund und nichts weiter.«

Ihre Großmutter sah zu Boden. »Ich dachte ja nur. Du hast einiges verheimlicht, und vielleicht hast du dich nicht getraut, mir davon zu erzählen.«

Iker schüttelte den Kopf. »Katie hat sich noch nicht verwandelt und sonst gibt es nach unseren Unterlagen niemanden mehr, der noch in Frage käme.«

»Dann hat Roman ihn wirklich nur schwer verletzt.« Naomi zweifelte zwar daran, aber ihr fiel keine andere Erklärung ein. »Und was bedeutet eigentlich, du warst bei Sammys Unfall dabei? Hast du ihn getötet?«, fragte Naomi und wandte sich Romina zu.

»Darüber möchte ich nicht sprechen«, wich Romina aus.

»Und warum hast du im Wald diesen Thursfield am Leben gelassen?«, wollte Naomi wissen.

»Er ist der Einzige, der die Kontakte zu den Mitgliedern in den Staaten pflegt. Wenn ich ihn getötet hätte, wäre diese Verbindung abgebrochen. Das konnte ich nicht riskieren. Walter wird die meiste Zeit überwacht und vielleicht führt er uns zu Mitgliedern, über die wir noch keine Informationen haben.« Romina sah zu Iker. »Ich weiß, du hättest es gutgeheißen, wenn ich ihn vernichtet hätte. Aber lebend ist er weit nützlicher.«

Iker brummte und runzelte die Stirn. »Wenn du dich da mal nicht irrst.«

»Iker. Romina erwähnte vorhin, du hättest etwas belauscht«, wechselte Naomi das Thema. »Was war das?«

Er wich ihrem Blick aus und nickte, was wohl ein Zeichen für Romina sein sollte, denn sie nahm Naomi in den Arm und begleitete sie zurück zur Tafel.

»Es fällt mir nicht leicht, dir das zu sagen. Aber es geht um Roman«, begann sie vorsichtig.

Naomi zuckte zusammen. »Was ist mit ihm?«, flüsterte sie mit Panik in ihrer Stimme.

»Dass es Schläfer gibt, haben wir dir bereits gesagt. Iker hörte vor einigen Wochen eine junge Frau am Flughafen. Offensichtlich wird sie unter Druck gesetzt. Sie spielte im Kopf einige Szenarien durch. Was passieren würde, wenn sie Sammy ignorieren und nicht nach Maine fliegen würde, um Roman für sich zu gewinnen. Ob Sammy tatsächlich in der Lage wäre, ihren Vater zu töten.« Romina zeigte auf ein Feld, das mit Pilar und einem Fragezeichen dahinter beschriftet war. »Iker blieb in ihrer Nähe, bis er wusste, wohin sie gehen würde. Pilar flog zu Sammy und Roman. Deshalb bin ich nach unserem Treffen im Wald direkt von London nach Maine geflogen, um zu erfahren, was dort vor sich ging. Das war der Grund, warum ich nicht bei euch bleiben konnte.«

»Ich will endlich wissen, was hier los ist«, schrie Naomi. »Raus mit der Sprache! Geht es Roman gut?«

Romina seufzte. »Er ist spurlos verschwunden. Auch von Pilar gibt es keine Spur.«

Naomi spürte Tränen aufsteigen. Ihr Blick verschwamm. Romina führte sie zu einem Drehsessel, und sie setzte sich widerstandslos hin. Roman. Verschwunden. Mit einer anderen Frau. Einem Mitglied des feindlichen Clans. Sie schlug sich die Hände vor das Gesicht und schluchzte, bevor sie hemmungslos in Tränen ausbrach.

»Wir finden ihn. Versprochen.« Romina strich ihr über das Haar. »Jeden Tag erwarte ich eine Nachricht aus Stillwater. Irgendjemand dort muss etwas wissen. Ein Freund hält die Augen offen. Bald wissen wir mehr.«

»Wer ist diese Pilar?«, fragte Naomi und wischte sich die Tränen von der Wange.

Iker trat auf sie zu. »Außer ihrem Vornamen wissen wir nichts von ihr. In Stillwater arbeitete sie in einem spanischen Bistro. Allerdings kennt niemand ihren Familiennamen.«

»Bertram. Er muss es wissen. Schickt jemanden zu Romans Onkel.« Naomi stellte sich Roman mit einer anderen Frau vor. Mit Pilar. Wenn sie auch nicht wusste, wie Pilar aussah, so schnitt ihr die Vorstellung, er könnte sich in eine andere Frau verlieben, ins Herz. Alles in ihr weigerte sich zu glauben, sie könnte Roman verlieren. Noch schlimmer wog der Gedanke, dass Sammy dahinter steckte. Sammy würde sich noch aus dem Grab an ihr rächen. Sie musste Roman finden. Doch wo zum Teufel sollte sie anfangen, nach ihm zu suchen?

 

*

 

Naomi stieg die Stufen des Doppeldecker-Touristenbusses hoch, wartete und überließ Leandra, die hinter ihr kam, den Außenplatz. Seitdem sie erfahren hatte, dass Roman verschwunden war, kreisten ihre Gedanken nur noch um ihn.

Obwohl es warm war, fröstelte Naomi. Sie knöpfte ihre Jeansjacke zu und wickelte sich ein Tuch um den Hals.

Karsten lachte hinter ihr. »Wie kannst du bei fünfundzwanzig Grad frieren? Das müssen die Hormone sein.«

Emotionslos zuckte sie die Schultern und sah in den Himmel über ihr. Die Sterne konnte sie aufgrund der hell erleuchteten Gebäude nicht sehen. Nur der zunehmende Halbmond prangte am Firmament und erinnerte sie daran, dass es in drei Tagen wieder so weit wäre. Die Vorfreude darauf, diese Nächte mit Romina verbringen zu können, war verflogen. Wozu sollte das alles noch gut sein? Warum sollte sie trainieren, wo sie nur nach Roman suchen wollte? Auch wenn Romina meinte, jeden Moment Nachricht aus Stillwater zu erhalten, so handelte es sich dabei um nichts weiter, als einen kläglichen Versuch sie zu beruhigen.

»Ist das nicht toll! Eine Busfahrt durch die Nacht«, jauchzte Alice. »Diese Busse ohne Dach sind einfach eine geniale Erfindung!«

Leandra drehte sich zu Alice um. »So kann sogar ich eine Stadttour genießen. Man sitzt schön hoch, sieht alles und die Füße tun mir anschließend auch nicht weh.«

Naomi registrierte den warnenden Seitenblick, den ihr ihre Großmutter zuwarf. Sie zwang sich zu einem Lächeln und drehte sich zu Karsten und Alice um. Alice kuschelte sich an Karstens Seite und lächelte zufrieden. »Sorry, dass es mir ausgerechnet heute nicht besonders gut geht. Aber vielleicht hilft mir ja die frische Luft etwas. Die Tour macht mit Sicherheit Spaß!«

Alice drückte ihr die Schulter. »Und ob. Barcelona bei Nacht ist einfach der absolute Oberhammer.«

Sie nickte. Karsten sah sie lange an. Er merkte offenbar, dass sie etwas anderes beschäftigte. Zimperlich kannte er sie nicht, selbst bei ihren Sportverletzungen biss sie die Zähne zusammen und nörgelte nicht herum. Wie sollte sie nur die kommenden Stunden hinter sich bringen?

Leandra kam ihr zu Hilfe. »Schwangere Frauen sind manchmal etwas schwermütig.«

»Du meinst launisch, oder?«, scherzte Karsten. »Das kommt Naomi gerade recht. Dadurch hat sie eine perfekte Ausrede fürs Schmollen, wenn es mal nicht nach ihrem Dickkopf geht.«

»Dann lass mich mal besser in Frieden, sonst ...« Die Durchsage zur Abfahrt schnitt Naomi das Wort ab. Die Sorge um Roman trieb sie in den Wahnsinn. Karsten wusste von nichts und konnte auch nichts dafür. Für diesen Abend musste sie sich zusammennehmen und den Gedanken an ihre Angst verdrängen.

Der Bus fuhr los und sie verließen die Plaza Catalunya. Naomi schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln. Ihr war bewusst, dass Alice ihr nun bis ins kleinste Detail jedes Gebäude erklären würde. Mit geschlossenen Augen hielt sie ihr Gesicht in den Fahrtwind.

Karsten sprang plötzlich auf und fiel durch den Schwung auf Naomi, die vor ihm saß. »Das gibt´s doch gar nicht!«

»Mensch Karsten. Lass den Quatsch!«, rief Naomi aus. »Wenn du mich zu Tode erschreckst, wird meine Laune bestimmt nicht besser.«

»Tut mir leid, aber ich dachte, ich hätte eben ...« Karsten drehte sich unbeholfen um und blickte die Straße entlang.

»Willst du, dass sie uns rausschmeißen?« Alice saß mit aufgerissenen Augen auf ihrem Platz und zog Karsten am T-Shirt. »Setz dich hin.«

»Aber ...«, setzte Karsten nach und kassierte dafür einen finsteren Blick von Alice.

Naomi schüttelte den Kopf. »Was ist denn los?«

»Vermutlich gar nichts. Es kann ja auch gar nicht sein.« Karsten ließ sich auf seinen Platz plumpsen. »Vergiss es.«

Leandra bestaunte die historischen Gebäude. Alice stützte sich auf ihre Rückenlehne und erklärte jedes Haus, das sie kannte.

Die Museen der spanischen Künstler stellten durch ihre Bauweise meist selbst schon ein Kunstwerk für sich dar. Naomi nickte geistesabwesend, während Leandra zuhörte und nachfragte. Einzig, als sie bei der La Sagrada Familia vorbeifuhren, hob sie den Kopf. Bei diesem imposanten Bau handelte es sich um das verrückteste, ausgefallenste Gebäude, das Naomi jemals gesehen hatte. Acht hohe und unzählige niedrige Türme ragten wie emporgereckte Finger in den Himmel. Je näher sie der Kirche kamen, desto gewaltiger und eindrucksvoller wirkte sie.

Sie drehte den Kopf, um das Eingangsportal besser erkennen zu können und blickte direkt in Karstens Augen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er sie an. »Was ist denn?«, fragte sie ihn.

Kopfschüttelnd wandte er sich ab.

»Nachher, okay? Lass uns nachher reden«, schlug Naomi vor. Sie kannte Karsten lange genug, um zu wissen, dass er ihr etwas sagen wollte und nicht wusste, wie er damit beginnen sollte. Worum es sich auch handeln mochte, sie würde es aus ihm herausbekommen.

Die Tour ging weiter und Leandra zeigte mit dem Finger auf ein Gebäude. »Wie sieht denn das aus?«

Alice lachte lauthals los. »Ja, ich weiß. Es sieht aus wie ein riesiger Dildo. Wunderschön, nicht?«

Naomi folgte Leandras Blick. Ein einhundertfünfzig Meter großer, blau und rot beleuchteter Vibrator ragte vor ihnen in den Nachthimmel. Das Gebäude glich mehr einem erigierten Penis, als einem Hochhaus. Anstatt einen dummen Spruch zu diesem Bau zu klopfen, starrte Karsten sie wieder nur wortlos an.

Sie warf Karsten einen eindeutigen Blick zu, beugte sich zu ihm und meinte: »Was auch immer es ist, spuck´s aus.«

»Auch wenn ich mir nicht sicher bin?«, fragte Karsten.

Naomi nickte.

»Auf der Plaza Catalunya habe ich jemanden gesehen, der aussah wie Roman. Er ging gerade an unserem Bus vorbei und marschierte weiter in die Rambla. Ich könnte schwören, dass er es war.« Karsten biss sich auf die Unterlippe und legte die Stirn in Falten. »Ich sehe schon. Ich hätte die Klappe halten sollen.«

Naomi saß wie versteinert auf ihrem Sitz und starrte Karsten ungläubig an. Roman? In Barcelona? Sie benötigte eine Weile, bis sie begriff, dass Roman tatsächlich in unmittelbarer Nähe sein könnte. Karsten hatte ihn gesehen und geschwiegen. Was hätte Karsten auch sagen sollen? Sie hatte ihm erklärt, mit Roman habe es nicht funktioniert. Wie hätte Karsten ahnen können, wie wichtig es für sie war zu wissen, wo Roman steckte?

Plötzlich kam Leben in Naomi. »Ich muss zurück. Sofort!« Ihre Augen suchten nach einem Ausgang. Sie musste aus diesem Bus raus und ein Taxi finden. Ohne ein weiteres Wort stürmte sie die Treppe zum Fahrer hinunter und bat ihn sofort anzuhalten.

Der Fahrer schüttelte bedauernd den Kopf. Er dürfe hier nicht halten. Naomi sah ihn an, presste sich die Hand vor den Mund und tat so, als müsse sie sich jeden Moment in seinem Bus übergeben. Keine Sekunde später hielt der Busfahrer, öffnete die Türen und Naomi rannte ins Freie.

Von unten rief sie Leandra zu. »Wir sehen uns im Hotel! Karsten wird dir alles erzählen.«

 

Warum musste jede einzelne Ampel in dieser Stadt auf Rot stehen? Naomi fluchte leise, als der Taxifahrer den Wagen erneut stoppte. Wie lange mochte es her sein, dass Roman in die Fußgängerzone eingebogen war? Fünfzehn Minuten? Zwanzig? Die Chance ihn auf dieser breiten und langen Straße überhaupt zu finden, war gleich Null. Ein unbestimmtes Gefühl verriet ihr, dass Karsten tatsächlich Roman gesehen hatte. Allerdings fand sie keine Erklärung dafür, was er in Barcelona suchte. Naomi wartete nicht, bis der Fahrer den Zähler ausschaltete. Sie warf ihm einen Zwanzigeuroschein auf den Beifahrersitz und flüchtete aus dem Fahrzeug. Die Zeit auf das Wechselgeld zu warten, war ihr zu kostbar. Einen kurzen Augenblick wusste sie nicht genau, wo sie sich auf dieser großen Plaza befand, bis sie das Kaufhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkannte. Die Fußgängerzone lag rechter Hand. Mit eiligen Schritten überquerte sie den Platz, bis sie endlich das nördliche Ende der La Rambla erreichte. Ihre Schritte verlangsamten sich. Wie sollte sie Roman zwischen den unzähligen Menschen finden? Sie ging in der Straßenmitte und ihr Blick schweifte von links nach rechts.

Ärgerlich über sich selbst, zückte sie das Telefon, um Karsten anzurufen. »Was hatte Roman an?«, brüllte sie in den Hörer. Die Antwort enttäuschte sie. »Mist!« Er wusste es nicht.

Naomi drehte sich nach jedem Mann um, der von hinten auch nur annähernd Roman ähnelte. Die jungen Männer lächelten sie freundlich an, bis sie Naomis zusammengepresste Lippen sahen. Dann wandten sie den Blick ab und eilten kommentarlos weiter.

Nach zwanzig Minuten stand Naomi am südlichen Ende vor der Kolumbussäule. Keine Spur von Roman. Enttäuscht ließ sie sich auf eine Parkbank fallen. So leicht wollte sie nicht aufgeben. Möglicherweise war er nur in einem der Geschäfte gewesen. Mit einem Satz sprang sie auf und entschloss sich, die Straße erneut nach ihm abzusuchen. Dieses Mal in entgegengesetzter Richtung.

Nach drei Stunden musste sie sich eingestehen, dass sie ihn nicht finden würde. Die Fußgängerzone leerte sich mit jeder Stunde mehr, und nachdem sie mehrmals die ganze Straße abgegangen war und Roman immer noch nirgends entdeckt hatte, gab sie auf.

Müde und frustriert kehrte sie in die Pension zurück. Dort warteten in der Eingangshalle Karsten, Alice und Leandra auf sie.

»Endlich kommst du«, flüsterte Leandra. »Wir haben dich mehrfach angerufen, aber du bist nicht rangegangen.«

Naomi zog ihr Handy aus der Tasche. Fünf verpasste Anrufe. »Auf der Straße muss es zu laut gewesen sein. Ich habe es wirklich nicht gehört.«

»Und?«, frage Alice.

Naomi schüttelte den Kopf. »Nichts.«

»Vielleicht habe ich mich auch geirrt«, meinte Karsten. »Vielleicht sah der Typ ihm nur ähnlich. Was sollte Roman auch in Barcelona machen?«

Pilar kam aus Barcelona, vielleicht waren sie zusammen hier. Das könnte ein Grund sein. Doch den behielt Naomi besser für sich. »Ich weiß es nicht. Aber ich spüre, dass er hier ist.«

Leandra stand auf, ging auf sie zu und nahm sie in die Arme. »Kindchen, vielleicht täuscht dich dein Gefühl auch, weil du es dir so sehr wünschst«, flüsterte sie ihr ins Ohr.

Mit einem Seufzen löste sie sich aus der Umarmung. »Tut mir leid, dass ich euch den Abend verdorben habe. Wie war die restliche Fahrt?«

»Wir sind an der nächsten Haltestelle ausgestiegen und zurück in die Pension, um auf dich zu warten. Karsten hat dich zwar gesucht, aber bei so vielen Menschen auf der Straße ...« Leandra setzte sich wieder auf das Sofa. »Sollen wir noch etwas trinken gehen?«

»Ich nicht.« Naomi rieb sich die Augen. »Ich bin erledigt und geh ins Bett. Aber geht ihr ruhig noch los.«

»Wir müssen morgen früh zur Uni. Besser, wir gehen auch. Sehen wir uns morgen Abend?« Karsten legte Naomi die Hand auf die Schulter.

»Klar. Ich ruf euch an, okay?« Naomi drückte Karsten und Alice ein Küsschen auf die Wange und ging zum Fahrstuhl. »Oma, kommst du?«

Leandra verabschiedete sich von den beiden und folgte ihr.

Im Zimmer ließ sich Naomi rückwärts auf das Bett fallen. »Ich muss Roman finden. Ich muss wissen, warum er hier in Barcelona ist.«

»Vor allem sollten wir Romina darüber informieren«, sagte Leandra. »Dann kann sie die Suche in Stillwater einstellen.«

Naomi lachte freudlos. Sie griff in ihre Hosentasche, um ihr Handy herauszuziehen. »Hast du ihre Nummer?« Sie sah sich die verpassten Anrufe an.

»Wir haben doch tatsächlich vergessen, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen.«

Naomi blätterte die verpassten Anrufe durch. »Mama hat wieder angerufen.« Sie stöhnte auf. »Wie soll ich nur diesen Anruf hinter mich bringen?«

»Wenn du sie nicht endlich zurückrufst, versucht sie es nur weiter und wird sauer, weil du dich nicht meldest.« Leandra setzte sich zu ihr aufs Bett. »Du kannst das Gespräch ja kurz halten. Sag einfach Hallo und dann gibst du sie an mich weiter.«

Naomi drückte die Rückruftaste. Ihre Mutter ging beim zweiten Klingeln dran. »Hallo Mama.«

»Das wurde auch Zeit. Warum rufst du eigentlich nie zurück?« Lunas Stimme klang vorwurfsvoll.

»Mach ich doch gerade. Oder nicht?« Naomi biss sich auf die Unterlippe.

»Seit vorgestern versuche ich, dich zu erreichen.«

»Wir waren eben viel unterwegs, und nach zehn Stunden Sightseeing fallen wir nur noch tot ins Bett. Was gibt´s denn so Dringendes?«

»Dieser Roman stand vor unserer Tür. Er wollte dich sprechen.«

Naomi glaubte, nicht richtig zu hören. »Wer?«

»Ich rede vom Vater deines Kindes. Er hieß doch Roman, oder?« Luna seufzte. »Der ist ja mal eine Nummer. Soviel steht fest.«

Sie schluckte. Roman sollte in Deutschland gewesen sein? Bei ihr zu Hause? Unmöglich. Das musste ein Trick sein. Vom feindlichen Clan. Naomi spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Ihre Mutter war in Gefahr. »Das kann nicht sein, Mama. Er weiß nicht, wo wir wohnen. Wie sah er aus?«

»Sag mal, was ist denn mit dir los? Wer sollte es denn sonst gewesen sein?«

Naomi sah ihre Mutter vor sich. Vermutlich hielt sie gerade den Telefonhörer von sich und starrte darauf, als könne sie so Naomi sehen. Das tat sie immer, wenn sie verwirrt oder verärgert war. »Mama. Was wollte er?«

»Na, mit dir reden. Mich wollte er jedenfalls nicht besuchen. Er wird es schon gewesen sein. Ein junger Kerl, dunkles Haar, markantes Gesicht, eine kräftige Nase, so um die Einsachtzig, und ein bisschen komisch ist er auch. Kein Wunder hat es mit euch nicht geklappt. Er behauptete allen Ernstes, er hätte einen Blackout und wolle deswegen mit dir sprechen. Er sagte noch was von einem Onkel mit einem Haus am See. Na ja, ich habe ihm jedenfalls nicht verraten, wo genau du steckst. Er weiß zwar, dass du in Barcelona bist, aber ich wusste nicht, ob es dir recht ist, wenn ich ihm sage, in welchem Hotel du wohnst. Wobei ich das gar nicht so genau weiß. Du wolltest mir noch die Adresse durchgeben.« Luna holte tief Luft. »Er hat dir einen Brief da gelassen. Irgendwie tut mir dieser merkwürdige Kerl leid. Er wusste nicht einmal mehr, wie du aussiehst. Als ich ihm ein Foto von dir gezeigt habe, brachte ihn das völlig aus der Fassung. Würdest du ab und zu ans Telefon gehen, dann hätte ich dich fragen können, was ich machen soll, aber so?«

»Hast du seine Telefonnummer?« Naomis Herz pochte laut in ihren Ohren. Es war niemand vom Clan. Ihre Mutter befand sich nicht in Gefahr. Roman suchte nach ihr. Aber warum? Sie musste einen Fehler begangen haben.

»Er hat noch kein Telefon. Sein altes hat er in den Staaten gelassen. Aber er hat die Nummer von hier. Wenn er sich nochmals meldet, soll ich ihm dann deine Telefonnummer geben?«

»Ja, Mama, bitte.« Naomis Hände zitterten. Sie schaffte es nicht, jetzt über ihren Aufenthalt in Barcelona zu sprechen. Mit einem flehenden Blick zu ihrer Großmutter sprach sie weiter. »Mama. Oma will mit dir reden. Machs gut, ja? Und sag Bescheid, wenn du von Roman hörst.« Sie drückte Leandra das Telefon in die Hand.

Nachdenklich sah sie in den nachtschwarzen Hinterhof hinaus. Roman hatte sie gefunden. Eigentlich hätte er gar nicht nach ihr suchen dürfen. Was war nur schiefgelaufen? Einerseits fühlte sie sich erleichtert, dass niemand von Neophars Clan bei ihrer Mutter aufgekreuzt war, anderseits machte sie sich nun Sorgen um Roman. Er wusste von ihr und suchte sie. Nicht, dass er in Stillwater wirklich sicher gewesen wäre, aber wenn er ihr nachspürte, brächte er sich in weit größere Gefahr. Warum hatte der Kuss nicht funktioniert? Naomi fand dafür keine Erklärung.

 

*

 

Roman ging ein letztes Mal die La Rambla entlang. Seit zwei Tagen suchte er schon erfolglos nach Naomi. Die komplette Altstadt könnte er im Schlaf abgehen. Jede Gasse, jede Straße und in der Fußgängerzone kannte er jeden Laden, jeden Stand, jeden Straßenkünstler. Es waren einfach zu viele Menschen unterwegs. Wie sollte er Naomi da finden?

Er wusste, Pilar würde sich um ihn sorgen, weil er sich nicht bei ihr meldete. Wenn er ein spanisches Handy besäße, wäre vieles leichter. Daran hätte er früher denken sollen. Doch so konnte er nicht einfach anrufen. Auf ihrem Display hätte Pilar genau gesehen, wo er sich aufhielte. Ob vor zwei Tagen in Deutschland oder jetzt in Barcelona. Er wäre in Erklärungsnot gekommen.

Diese Nacht wollte er noch in seinem angemieteten Zimmer verbringen, dann war es Zeit, reinen Tisch zu machen. Pilar verdiente nicht, dass er sie belog. Und er wollte sich auch nicht mehr vor ihr verstecken müssen. Sobald er alles geklärt hätte, würde er sich besser fühlen.

Seine Füße schmerzten, obwohl er Turnschuhe trug. Die letzten Tage war er stundenlang ohne Unterbrechung durch die Straßen gewandert. Für heute hatte er genug. Auch wenn es noch früh am Abend war. Er wollte sich nur noch den Straßenschmutz abwaschen und sich ausruhen. Nachdem er Naomi bisher nicht gefunden hatte, warum sollte er ausgerechnet heute auf sie stoßen? Besser er legte sich hin, um morgen das Gespräch mit Pilar ausgeruht hinter sich bringen zu können. Vermutlich würde ihn Pilar danach auf die Straße setzen. Er an ihrer Stelle würde das tun.

Er bog in die Gasse ein, die ihn ins La Ribera Viertel brachte, betrat das kleine Hotel und schlurfte die Stufen hoch in den zweiten Stock. Sein Magen knurrte, doch er fühlte sich erschöpft und beschloss, seinen Hunger zu verdrängen. Nach einer heißen Dusche streckte er sich auf dem Bett aus, betrachtete das Foto, das ihm Naomis Mutter mitgegeben hatte, und schlief mit der Fotografie in der Hand ein.