Neunzehn

 

Naomi fühlte sich unwohl. In ihren Ohren rauschte es, auch war ihr mal mehr, mal weniger übel. Seit der Verwandlung hatte sie das Gefühl, besser riechen zu können. Manche Gerüche drängten sich geradezu penetrant auf. Hatte sie früher bei fettigen Gerüchen sofort Hunger auf eine Pizza oder einen Hamburger mit Pommes Frites bekommen, verschlug ihr dieser Geruch nun den Appetit. Die süßen Pflanzengerüche störten sie besonders. Es genügte schon, wenn eine Mitstudentin ein blumiges Parfum benutzte. Nach wenigen Augenblicken musste sie sich im Hörsaal einen anderen Platz suchen, damit ihr nicht die Luft wegblieb.

Den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, zog Naomi ein T-Shirt aus dem Schrank und hielt es vor sich hin.

»Naomi, es geht mich zwar nichts an - aber, hast du mit Roman geschlafen?«, fragte ihre Großmutter.

»Oma!« Naomi lachte. »Ich bin doch kein Baby mehr und außerdem weiß ich, was Verhütung ist. Du wolltest doch unbedingt wissen, ob sich seither etwas in meiner Wahrnehmung verändert hat. Jetzt erzähle ich dir extra jedes noch so kleine Detail, und du denkst sofort, ich wäre schwanger!«

»Das hört sich eben genauso an.« Leandra räusperte sich. »Aber vielleicht stellen sich bei dir jetzt auch irgendwelche Hormone um.«

»Das wird sich bald einpendeln, und dann bin ich wieder das Pizza vernichtende Monster, dem du Vorträge über Ernährung halten kannst.« Naomi sah auf die Uhr. »Omi, ich muss los. Roman holt mich gleich ab, und ich stehe hier immer noch in Unterwäsche herum.«

Naomi zog sich das T-Shirt über den Kopf und schlüpfte in Jeans und Turnschuhe. Ständig machte sich Leandra Sorgen um sie. Zuerst hatte sie gedrängt, sie wolle erfahren, wie es ihr genau ginge und jetzt sollte sie auch noch schwanger sein. Oma kam auf Gedanken. Sie schüttelte den Kopf. Roman und sie hatten verhütet. Eine Schwangerschaft war ausgeschlossen. In Zukunft würde sie Leandra nicht mehr alles ausführlich erzählen. Wenigstens hatte sie ihr nicht von Sammy und seinem Clan erzählt. Ihre Großmutter würde vor Sorge durchdrehen. Sammy war immer noch verschwunden. Kai strich den ganzen Tag durch die Gegend, auf der Suche nach ihm. Sie selbst hielt ebenfalls die Augen offen, wenn sie nicht gerade in einer Vorlesung saß oder auf dem Sportplatz trainierte. Sammy war weg. Und das war gut so. Somit musste sie sich keine Sorgen um Roman machen, und Kai konnte seine guten Ratschläge für sich behalten. Sie ließ sich nicht dazu drängen, Roman einfach wegen eines vagen Verdachts zu verlassen. Dafür gab es keinen Grund. Sie verstand, dass Kai wütend auf Sammy war, aber irgendwann würde er hoffentlich nur noch um Cassidy trauern.

Naomi griff nach dem Kalender. In drei Tagen war Vollmond. Verwundert runzelte sie die Stirn. Sie griff erneut nach dem Kalender. Blätterte die einzelnen Seiten hin und her. Mist. Wenn ihre Großmutter jetzt noch erführe, dass sich ihre Periode verspätete, würde sie sich im Recht fühlen. Sie musste es ja nicht erfahren. Das kannte sie von ihren Wettkampfphasen. Der psychische Stress und die innere Anspannung wirkten sich immer auf ihren Körper aus. Als die Aufnahmeprüfung an der Uni anstand, war ihre Regel auch ausgeblieben und hatte erst mit zwei Wochen Verspätung eingesetzt. Kein Grund zur Sorge. Immerhin waren die letzten Wochen alles andere als normal verlaufen. Aber auch das würde sich wieder normalisieren. Seitdem Sammy verschwunden war, fühlte sie sich viel entspannter und konnte die Zeit mit Roman endlich genießen. Sie musste nur noch eine gute Erklärung finden, warum sie die kommenden Vollmondnächte nicht mit ihm verbringen konnte. Vielleicht könnte sie Kai vorschieben. Sie könnte behaupten, sie würden gemeinsam an Cassidys Unfallstelle fahren und in diesem Nationalpark übernachten. Der Vollmond fiel auf den Wochenanfang, und Roman musste an der Uni Kurse geben. Er könnte also nicht mitkommen. Da sie das Wochenende bei seinem Onkel Bertram am See verbringen wollten, konnte Roman nichts dagegen haben, wenn sie anschließend für zwei Nächte abtauchte. Naomi stopfte ihre Kosmetikartikel und ihre Klamotten in die Reisetasche und machte sich auf den Weg.

 

*

 

»Schade, dass das Wochenende vorbei ist«, seufzte Naomi. Es waren die schönsten zwei Tage ihres Lebens gewesen. Hand in Hand waren sie am Ufer entlangspaziert. Roman hatte sie über den See gerudert. Abends hatten sie den Sonnenuntergang genossen und zugesehen, wie die Sterne am Nachthimmel erschienen. In flauschige Decken gehüllt, mit einer heißen Tasse Tee, draußen gesessen, bis sie die Spannung zwischen sich nicht mehr ertrugen und sich im Schlafzimmer liebten, als gäbe es kein Morgen.

Naomi verabschiedete sich von Bertram mit einem Küsschen auf die Wange. Bevor sie abfuhren, ging Naomi nochmals zum See, der in der Sonne glitzerte. Die Bäume trugen Knospen, und bald würden die Blätter ein schattiges Dach für den Sommer bilden. Naomi drehte sich zu Roman. »Versprich mir, dass wir im Herbst für ein paar Tage herkommen. Ich möchte den berühmten Indian Summer an diesem See erleben.«

Roman drückte sie an sich. »Versprochen.« Er strich ihr die Haare aus dem Nacken und küsste sie. Ein wohliger Schauer durchlief sie.

 

*

 

»Ich melde mich von unterwegs. Spätestens am Mittwoch bin ich wieder hier.« Naomi winkte ihm nochmals zum Abschied zu.

Roman nickte. »Wenn du mich nicht anrufst, komme ich dich holen. Und deine Überraschung kannst du vergessen.«

»Welche Überraschung?«, fragte Naomi und ging auf ihn zu.

Roman zuckte nur mit den Schultern und nickte in Richtung Haustür. »Geh schon. Dann bist du schneller wieder hier.«

Naomi kuschelte sich kurz in Romans Arme, bevor sie ihn küsste und die Wohnung verließ. Das schlechte Gewissen machte ihr zu schaffen. Roman wollte sie mit etwas überraschen, und sie belog ihn. Es hatte ihn nicht überrascht, dass sie mit Kai zur Unfallstelle fahren wollte. Er spürte wohl, dass sie seit der Nacht im Wald etwas Besonderes verband. Er vertraute ihr. Das hatte er gesagt. Und was tat sie?

Nachdenklich betrat sie den Drugstore. Sie musste dringend Duschgel und Shampoo besorgen. Beides stand noch im Badezimmer von Bertrams Gästezimmer. Sie hatte vergessen es einzupacken.

Als sie an den Regalen entlangging, entdeckte sie Kondome. Sie wählte verschiedene Sorten aus und warf sie in den Korb. Ihr erster Kondomkauf. Es war ihr fast so peinlich, wie damals, als sie ihre ersten Tampons gekauft hatte. Lächelnd verließ sie den Gang. Aus dem Augenwinkel sah sie die Schwangerschaftstests. Ihre Periode hatte immer noch nicht eingesetzt, und die Worte ihrer Großmutter hallten mahnend in ihren Ohren nach. Sie nahm eine Packung, las die Beschreibung auf der Rückseite und dachte sich, was soll´s. Dann weiß ich es mit absoluter Gewissheit und denke nicht mehr darüber nach. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie den Inhalt des Einkaufskorbs auf das Band legte. Shampoo, Duschgel, Kondome und ein Schwangerschaftstest. Der Kassierer zog eine Augenbraue nach oben, verkniff sich aber einen Kommentar, wofür ihm Naomi dankbar war.

Eine Stunde später legte Naomi den Jogginganzug heraus und die Turnschuhe dazu. Den Haustürschlüssel würde sie dieses Mal bei der Ulme ablegen, um ihn wiederzufinden. Sie durfte ihn nicht nochmals verlieren. Sie sah auf die Uhr. Viertel nach fünf. Um sieben träfe sie sich mit Kai am Wald. Für den Weg dorthin würde sie eine knappe halbe Stunde benötigen. Ausreichend Zeit für eine Tasse Kaffee und eine Dusche.

Im Badezimmer sah sie die Packung mit dem Test. Das konnte sie auch gleich erledigen. Auf der Beschreibung hatte sie gelesen, der Test sei zuverlässiger, wenn sie ihn gleich morgens benutzte, aber sie war sich sicher, dass er auch so funktionieren würde. Naomi pinkelte auf den Streifen, stieg in die Dusche und drehte das Wasser auf.