Zehn

 

Naomi schaltete einen Gang zurück und drosselte das Tempo. Sie sah zu Alice. »Wie? Du hast mit Sammy Schluss gemacht? Warum?«

Alice nickte. »Hm. Gar nicht so leicht zu erklären. Er ist irgendwie ... komisch.«

»Was meinst du mit komisch?« Naomi fuhr langsam weiter. Sie hatte sich immer noch nicht an den Pick-up gewöhnt.

»Zum Beispiel hätte er mir nie seinen Wagen geliehen. Schon gar nicht, um ausgerechnet Karsten zum Flughafen zu bringen.« Alice sah auf ihre Fingernägel.

»Er ist eifersüchtig. Kein Wunder, so wie Karsten mit dir geflirtet hat.«

»Das ist es ja eben. Sammy hat nie mit mir geflirtet. Zumindest nicht so wie Karsten.« Alice sah starr auf die Straße. »Das hat mir irgendwie gefehlt. Auch kam er mir immer abwesend vor, wenn wir alleine waren. Offensichtlich redet er nicht gerne.«

Naomi ging der Oldiesender auf die Nerven. Sie suchte im Radio einen Sender der Rock oder wenigstens Popmusik spielte. »Nicht jeder hat so eine Riesenklappe wie Karsten.«

»Komm, lass mich suchen.« Alice schob Naomis Hand vom Radio zurück ans Lenkrad und drückte auf die Sendeknöpfe, bis rockige Musik aus den Lautsprechern dröhnte. »Das alleine ist es auch nicht. Sammy und ich, wir sind einfach zu verschieden.«

»Und nach einem Treffen weißt du, dass du mit Karsten mehr Gemeinsamkeiten hast?«

Alice nickte. »Er ist witzig. Darum habe ich auch einige Vorlesungen geschwänzt, um mich mit ihm zu treffen. Ich mag ihn, und du hattest wegen dieser Prüfung in amerikanischer Sportgeschichte ja keine Zeit für ihn.« Sie drehte die Lautstärke herunter.

»Und das erfahre ich erst jetzt? Karsten hat gar nichts erzählt.«

»Wir waren gestern den ganzen Tag zusammen unterwegs. Haben uns toll unterhalten und auch ein bisschen geflirtet.« Alice lächelte. »Karsten kennt dich eben. Du hättest ihm Vorhaltungen gemacht, weil ich geschwänzt habe. Schade, dass er schon wieder nach Barcelona musste.«

Naomi grinste. »Als ob ich deine Mutter wäre? So schlimm bin ich nun auch wieder nicht. Vielleicht kannst du ihn ja besuchen«, schlug Naomi vor. Mit Sicherheit hätte sie Alice dazu gedrängt, die Vorlesungen zu besuchen. Es war ihr Ehrgeiz. Sie schüttelte leicht den Kopf. Was für sie selbst wichtig war, musste nicht gleichzeitig auch für Alice wichtig sein.

»Vielleicht mache ich das auch.« Alice sah zu Naomi. »In den Semesterferien.«

Naomis Handy klingelte. Alice nahm es aus der Mittelkonsole und warf einen Blick darauf. »Sammy.«

»Du machst Schluss, und ich darf ihn trösten.« Naomi verdrehte die Augen. »Herzlichen Dank auch!«

Sie überquerten die Brücke des Stillwater Rivers. Wenig später stellte Naomi den Wagen auf dem Parkplatz des Unigeländes ab. Wie mit Roman vereinbart, deponierte sie den Autoschlüssel auf dem rechten Hinterrad des Pick-ups und zückte ihr Handy. »Erst melde ich mich bei Roman zurück, und dann habe ich die große Ehre, mich um Sammy und sein gebrochenes Herz zu kümmern.« Alice klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter, bevor sie sich umdrehte und in Richtung ihrer Studentenbude schlenderte.

 

Naomi ging mit nassem Haar und nur mit einem Bademantel bekleidet zur Haustür. Der Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie entweder unerwarteten Besuch erhielt, oder Roman zu früh hier war. Auf jeden Fall war sie noch nicht fertig. Sie öffnete die Tür einen Spalt. Sammy. Was wollte der denn hier? Sie hatte ihn für den nächsten Mittag in die Mensa zum Mittagessen eingeladen.

Sammy deutete ihren Gesichtsausdruck richtig. »Oh, ich störe.« Er ging einen Schritt zurück. »Ich ... äh, sorry, wir sehen uns ja morgen.«

»Ist schon gut, Sammy. Eine Tasse Kaffee geht immer. Solange es dir nichts ausmacht, dass ich mich nebenbei fertig mache. Roman holt mich in einer halben Stunde ab.« Begleitet von einer einladenden Handbewegung, öffnete Naomi die Tür.

Sammy zögerte einen Moment, bevor sich seine Miene aufhellte und er eintrat. »Ehrlich? Was habt ihr denn vor?«

»Wir machen einen Tagesausflug nach Bucksports.« Naomi ging in die Küche voraus, wo sie sich und Sammy einen Kaffee einschenkte, der gerade durch die Maschine gegurgelt war. »Hier. Was treibt dich her?«

Sammy pustete in die Tasse. »Ich bin völlig durch den Wind. Alice hat einfach mit mir Schluss gemacht, und ich weiß überhaupt nicht, was ich ihr getan habe. Plötzlich will sie mich nicht mehr sehen. Auf meine Anrufe reagiert sie auch nicht. Weißt du, was los ist?« Er schielte über die Tasse.

Naomi seufzte. Was sollte sie ihm sagen? Alice hatte eine Entscheidung getroffen, und Sammy würde es akzeptieren müssen, ob es ihm gefiel oder nicht. Aber ihm das ins Gesicht sagen? Nein. »Vielleicht wurde es ihr einfach zu eng. So neben dem Studium her. Lass ihr Zeit zum Nachdenken und bedränge sie nicht. Damit erreichst du höchstens das Gegenteil.«

Sammy ließ sich auf das zugeklappte Schlafsofa fallen. »Hat sie einen Anderen?«

Naomi war auf dem Weg ins Badezimmer und drehte ihm den Rücken zu. Immerhin konnte er so ihr Gesicht nicht sehen, als ihr spontan Karsten einfiel. Das ging weder sie noch Sammy etwas an. »Nur, weil sie mit dir Schluss gemacht hat, bedeutet das noch lange nicht, dass sie jemand Anderen kennen gelernt hat. Warum denkt ihr Kerle eigentlich immer, dass ein anderer Mann hinter jeder Entscheidung stecken muss?« Sie lehnte die Badezimmertür an, um sich unbeobachtet anziehen zu können.

»Hörst du mich durch die Tür?«

»Ja.« Naomi schlüpfte in ihre Jeans.

»Es ist nur, dass es meistens so ist. Und du bist dir sicher?«, fragte er nach.

Sicher war nur, dass Sammy mit seiner Frage einen Volltreffer gelandet hatte und Alices Entscheidung tatsächlich mit einem anderen Typen zusammenhing. Mit Karsten. Doch das sollte Sammy nicht unbedingt erfahren. Ansonsten würde er nur ihr die Schuld für die Trennung geben. Mit der Bürste in der Hand ging sie zurück ins Wohnzimmer. »Weißt du, ihr Kerle seid echt eingebildet. Als ob die Welt stehen bliebe, wenn eine Frau ohne Mann durchs Leben geht. Bisher bin ich bestens ohne festen Freund ausgekommen.«

»Aber jetzt hast du einen«, warf Sammy ein. »Und das, obwohl du mir gesagt hast, du hättest dafür gar keine Zeit.«

»Habe ich auch nicht.« Naomi strich sich mit heftigen Bewegungen durchs nasse Haar. Die Bürste verfing sich in den zerzausten Strähnen. »Einerseits ist es toll, einen festen Freund zu haben, andererseits verursacht es zusätzlichen Stress. Das sieht man schon daran, dass ich mit Roman verabredet und noch nicht fertig bin. Trainiert habe ich heute auch nicht, und morgen steht ein schriftlicher Test an, auf den ich mich nicht vorbereitet habe. Also muss ich die Nacht durchbüffeln. Außerdem würde ich mich gerne mit dir unterhalten, weil du meine Unterstützung verdienst. Und trotzdem muss ich dich jetzt rauswerfen und auf morgen Mittag vertrösten, weil ich mich fertig machen muss.« Sie zuckte mit den Schultern. »Tut mir echt Leid, das mit Alice. Aber, lass sie besser eine Weile in Ruhe. Vielleicht merkt sie dann, dass du ihr fehlst.« Naomi ging die Notlüge leicht über die Lippen. Sie freute sich auf einen schönen Tag mit Roman und wollte Sammy in diesem Moment einfach nur schnell loswerden. Roman hatte vorgeschlagen, nach Bucksports zu fahren, dort spazieren zu gehen und sich gemeinsam die kleine Stadt anzusehen. Naomi konnte es kaum erwarten, endlich etwas vom Land zu sehen und mit Roman alleine zu sein.

Sammy stand auf, drückte ihr die leere Tasse in die Hand und ging zur Tür. »Danke für den Kaffee. Ich hätte nicht so hereinplatzen sollen. Wir sehen uns morgen.«

Kaum war Sammy verschwunden, pfiff Naomi ein Liebeslied vor sich hin, während sie den Fön in die Steckdose steckte und sich die Haare trocknete.

 

*

 

Bucksports war ein kleines Nest mit historischem Stadtkern. Die Kolonialhäuser sahen aus, als seien sie mit Zuckerguss überzogen. Hand in Hand schlenderten Naomi und Roman durch die Straßen. Stadtauswärts blieben sie am Penobscot River stehen und betrachteten die Narrows Bridge, die ein imposantes Konstrukt aus alter und neuer Brücke war. Naomi sah nach oben. »Wie hoch sind denn die Türme?« Auf der Brücke ragten zwei Aussichtstürme in die Höhe. Rechts und links davon waren Stahlseile verankert, die zur Brücke hinabführten. »Knapp 130 Meter. Wollen wir hoch? Der Ausblick ist unglaublich.«

»Dann komme ich ja doch noch zu meinem Training.« Naomi sah zu Roman, der sich ausschüttete vor Lachen. »Was ist so witzig?«

»Wir gehen doch nicht zu Fuß, sondern fahren mit dem Aufzug hoch.« Er lachte immer noch. »Hast du geglaubt, dass es über eine Treppe nach oben geht?« Roman blickte sie liebevoll an. »Wenn man hier Eintritt zahlen müsste, um dann die Stufen nach oben zu klettern, wären wir mit Sicherheit die Einzigen dort oben.« Naomi grinste. Roman nahm sie in die Arme. »Das wäre zwar schön«, sagte er und hob ihr Gesicht an, um sie zu küssen. »Aber so viel Glück haben wir nicht.«

Der Fahrstuhl brauchte für den Weg nach oben knapp eine Minute. Außer ihnen fuhr nur noch ein junger Mann mit dunklem Haar nach oben. Er mochte Anfang Dreißig sein. Während der Aufzug sich die Stockwerke nach oben fraß, starrte der Mann auf einen imaginären Punkt über Naomis Schulter. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Sie meinte, ihn vorher in der Stadt gesehen zu haben. Vielleicht auch schon auf dem Campus? Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als sich die Türen öffneten und sie eine verglaste Aussichtsetage betraten. Der Fremde schob sich an ihnen vorbei. Naomi hielt sich an Roman fest. Ihr war plötzlich schwindelig. In solcher Höhe war sie noch nie gewesen. Die Glasfronten vermittelten ihr das Gefühl, auf einer Plattform zu stehen und mit einem weiteren Schritt in den Abgrund hinabzustürzen. Sie krallte ihre Finger in seinen Oberarm.

»Hast du Höhenangst?« Roman hielt sie fest.

Sie schüttelte den Kopf. »Im Flugzeug war alles in Ordnung.« Das Gefühl, jeden Moment fallen zu können, ließ nach.

»Ich hab dich. Dir kann nichts passieren«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Naomi ließ sich von ihm bis ans Fenster schieben. Roman stand direkt hinter ihr, die Arme fest um sie geschlungen. Sie holte tief Luft. Ihre Augen suchten nach einem Punkt, an dem sich ihr Blick festhalten konnte. Der gegenüberliegende Turm und Romans Anwesenheit ließen sie ruhiger atmen. »Gib mir eine Minute. Es geht schon wieder.«

Naomi blieb reglos stehen. Das Schwindelgefühl verflog. Sie lehnte sich an Romans Brust und entspannte sich. Ihr Blick schweifte vom Turm ab, zum Penobscot River, der im Sonnenlicht glitzerte. Die Autos, die auf der Brücke entlang krochen, glichen einem Strom bunter Ameisen.

»Das dort unten ist Fort Knox.« Roman zeigte nach Norden. »Siehst du die Festung?«

Naomi nickte. »Die Regierung bunkert all ihr Gold in diesem alten Fort? Es sieht eher aus, als würde jeden Moment die Kavallerie aus diesen Toren reiten.« Sie drückte Romans Hand und genoss die Aussicht auf die weitläufige Ebene, die wie ein grüner Teppich unter ihr lag.

»Das Gold liegt nicht hier, sondern irgendwo in Kentucky. Das Fort hat nur den gleichen Namen. Henry Knox war irgendein hohes Tier im Bürgerkrieg. Aber so genau weiß ich das auch nicht.« Roman küsste sie auf den Hals. Ein wohliger Schauer durchlief ihren Körper. »Wenn du magst, können wir es uns ansehen. Allerdings schaffen wir das heute nicht mehr. Bis wir unten sind, hat es geschlossen.«

»Macht nichts.« Sie hatte längst das Interesse am Fort verloren. Ihr Magen knurrte. »Dann gehen wir jetzt eben etwas essen.« Naomi drehte sich um.

Ihr Blick blieb auf dem Gesicht des Fremden mit den dunklen Haaren heften, der sie offensichtlich die ganze Zeit über beobachtet hatte. Sie hielt dem Blick stand. Freundliche Augen, eine zu kleine Nase, ein kräftiges Kinn und langes Haar. Eigentlich ein sympathisches Gesicht. Der Fremde war schlank und sogar kleiner als sie. Trotzdem stellten sich ihre Nackenhaare auf. Wäre Roman nicht bei ihr, hätte sie instinktiv die Flucht ergriffen.

 

Roman steuerte den Wagen über den Penobscot River, am Fort Knox Park vorbei und ließ den Ort hinter sich.

Naomi sah sich neugierig um. »Wohin fahren wir?«

»Das ist mein Geheimnis. Wart´s ab. Es ist nicht weit.« Mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht fuhr er weiter die Interstate 1 in Richtung Süden.

Die Straße schlängelte sich durch den Wald und musste am Fluss entlang führen, auch wenn Naomi ihn durch die Bäume nicht sehen konnte. Sie entfernten sich immer weiter vom Ort. Die Dämmerung brach herein. »Nun sag schon. Spann mich nicht so auf die Folter!«

Roman lächelte und fuhr ohne Antwort weiter. Naomi entdeckte ein Hinweisschild. Zwei Kilometer bis Sandy Point. Bevor sie den Ort erreichten, verlangsamte Roman die Geschwindigkeit und bog in einen kleinen Seitenweg ein. Die Straße war mehr ein Feldweg, als eine asphaltierte Straße. Naomi rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. Der Pick-up holperte über Schlaglöcher hinweg tiefer in den Wald hinein. Naomi fragte sich gerade, ob Roman sich verfahren hatte, als sie einen Parkplatz erreichten und er den Motor abstellte.

»Wir sind da.« Roman verließ das Fahrzeug, ging um den Wagen und öffnete die Beifahrertür.

Naomi saß mit gerunzelter Stirn im Wagen. Hier gab es nichts. Kein Haus, kein Restaurant, einfach nichts. Zögernd nahm sie Romans angebotene Hand und stieg aus.

Roman strahlte sie an. »Jetzt komm schon.«

Naomi ging neben ihm den gewundenen Pfad entlang. Sie fragte sich immer noch, was sie hier wollten, als vor ihr eine Landzunge auftauchte. Dort thronte ein beeindruckendes Gebäude.

Roman beschleunigte seine Schritte. »Los, beeil dich!« Er ging um das Haus herum, zog sie regelrecht mit sich.

Naomi blieb mit offenem Mund stehen. Vor ihr lag der Ozean. Sie erinnerte sich an ein Gespräch mit Roman. Naomi hatte nebenbei erwähnt, dass sie sich danach sehne, den Atlantik zu sehen. Nun stand sie hier auf einem Rasenstück und konnte es kaum glauben.

Roman sah sie mit zur Seite geneigtem Kopf an. »Das Essen hier ist scheußlich, aber ich esse auch einen Hotdog, nur um hier auf dieser Terrasse zu sitzen und den Sonnenuntergang zu sehen.«

»Das ist ... du bist ...« Naomi schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wie, du magst keine Hotdogs?«, zog er sie auf. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, die die Brise sofort wieder quer über ihre Stirn blies.

Naomi war überwältigt. Sie ging einige Schritte auf die Brandung zu, die laut gegen die Felsen donnerte. Der Wind umspielte ihr Haar und trieb ihr die Gischt ins Gesicht. Sie schloss die Augen und sog die salzige Luft ein.

Roman ging auf eine Kellnerin zu und wechselte einige Worte mit ihr. Anschließend führte er Naomi an einen Tisch am äußeren Rand der Terrasse mit freiem Blick auf den Atlantik. Die Bäume hinter ihr hielten den Wind ab.

Im Minutentakt änderte das Meer seine Farbe. Zu Beginn war es noch azurblau gewesen. Während sie ein Club-Sandwich mit Pommes Frites verdrückten, ging der Farbton in ein pastelliges flieder-blaugrau über. Zum Nachtisch, einem angebrannten Apfelkuchen, verwandelte sich die Wasseroberfläche in kaltes Feuer, bis die Wellen sich wenig später nachtschwarz an den Felsen brachen. Nur noch der Horizont brannte, bevor auch die Flammen am Himmel ihre Kraft verloren und verloschen.

Naomi nahm einen Schluck Kaffee und seufzte. »Wirklich einmalig. Die Sonnenuntergänge, die ich in Hamburg gesehen habe, sind dagegen eine schlechte Kopie.« Außer ihnen waren keine weiteren Gäste auf der Terrasse. Ihr Blick schweifte vom Meer zum Restauranteingang. Für einen kurzen Moment dachte Naomi, sie hätte einen dunklen Haarschopf an der Hausecke gesehen. Das Gesicht hatte sie so schnell nicht erkennen können. Trotzdem hätte sie schwören können, dass es sich um den Fremden aus dem Fahrstuhl handelte. Die Stirn in Falten gelegt, starrte sie weiter auf die Hausecke, doch es tauchte kein Haarschopf mehr auf.

Roman räusperte sich. »Ich muss dich was fragen.«

Sie sah mit immer noch verwirrtem Blick zu ihm und nickte.

»Ende des Monats ist ein Fest.« Er beugte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. »Von der Uni aus. Es werden alle Professoren, Stadträte und hohen Tiere da sein.«

Naomi runzelte die Stirn. Sie hatte davon gehört. Auf dem Campus war davon gesprochen worden, doch hatte sie sich nicht weiter dafür interessiert, da es keine Studentenfeier war, sondern in irgendeinem tollen Hotel stattfinden sollte.

»Ich sollte da auch auftauchen«, sprach er weiter. »Und, ich würde gerne mit dir hingehen.«

Naomi riss die Augen auf. »Mit mir?«

Roman legte seine Hand über die ihre. »Ja. Aber nur, wenn es für dich in Ordnung ist. Damit wüssten alle, dass wir ein Paar sind. Das sind wir doch, oder?«

Naomi schluckte trocken. Als Roman ihr gesagt hatte, wo er mit ihr hinfahren wollte, war sie im ersten Moment enttäuscht gewesen, weil es ihr so vorkam, als wolle er ihre Beziehung geheim halten. Erst die Fahrten zu seinem Onkel an den See, dann das Planetarium; immer waren sie alleine gewesen, ohne dass jemand sie hätte sehen können. Bei den Essen im Ort waren sie nie nur zu zweit gewesen, sondern immer in Begleitung von Sammy und Alice, oder zuletzt auch mit Karsten. Sie hatte es Roman nicht übel genommen, doch einen kleinen Stich hatten ihr die heimlichen Treffen doch versetzt. Wenn es auch romantisch war, sich an verschwiegenen Orten zu treffen und Roman ganz für sich zu haben.

»Du musst nicht«, riss Roman sie aus ihren Gedanken. »Ich kann verstehen, wenn es dir zu schnell geht. Es wird Gerede geben. Und du wirst dir einiges anhören müssen. Selbst wenn du in keinem meiner Kurse bist.«

»Das ist es nicht. Ich bin nur überrascht. Damit habe ich einfach nicht gerechnet.« Sie sah nachdenklich den Wellen zu, die geräuschvoll an die Felsen klatschten. »Mir kam es bisher so vor, als wolltest du mich verstecken.«

»Verstecken?« Roman rückte näher an sie heran. »Nein, so war das nicht. Ich wollte es nur langsam angehen lassen. Obwohl sowieso schon vermutet wird, dass wir zusammen ausgehen. Mit einem gemeinsamen Auftritt auf dem Fest wäre es offiziell. Kein Getuschel mehr auf den Gängen, wenn ich in den Vorlesungssaal gehe.«

Naomi verzog ihren Mund zu einem schiefen Lächeln. »Es wird also über uns getuschelt, ja? Dann wollen wir den Klatschmäulern mal ausreichend Stoff liefern!« Sie beugte sich über den Tisch und küsste Roman. »Ich muss nicht darüber nachdenken. Ich begleite dich sehr gerne. Wann ist das genau?«