Fünfzehn

 

Naomi ging in Kais Wohnzimmer auf und ab. Ihr ganzer Körper schmerzte, sie war müde und hatte keine Ahnung, wie es nun weitergehen sollte.

»Hier.« Kai streckte ihr eine Tasse Kaffee hin. »Soll ich dich danach nach Hause fahren?«

Naomi ging ans Fenster und sah hinaus. Es versprach, ein schöner Frühlingstag zu werden. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den Himmel, der bereits azurblau schimmerte. »Und dann? Wie erkläre ich mein Verschwinden? Die Kratzer und blauen Flecke?«

»Du kannst gerne noch hier bleiben. Aber irgendwann musst du mit Roman reden.« Kai setzte sich auf das Sofa.

»Was würdest du tun?« Naomi drehte sich zu ihm um. »Was würdest du sagen?«

Kai atmete hörbar aus. Er sah auf den Boden und schien zu überlegen. Naomi nickte. Er wusste es also auch nicht. Sie schob die Ausreden hin und her. Ein wichtiger Hilferuf einer Freundin? Das wäre eine Möglichkeit, wenn sie außer Alice noch eine Freundin hätte. Außerdem lag ihr Handy im Studio. Ein Unfall? Eine akute Blinddarmentzündung? Ein plötzliches Koma? Dann läge sie im Krankenhaus. Eine Panikattake? Amnesie?

»Hast du einen Internetanschluss? Ich muss etwas nachsehen.« Gab es vielleicht eine zeitlich begrenzte Amnesie, die sich mit Panik ankündigte? Damit könnte sie ihr Verschwinden begründen. Sie könnte erklären, sie sei in verwirrtem Zustand in den Wald gelaufen, bis Kai sie am darauf folgenden Morgen entdeckt hätte. Damit wären die Kratzer und Flecken erklärt. Da sie sich nicht erinnern konnte, wo sie gewesen war und warum sie an einem Waldrand in Stillwater aufgefunden worden war, sei sie bei ihm geblieben, bis die Erinnerung endlich zurückgekommen war.

Ohne zu fragen, was sie vorhatte, öffnete Kai einen Schrank, zog seinen Laptop heraus und schloss ihn an. Naomi wartete ungeduldig, bis die Internetverbindung stand und der Browser sich öffnete. In die Suchmaske gab sie das Wort Amnesie ein. Naomi klickte von Seite zu Seite, bis sie zufrieden nickte. Hier stand: eine transiente globale Amnesie sei eine vorübergehende Amnesie, die Gedächtnisverlust, Orientierungsstörungen und Verwirrtheit hervorrufe. Selbst die Erinnerung an vorangegangene Ereignisse sei davon betroffen. Das war perfekt!

Kai beugte sich über sie und sah ihr über die Schulter. »Nach was suchst du denn?«

Naomi las auf deutschen Internetseiten. Sie übersetzte und erklärte ihm grob ihren Plan. »Das könnte doch funktionieren, oder?«

Kai legte die Stirn in Falten. »Könnte sein. Aber, er wird dich zum Arzt schleppen.«

Naomi lächelte. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich mich schleppen lasse? Ich werde mir seinen Wagen leihen, nach Bangor fahren und so tun, als sei ich beim Arzt. Der konnte nur leider nicht das Geringste finden. Ein einmaliger Anfall. Fertig.« Naomi trank ihren Kaffee leer, stellte die Tasse neben den Laptop und stand auf. »Ich bin so weit. Du kannst mich nun heimfahren.«

 

Kai stellte den Wagen direkt vor dem Hauseingang ab. Bis auf drei Studenten, die Naomi nicht kannte, war niemand zu sehen. Trotzdem wartete sie, bis auch die kleine Truppe verschwunden war. Sie wollte neugierige Blicke vermeiden, die sie unweigerlich auf sich gezogen hätte, wäre sie barfuß aus dem Auto gestiegen. Trotz Sonnenschein waren die Temperaturen immer noch zu kalt, um ohne Schuhe auf die Straße zu gehen. Tagsüber wärmte die Sonne zwar, und man konnte ohne Jacke unterwegs sein, aber es war noch lange kein T-Shirt-Wetter.

Bevor sie die Tür öffnete, atmete sie tief durch. Sie ängstigte sich vor dem, was nun folgte. »Zeit zu gehen. Danke für alles.« Sie stieg aus, beugte sich zu Kai in den Wagen und nickte. »Ich melde mich bei dir, sobald ich mit Roman gesprochen habe.« Sie hielt den Zettel mit seiner Telefonnummer in der Hand. »Dann möchte ich aber auch deine Geschichte erfahren.«

Kai schwieg.

Naomi schloss die Tür und verharrte einen Moment. Nun musste sie bei der Hausverwaltung den Schlüssel für ihr Studio besorgen. Ihr eigener war samt den Schminkutensilien in ihrer Handtasche, und die lag irgendwo im Wald. Sie straffte die Schultern. Das Klingeln der Türglocke klang aufdringlich laut. Naomi verzog das Gesicht. Das Fenster im Erdgeschoss öffnete sich. Die Hausverwalterin streckte den Kopf heraus. »Ach, du bist es. Das wurde aber auch Zeit. Seit zwei Tagen klingelt es ununterbrochen an deiner Tür. Hast du keinen Schlüssel?«

Naomi schüttelte den Kopf. »Den habe ich irgendwo verloren. Wer wollte denn zu mir?« Der Türöffner summte. Naomi drückte gegen die Haustür. Für einen Moment stand sie verlegen im Treppenhaus. Die Wohnungstür ging auf. »Ich war über das Wochenende bei einer Bekannten.«

Die Hausverwalterin zog die Augenbrauen hoch, als ihr Blick auf ihre nackten Füße fiel. Sie sagte nichts. Vermutlich hatte sie in diesem Wohnheim schon merkwürdigere Dinge gesehen. Sie hielt ihr den Schlüssel hin. »Da du die Schlüssel verloren hast, müssen wir spätestens morgen das Schloss austauschen. Ich kümmere mich darum. Die Rechnung schiebe ich dir unter der Tür durch.«

»Danke.« Naomi nahm den Schlüssel entgegen. Auf dem Weg nach oben nahm sie zwei Stufen auf einmal. Sie schlüpfte in ihr Studio, schloss leise die Tür und ging in die Küche. Sie war durstig. Ihr Zeh stieß gegen eine Scherbe. Die Kaffeetasse. Sie lag immer noch zerbrochen auf den Fliesen. Die Rose welkte in der leeren Wasserflasche vor sich hin. Naomi ging zu ihrem Bett, kroch darauf und brach in Tränen aus. Alles hätte so schön werden können. Warum hatte es ausgerechnet an jenem Abend geschehen müssen?

Trotz ihrer rotgeweinten Augen entdeckte sie Papiere, die offenbar unter der Tür durchgeschoben worden waren. Beim Öffnen der Tür musste der Luftzug die Zettel gegen die Wand geweht haben. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen fort. Sie stand auf, holte sich die Papiere und las.

Eine Nachricht war von Alice. Ruf mich an, es ist dringend! Wo zum Henker steckst du nur?

Zwei weitere waren von Roman. Auf einem Zettel stand: Warum bist du ohne ein Wort verschwunden? Ruf mich bitte an. Auf dem anderen: Ich mache mir Sorgen um dich! Melde dich, sobald du kannst, ja? Dein Handy liegt im Apartment und keiner weiß, wo du steckst. Ich liebe dich, Roman. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Ich liebe dich auch, dachte sie. Trotzdem muss ich dich belügen.

Naomi kontrollierte ihr Handy. Es zeigte neun Anrufe in Abwesenheit an. Vier Anrufe von Roman; der letzte am Abend ihres Verschwindens. Nachdem sie nicht ans Telefon gegangen war, musste Roman vom Hotel aus zu ihr gefahren sein. Beim letzten Anruf stand er vermutlich direkt vor ihrer Tür. So hatte er durch das Klingeln gehört, dass ihr Telefon im Zimmer lag. Zwei Anrufe waren von Alice. Einer von Karsten. Zwei von ihrer Großmutter. Die Nachrichten ähnelten sich. Alle wollten wissen, wo sie steckte, warum sie nicht zurückrief, und erklärten, dass sie sich Sorgen machten. Leandra hatte angedroht, ihre Koffer zu packen und herüberzufliegen, sollte sich Naomi nicht endlich bei ihr melden.

Leandra.

Ihr konnte sie wenigstens die Wahrheit sagen. Leandra musste wissen, warum sie sich nicht meldete. Der Vollmond am Himmel hatte es ihr mit Sicherheit verraten. Karsten wäre schnell beruhigt und Alice ebenso. Keiner von beiden hatte Romans Telefonnummer. Sie musste nur behaupten, sie hätte das Wochenende bei Roman verbracht.

Bevor sie sich die Rückrufe vornahm, kontrollierte sie noch den Anrufbeantworter des Festnetzanschlusses. Ihre Großmutter hatte ihn mit Nachrichten vollgesprochen, die niemand außer Naomi verstehen konnte. Vage Andeutungen gepaart mit einer verzweifelten Stimme. Sie griff zum Hörer.

Ihre Großmutter ging beim zweiten Klingeln an den Apparat. »Naomi? Endlich.« Ein Seufzer war zu hören.

»Oma. Ich bin in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.« Naomi wusste nicht recht, was sie sagen sollte. »Weiß Mama  ...?«

»Wo denkst du hin?«, erwiderte Leandra. »Moment.«

Zuerst raschelte es in der Leitung, im Anschluss polterte es im Hintergrund. »So, nun bin ich im Garten, und wir können reden. Ist auch wirklich alles in Ordnung? Deine Mutter hat dein Verschwinden überhaupt nicht bemerkt. Sag was, Kind. Geht es dir gut?«

Naomi wusste, dass ihre Großmutter auf der Bank im Garten saß. Dort ging sie schließlich immer hin, wenn sie nachdenken musste oder alleine sein wollte. Eine Welle der Zuneigung durchflutete sie. Wie gerne hätte sie in diesem Moment neben ihr auf der Holzbank gesessen, um ihr alles zu erzählen. Nur, um ihr ins Gesicht zu sehen, sie in den Arm zu nehmen und ihr mit festem Blick in die Augen zu versichern, sie käme mit dieser merkwürdigen Sache zurecht. Naomi räusperte sich. »Oma, du hattest Recht. Ich bin ... wie deine Mutter.«

Sie schaffte es nicht, ihr Wesen beim Namen zu nennen. Wie nannte man das überhaupt? Kai erzählte von einem Fluch, unterschiedlichen Clans und was früher geschehen war. Sie fand keinen Namen dafür. Oma hatte Katzenmensch dazu gesagt. Vielleicht traf es das noch am besten. Werwesen hörte sich so unheimlich und auch böse an.

Leandra riss sie aus ihren Grübeleien. »Du hast dich tatsächlich verwandelt?«, flüsterte sie kaum hörbar. »Wie Romina. Ich wusste es. Ich wusste es einfach.«

Naomi hörte den Kummer in ihrer Stimme. »Omi, mach dir bitte keine Sorgen. Es ist okay. Ich bin auch nicht alleine.«

Ihre Großmutter schnappte nach Luft. »Was? Du bist nicht alleine?«

Naomi erzählte ihr, was die letzten beiden Nächte geschehen war. Dass sie sich anfangs unwohl und eingesperrt gefühlt hatte; wie sie das Fest verlassen hatte, im Wald auf Kai getroffen war und was Kai ihr alles erzählt hatte. Als ihre Großmutter verlangte, sie solle sofort nach Hause kommen, beruhigte Naomi sie damit, dass sie noch vieles lernen müsse und Kai ihr eine große Hilfe sei. Sammys Auftauchen und seine Rolle in der ersten Nacht verschwieg sie. Ebensowenig erwähnte sie die Existenz des feindlichen Clans. Für Leandra war es sowieso schon schwierig genug zu begreifen, dass sie nicht nach Hause kommen wollte. Naomi versicherte ihr, sie würde zurückkommen, sobald sie sich sicher genug fühlte, um ohne Kais Hilfe mit ihrem neuen Wesen zurechtzukommen. Leandra verstand Naomi, wenn auch ungern. Sie hätte ihr gerne zur Seite gestanden. »Oma, was könntest du denn schon tun?«, fragte Naomi.

Darauf wusste Leandra keine Antwort.

Naomi fühlte sich erleichtert. Das Gespräch hatte ihr gut getan. Mit wem sonst hätte sie darüber sprechen können? Kai war außer Leandra der Einzige; doch stand er ihr nicht so nahe wie ihre Großmutter.

Naomi streifte durch ihr kleines Studio. Wie sollte sie das Telefonat mit Roman beginnen? Es war Montag, und eigentlich sollte sie in der Vorlesung für Sportjournalismus sitzen. Roman hielt sich vermutlich in seinem Forschungslabor auf oder gab einen Kurs. Konnte sie einfach jetzt anrufen? Um sich konzentrieren zu können, setzte sie Kaffee auf. Nachdenklich sah sie dem Wasser zu, das sich tropfenweise in dampfenden Kaffee verwandelte. Mit jedem Tropfen, der in die Kanne fiel, wurde ihr bewusster, dass sie den Anruf hinauszögerte. Nach einer Tasse Kaffee wäre nichts anders. Überhaupt nichts. Sie griff nach dem Handy, wählte Romans Nummer und wartete auf das Klingelzeichen.

Roman meldete sich sofort. »Gott sei Dank. Endlich. Naomi, was ist passiert?« Er presste die Worte regelrecht hervor. Naomi ging in der Wohnung auf und ab. »Kannst du herkommen?«, flüsterte sie.

»Ich bin in zehn Minuten bei dir.« Roman legte ohne einen weiteren Kommentar auf.

Zehn Minuten hatte er gesagt. Sie sah an sich hinunter. Barfuß und in Kais Jogginganzug wollte sie Roman nicht begegnen. Sie stürzte ins Badezimmer, riss sich die Kleidung vom Leib und drehte die Dusche auf. Sieben Minuten später steckte sie in ihren eigenen Joggingsachen, ein Handtuch um die Haare geschlungen und cremte sich ihr Gesicht ein. Als sie ihre Haare trockenrubbelte, klopfte es laut an ihrer Tür. Das Frotteetuch in der Hand, stürzte sie zum Eingang, öffnete die Tür und warf sich in Romans Arme. Unwillkürlich brach sie erneut in Tränen aus. Seine Wärme, die Art wie er sie festhielt, ließ sie aufschluchzen. »Ich ...«

Roman nahm sie hoch, trug sie in die Wohnung und gab der Tür mit dem rechten Fuß einen Tritt. Die Tür krachte ins Schloss. Auf dem Bett setzte er sie ab. »Was ist nur passiert?«

Naomi schniefte. Roman warf ihr nichts vor, er wirkte nur besorgt. Sie sehnte sich nach seiner Umarmung. Zu viel war passiert. »Halt mich einfach nur fest.« Roman drückte sie fest an sich und strich ihr zärtlich über den Rücken. Er sagte kein Wort. Naomi kuschelte sich an ihn. »Ich weiß es nicht«, murmelte sie. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Roman schob sie etwas von sich. Er sah ihr in die Augen. »Beruhige dich. Ist ja alles gut.«

Es war nicht gelogen. Sie wusste es tatsächlich nicht. Naomi musste sich überwinden, nicht mit der Wahrheit herauszuplatzen. »Ich hatte einen Black-out.«

Roman zog die Stirn in Falten. »Was meinst du?«

»Mir war doch schon so merkwürdig, als wir zu der Feier fuhren.« Naomi drehte den Kopf weg. Sie lehnte sich an seine Schulter. Diese Lüge konnte sie Roman nicht ins Gesicht sagen. »Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass mich ein Typ namens Kai am Waldrand gefunden hat. Ich wusste nicht mal mehr, wo ich war. Als dieser Kai mir sagte, ich sei in Stillwater, bin ich wohl vor Schreck ohnmächtig geworden. Es war schon hell. Ich habe keine Ahnung, wo ich die Nacht über war. Dieser Kai nahm mich mit zu sich nach Hause, weil er dachte, ich müsste mich ordentlich ausschlafen.«

Roman schwieg. Er wartete offenbar auf weitere Erklärungen.

Naomi sprach leise weiter. »Kai steckte mich in sein Bett, wo ich stundenlang geschlafen habe. Am Nachmittag wachte ich wieder auf. Wir rätselten beide, was wir tun sollten. Er wusste nicht, was er mit mir anfangen sollte  und wollte die Polizei anrufen. Das wollte ich nicht, und er hat meinen Wunsch respektiert. Ich wusste nicht, wohin ich hätte gehen sollen. So blieb ich. Ich zermarterte mir das Hirn, wie ich überhaupt an diesen Ort gekommen war. Ich konnte mich einfach nicht erinnern. Irgendwann bin ich erneut eingeschlafen.  Und heute Morgen war alles wieder da. Na ja, fast alles. Ich weiß noch, wie du mich abgeholt hast, dann fehlt das Stück bis Kai mich gefunden hat.«

»Hat dieser Kai dich nicht zum Arzt gebracht?« Roman schien verärgert zu sein. »Das wäre ja wohl das Mindeste gewesen!«

Naomi schüttelte verneinend den Kopf. »Das wollte ich nicht. Der hätte auch nur die Polizei verständigt. Mir fehlte ja bis auf ein paar Kratzer an den Beinen und die blauen Flecken nichts. Kai hätte mich zu einem Arzt gebracht, wenn ich meine Erinnerung heute Morgen nicht wiedererlangt hätte.«

»Du musst zum Arzt, Naomi. So ein Black-out ist nicht normal. Ich bin fast durchgedreht vor Angst. Ich habe dich überall gesucht. Weißt du, wo ich gerade war? Bei der Polizei. Um eine Vermisstenmeldung aufzugeben. Keiner wusste, wo du warst. Ich habe Alice getroffen. Auch sie wusste nichts. Deine Hauswirtin? Fehlanzeige. Du warst wie vom Erdboden verschluckt.« Romans Gesicht verriet seine Anspannung. Er biss so fest die Zähne zusammen, dass sich die Haut über seinen Wangenknochen spannte.

Erst jetzt bemerkte sie die dunklen Schatten unter seinen Augen. »Du warst bei der Polizei?«

Roman nickte. »Was hätte ich denn tun sollen? Abwarten?« Naomi griff nach seiner Hand. Sie fühlte sich richtig mies, weil sie Roman das angetan hatte. Sie hätte ihn anrufen müssen. Um was zu sagen?

»Nachdem du über dreißig Stunden verschwunden warst, wusste ich mir nicht mehr zu helfen.« Roman sackte in sich zusammen. »Der Beamte meinte nur, die meisten jungen Frauen verschwinden ab und zu für ein paar Stunden und tauchen später wieder auf. Genau in diesem Moment hast du angerufen. Der Mistkerl hat das Gespräch mit einem überheblichen Grinsen verfolgt und fragte mich nur, ob er es mir nicht gleich gesagt hätte. Am liebsten hätte ich ihm die Faust in dieses dämliche Gesicht geschlagen.«

»Es tut mir so Leid.« Naomi drückte Roman an sich.

»Du kannst ja nichts dafür.« Roman küsste sie zärtlich. »Ich bin so erleichtert, dass dir nichts geschehen ist. Aber du musst zum Arzt und zwar schnell.«

Naomi willigte ein. Sie erklärte, sie würde gleich am nächten Tag bei einem Neurologen einen Termin vereinbaren. Damit gab sich Roman zufrieden. Auf dem Bett eng aneinander gekuschelt gaben sie sich wortlos Trost für die vergangenen Stunden. Naomi war Roman dankbar für seine Reaktion. Er drängte sie zu nichts. Allerdings wollte er Kai kennen lernen. Naomi war sich sicher, dass Kai sich nicht versprechen und sich an die erfundene Geschichte halten würde. Es wäre gut, wenn Kai und Roman zusammenträfen. Immerhin waren beide wichtig für sie.

Naomi lag auf dem Bett, ein Hosenbein war hochgerutscht. Roman entdeckte die hässlichen Kratzspuren an ihren Waden, als er mit zwei Tassen Tee aus der Küche kam. Er stellte sie auf den Schreibtisch. »Die Wunden sollten eingecremt werden, damit sie nicht aufreißen.« Zärtlich fuhr er über die Kratzer. »Hast du Wund- und Heilsalbe da?«

Naomi nickte. »Im Badezimmer.«

Roman stand auf, ging ins Bad und kam mit der Cremetube zurück. Vorsichtig betupfte er die einzelnen Schürfwunden, verrieb langsam die Salbe und untersuchte jedes verschorfte Detail. Als er den Stoff höher schob, entdeckte er weitere Wunden über den Knien. »Es ginge einfacher, wenn du die Hosen ausziehen würdest.«

Naomi genierte sich plötzlich. Trotzdem hob sie den Hintern an, um die Hose nach unten zu schieben. Roman zog sie über ihre Füße und kümmerte sich weiter um die Wunden. »Tut es weh?«

Naomi schüttelte nur den Kopf, unfähig zu sprechen. Ihr ganzer Körper kribbelte. Sie genoss jede seiner Berührungen. Roman sah zu ihr auf, beugte sich über sie, streichelte ihr Gesicht und küsste sie. Erst behutsam, dann stürmischer. Nie gekannte Gefühle überwältigten Naomi. Sie ließ sich von der erwachten Leidenschaft mitreißen, verlor sich in ihr und überließ sich diesem Rausch der Liebe.