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Die Innenausstattung des kleinen Raumfahrzeugs war schlicht. Die enge, schlauchartige Kabine war mit Sitzreihen vollgepackt, die man behelfsmäßig aus Ausrüstungsgegenständen der Arche hergestellt und zwischen die ursprünglich vorgesehenen fünfundzwanzig Liegen gequetscht hatte. Vorn in der Nase, vor einer rudimentären Instrumentenkonsole und verschrammten Panoramafenstern, waren zwei Sitze etwas erhöht angeordnet. Wilson saß bereits auf dem linken Sitz und führte System-Checks durch, und Helen begab sich zum rechten Sitz. Er reichte ihr eine Snoopy-Funkhaube, und sie setzte sie auf.
Das Shuttle war im Grunde ein vollautomatischer Gleiter. Die charakteristischen Merkmale der Atmosphären- und Schwerkraftprofile der Erde III waren in seinen Bordcomputer einprogrammiert. Es war intelligent genug, um solch offenkundigen Hindernissen wie Ozeanen, Geröllfeldern und Schneewehen auszuweichen, und hätte sogar den gesamten Flug einschließlich der Landung eigenständig absolvieren können. Aber in den Konstruktionsbüros im verschwundenen Denver hatte man erkannt, dass die erste antriebslose Landung auf einer vollständig fremden Welt wahrscheinlich von Menschenhand durchgeführt werden musste. Ab ein paar Hundert Metern Höhe konnte Wilson also zeigen, was in ihm steckte; aus diesem Grund war der verachtete Zweiundsechzigjährige an Bord des Shuttles, während Helens Kinder an Bord der Arche geblieben waren. Helen wiederum war die einzige halbwegs brauchbare Copilotin auf der Arche. Aber sie war zuvor noch nie in einer Atmosphäre geflogen, nicht einmal als Passagierin, und sie betete, dass die rudimentären Fähigkeiten, die sie sich im Verlauf ihrer Ausbildung und bei der Zusammenarbeit mit Wilson in HeadSpace-Sims während des letzten Monats angeeignet hatte, nicht benötigt werden würden.
Während sie sich anschnallte, schaute sie über die Schulter nach hinten. Die Kinder waren gut eingepackt, ihre orangefarbenen Druckoveralls leuchteten. Die wenigen Jugendlichen, die Vierzehn- und Fünfzehnjährigen, verteilten sich zwischen den anderen. Die Zehnjährigen schienen Angst zu haben, aber die Kleinkinder schliefen größtenteils in dem warmen, summenden Shuttle. Helen sah die kleine Sapphire Murphy Baker, mit ihren vier Jahren die Jüngste an Bord; sie und ein Achtjähriger hielten sich an der Hand. Jeb saß ganz hinten, passte theoretisch auf die Kinder auf und war bereit, im Fall einer Krise einzugreifen. Als er Helens Blick auffing, winkte er ihr zu. Sie versuchte zu lächeln, aber die Traurigkeit in seinem Gesicht war unübersehbar.
So würden sie eine neue Welt besiedeln, mit einem Haufen Kinder, drei Erwachsenen, einem Laderaum, in dem sich ein Atomgenerator, Saatgut, Werkzeug und ein paar aufblasbare Wohnmodule befanden, und gebrochenen Herzen.
»Wir müssen wahnsinnig sein«, sagte Helen leise.
»Diejenigen, die uns ins All geschickt haben, waren wahnsinnig. « Wilson schaute zu ihr herüber. »Bist du bereit?«
»Bereiter geht’s nicht.«
Er legte einen Schalter um, einen schweren Handknebel. »So, das wär’s. Ich habe das automatische Programm gestartet. Jetzt wird dieses Baby eigenständig bis zum Boden hinunterfliegen, oder jedenfalls fast. Gleich geht’s los. Drei, zwei, eins …«
Verriegelungen lösten sich klappernd, und außen am Rumpf der Raumfähre lärmten Korrekturtriebwerke. Helen spürte ein Ziehen im Magen. Einige der schlafenden Kinder bewegten sich und jammerten leise.
»Wir haben uns von der Arche gelöst. Das war’s, wir fliegen solo. Gewöhn dich lieber an diese Beschleunigung, damit werden wir’s heute Morgen noch reichlich zu tun bekommen. «
»Solo jetzt und für den Rest unseres Lebens … wow.« Ein leichtes Schwindelgefühl befiel sie; die Innenohren sagten ihr, dass sie sich um die Längsachse drehten.
»Das ist die Inspektionsrolle. Damit Hawila überprüfen kann, ob die Kacheln des Hitzeschilds in den letzten vierzig Jahren nicht abgefallen sind.«
Venus Jennings Stimme kam knisternd aus einem Lautsprecher. »Shuttle B, Hawila. Alles klar für die Landung, Wilson.«
»Verstanden. Danke, Venus.«
Die Rotation hörte auf. Helen schaute aus dem Fenster. Sie befanden sich irgendwo über der Nachtseite des Planeten. Sie flogen rückwärts, die Köpfe zu den Sternen, und die neue Welt drehte sich unter ihnen weg, pechschwarz bis auf das purpurrote Auflodern von Unwettern und ein mürrisches rotes Glühen, das wie eine riesige Vulkan-Caldera aussah. Laut Plan sollten sie über der Nachthälfte des Planeten in die Atmosphäre eintreten, und ihre Eintrittsflugbahn sollte sie mit ausreichendem Schwung um die Krümmung der Welt herumtragen, so dass sie auf der ewigen Tagseite landen konnten.
Wilson schaute kurz nach hinten. » Alle gesund und munter? Als Nächstes kommt die Zündung der Bremsraketen. Wird sich wie ein Tritt in den Hintern anfühlen. Kein Grund zur Sorge. Drei, zwei, eins …«
Lärm erfüllte die Kabine, ein gedämpftes, knisterndes Brausen, wie ein gewaltiges Feuer. Es war wirklich ein Tritt in den Hintern, Helen spürte es im Kreuz, im Nacken und in den Beinen, als sie in die gepolsterte Liege gepresst wurde, und das Shuttle drehte sich, bis es auf dem Heck zu stehen und sie auf dem Rücken zu liegen schien. Das Bremsraketensystem war ein am hinteren Ende der Raumfähre angebrachtes Triebwerkspaket, das die Geschwindigkeit, die das Schiff im Orbit neben der Arche hielt, verringern und es in die Luft der Erde III fallen lassen sollte. Nach vierzigjährigem Schlaf hatte es nun für seine einzige Brennphase gezündet.
Wilson rief: »Drei, zwei, eins …«
Die Bremsraketen erloschen so abrupt, wie sie gezündet hatten, und Helen wurde nach vorn geschleudert. Jetzt waren weitere Kinder wach; nachdem das Brausen der Raketen verstummt war, hörte sie sie in der plötzlichen Stille weinen.
Ein weiteres Klappern und ein Knall, als wäre etwas gegen den Rumpf geklatscht. »Bremsraketen abgeworfen«, rief Wilson. »Einer der Riemen hat uns erwischt. Ich überprüfe die Brennphase. Neun Nullen auf drei Achsen, perfekt.« Er grinste, sah Helen; er genoss einfach den Flug. »Wir sind nicht mehr im Orbit, Baby. Wir sind auf dem Weg hinunter zur Erde III.«
Das Shuttle war jetzt antriebslos bis auf kleine Korrekturtriebwerke, und diese zündeten schubweise, eine Abfolge knallender und krachender Geräusche. Das Shuttle drehte sich um die senkrechte Achse, bis die Nase in Flugrichtung nach unten zeigte. Während dieses Manövers erhaschte Helen einen kurzen Blick auf die Arche, einem ramponierten, pockennarbigen Kegel mit der zusammengestoppelten Warp-Konstruktion an der Nase. Er sah ziemlich abgenutzt aus. Sie verrenkte sich den Hals, um der Arche zu folgen, als sie vor ihrem Fenster vorüberzog, aber sie war bald verschwunden, von der Drehung des Shuttles aus dem Blickfeld gefegt.
Nun hob das Shuttle die Nase, so dass es bäuchlings in die Tiefe sank. Seine Konstruktion beruhte auf der des alten Space Shuttles der NASA; der dicke Hitzeschild an seinem Bauch würde zuerst auf die Atmosphäre treffen.
»Genieß nochmal die Schwerelosigkeit«, sagte Wilson leise. »Damit ist jetzt bald vorbei.«
»Oder die Sterne«, sagte Helen. »Astronomie wird dort unten schwierig sein.«
»Wir finden schon einen Weg … Bingo.« An der Konsole vor ihm leuchtete ein neues Feld mit der Aufschrift »0,05 Ge« knallrot auf. »Jetzt kommt die Verzögerung. Verdammt, wir sind hoch oben, verglichen mit einem Eintritt in die Erdatmosphäre. Diese Luft ist dick.«
Sie spürte das erste Zupfen der Verzögerung in den Eingeweiden, eine Art Erschauern, als die ersten Ausläufer der Atmosphäre nach dem Rumpf griffen, und dann ein stetigeres Ziehen, das sie in ihren Sitz drückte. Draußen vor dem Fenster war jetzt ein schwacher Lichtschein, wie das erste Flimmern von Hawilas Bogenlampen am Schiffsmorgen. Es war die Luft der Erde III, der erste direkte Kontakt von Menschen mit dem Planeten, Luft, die zu Plasma erhitzt wurde, deren Atome sie im Vorbeiflug zertrümmerten. Der Lichtschein wurde rasch stärker und verwandelte sich in eine Art Tunnel aus Farben – Lavendeltöne, Blaugrün, Violett –, die über die Raumfähre emporstiegen. Funken flogen ums Schiff, loderten auf und erloschen flackernd.
»Isoliermaterial.« Wilson musste schreien; das Shuttle begann zu erzittern, die Einrichtung ratterte. »Es verbrennt und nimmt dabei unsere Hitze mit. Das soll so sein. Glaube ich.« Er grinste kalt. »Hübsche Lichter.«
Helen versuchte gar nicht erst, darauf zu antworten. Der Lichtschein draußen wurde immer stärker, und das auf ihr lastende Gewicht nahm plötzlich und ruckartig zu; es überstieg bestimmt schon die Erdschwerkraft. Sie hörte die Kinder weinen. Es wird besser, wird leichter werden, redete sie sich ein. Aber das Gewicht würde nicht mehr von ihren Schultern weichen, nie wieder. Sie würde unweigerlich landen, war an den Planeten gebunden, ohne eine Möglichkeit, jemals wieder zurückzukehren. Sie würde das Modul nie wiedersehen, würde nie wieder ihre Kinder im Arm halten, vielleicht nicht einmal mehr die Sterne sehen. Ihr Blick verschwamm, und zum ersten Mal an diesem Morgen kamen die Tränen. Aber das Gewicht nahm noch immer zu, das Licht draußen wurde noch intensiver, die Farben verschmolzen zu einer weißen Fläche, die die Kabine mit einem strahlenden silbergrauen Lichtschein erfüllte. Es war ein vollkommen unwirkliches Erlebnis. Sie sah nichts als dieses himmlische Licht, hatte nicht das Gefühl zu fallen, spürte nichts als dieses ungeheure, zitternde Gewicht.
Wilson stieß einen Jubelschrei aus. »Das nenne ich fliegen! Wir müssen diesen Scheiß-Planeten erleuchten wie ein Komet!«
Dann, ganz abrupt, ließ es nach. Das Gewicht lastete zwar immer noch schwer auf ihren Schultern, änderte sich aber nicht mehr. Der Plasmaschein verblasste, seine letzten Fetzen verflogen wie leuchtender Rauch und gaben den Blick auf einen blassen, rosafarbenen Himmel mit verstreuten bräunlichen Wolken frei.
Die Wolken waren über ihnen, stellte Helen fest.
Das Shuttle erzitterte. Wilson betätigte probehalber den Steuerknüppel. »Die Steuerflächen fassen. Dieses Ding fliegt tatsächlich. Meine Güte, ich glaube allmählich, wir könnten das überleben. « Er warf Helen einen Blick zu. » Wir sind in der Atmosphäre, verstehst du. Wir fallen nicht, wir gleiten, wir fliegen. Und dieses Ziehen, das du spürst, ist keine Verzögerung …«
»Schwerkraft.«
Er grinste. »Echte planetare Schwerkraft, die zum ersten Mal, seit du im Mutterleib warst, an deinen Knochen zieht.«
Es war nicht so schlimm wie bei der stärksten Verzögerung, aber Helen war immer noch so schwer, dass sie das Gefühl hatte, kaum Luft zu bekommen.
Ein Lautsprecher knisterte. »… Hawila. Shuttle B, Hawila. Hört ihr mich? Shuttle B, hier ist Hawila …«
Wilson legte einen Schalter um. »Wir sind aus der Plasmahülle heraus. Mein Gott, Venus, was für ein Ritt!«
»Wir haben euch gesehen. Wir sehen euch sogar immer noch. Ich lasse dich jetzt mal deinen Vogel fliegen. Sagt uns Bescheid, wenn eure Gleitkufen auf dem Boden aufgesetzt haben. Hawila out.«
»Verstanden. Mal sehen, was wir hier haben.« Wilson drückte den Steuerknüppel nach vorn, und die Nase der Raumfähre senkte sich.
Die Welt kippte nach oben und zeigte sich Helen zum ersten Mal unverhüllt. Das Land unter ihr war dunkel. Sie befanden sich immer noch so hoch oben, dass man die Krümmung des Horizonts sah. Der Himmel war von einem tiefen, düsteren Rot, wurde aber zum Horizont hin heller. Und dort erblickte sie einen Feuerbogen, eine gewaltige Sonne, die über die Krümmung der Welt stieg, die M-Sonne, die diese Supererde erhellte. In der Nähe des Horizonts sah sie nun eine Gebirgskette, deren Gipfel das Licht einfingen; sie leuchteten wie eine Laternenkette im Dunkeln. Ihr fiel wieder ein, was Venus über potenziell vorhandene Organismen wie Bäume gesagt hatte, die sich aus dem Schatten des Zwielichtstreifens emporstreckten, um das flüchtige Licht einzufangen.
Die Raumfähre sank steil in die dicker werdende Luft. Die dichte, stürmische Atmosphäre dieser Welt war turbulent.
Von nun an reihten sich die Ereignisse des Abstiegs in schneller Folge aneinander. Die Welt wurde kontinuierlich flacher und verwandelte sich in eine Landschaft. Die Sonne hievte ihre riesige, von einem atmosphärischen Effekt zu einer abgeflachten Ellipse verzerrte Masse müde über den Horizont. Sie war weiß, schwach rosa getönt, aber so gut wie gar nicht rot. Das kleine Schiff überquerte die Berge mit ihren hell erleuchteten Gipfeln, und sie passierten den Terminator, diese reglose Grenze der Nacht.
Als sie über sonnenbeschienenen Boden hinwegrasten, leuchtete ein Feld an der Konsole auf und zeigte eine animierte Karte, die auf Beobachtungen der Arche in der Umlaufbahn basierte. Helen schaute nach unten. Der Boden war felsig, ein von Bergen gerunzelter und von gewaltigen Schluchten zerrissener Kontinentalschild. Er war großenteils von altem, schmutzigem Eis bedeckt, das im schwachen Sonnenlicht rosa schimmerte. In den Simulationen hatte sie Luftaufnahmen von Erdlandschaften aus der Zeit vor der Flut studiert; dies hier hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Flug in geringer Höhe über den Kanadischen Schild. Sie machte sich innerlich eine Notiz, Venus von diesem Eindruck zu berichten.
»Scheiße«, sagte Wilson. Er packte seine Bedienungselemente, mit der linken Hand das für die Translationssteuerung, mit der rechten das für die Fluglageregelung, zog daran und setzte damit die automatischen Systeme außer Kraft. Das Shuttle legte sich gehorsam in eine Rechtskurve.
Helen schaute nach vorn. Ein riesiger Vulkan, fast so groß wie Olympus auf der Erde II, aber kompakter und eindeutig aktiv, breitete sich vor ihnen aus. Sie sah Fahnen dunklen Rauchs, der aus den komplizierten Mehrfach-Calderas auf seinem Gipfel entwich.
Wilson sagte: »Wir wollen ja nicht durch eine Säule unruhiger, heißer Luft fliegen oder in die Flanke des Vulkans krachen, obwohl ich darauf vertraue, dass die Fähre das nicht tun wird.«
Das Shuttle raste an der Flanke des Vulkans vorbei. Als Helen nach unten blickte, sah sie Flecken pechschwarzer Dunkelheit; sie ähnelten Kunststoffdecken, die an alten Lavaströmen klebten.
»Weitere Berge voraus«, murmelte Wilson mit starrem Blick. Der Lichtschein der tief stehenden Sonne hob die Unreinheiten seiner stoppeligen Haut hervor.
Die herannahenden Berge direkt vor ihnen waren eine multiple Sägezahnkette, ein mehrere Hundert Kilometer tiefes geologisches System. Aus Helens Perspektive zeichneten sie sich als Silhouetten ab. Sie verglich den Anblick mit der animierten Karte auf der Konsole, die eine gepunktete rote Linie und ein Comic-Shuttle zeigte, das über eine zerklüftete Masse hinwegschoss. »Die sind genau da, wo sie sein sollen, Wilson.«
»Gut. Wir auch. Was bedeutet, dass wir bald zu unserem Landeplatz gelangen müssten.«
Die Berge zogen unter ihrem Bug vorbei. Ihre Flanken waren gefurcht von Gletschern, Eis leuchtete rosa-weiß auf dem Gestein. Die parallel verlaufenden Gebirgsketten fielen weg und lösten sich in Vorgebirge auf, die selbst jung und scharfkantig waren. Jetzt lag eine kahle, mit Felsen bestreute Ebene vor ihnen, und dahinter kam eine Eisdecke, die Oberfläche eines zugefrorenen Sees. Das Shuttle senkte abrupt die Nase und steuerte auf den See zu. Sein Ziel war klar.
»Genau auf den Punkt«, sagte Wilson. »Von allem, was wir gesehen haben, kommt dieser See einem natürlichen Landestreifen am nächsten. Ich hoffe, es sind noch alle angeschnallt.«
Helen schaute nach hinten. Die tief stehende Sonne schien direkt in die Kabine, tauchte die Gesichter der Kinder in ihr unheimliches rosafarbenes Licht – jetzt war es noch unheimlich, aber in ein paar Jahren würden sie sich vielleicht daran gewöhnt haben. In der Schwerkraft saßen die Kinder zusammengesunken da, obwohl die meisten wach zu sein schienen. Einige weinten, und andere sahen aus, als hätten sie in die Hosen gemacht oder sich übergeben. Helen zwang sich zu einem Lächeln. »Dauert nicht mehr lange. Haltet noch ein bisschen durch …«
Die Raumfähre sackte abrupt ab. Helen schnappte nach Luft; sie befürchtete, dass sie in die Tiefe stürzte.
»’tschuldigung«, brummte Wilson. »Luftloch. Diese verdammte Luft ist so dick, wie wir gedacht haben, aber unruhiger, turbulenter. Eine richtige Suppe. So, jetzt geht’s los, ich starte die endgültige Landesequenz.« Er tippte auf einen Schalter und packte seine Steuerelemente mit festem Griff. Er und der Autopilot flogen das Shuttle nun gemeinsam, obwohl Wilson immer das letzte Wort hatte.
Unter ihren Füßen ertönte ein Klappern und das Brausen von Luft.
»Was, zum Teufel, war das?«, fragte Helen erschrocken. »Ist eine Pumpe kaputtgegangen?«
Wilson lachte nur, ohne den Blick von der Szenerie vor dem Fenster zu wenden. »Das Fahrgestell ist ausgefahren. Und das ist keine kaputte Pumpe, das ist der Wind, Baby. Wir gehen jetzt schnell runter …« Er verstummte, beobachtete die dahinrasende Landschaft und schaute auf Monitore, die seine Geschwindigkeit, seine Höhe und Sinkrate anzeigten. Das Shuttle erzitterte erneut, als seine Steuerflächen in die dicke Luft bissen.
Sie überflogen eine letzte Hügelkette. Sie waren bereits unterhalb der höchsten Gipfel, sah Helen. Dann sauste die Küstenlinie des zugefrorenen Sees unter ihrem Bug vorbei. Sein Rand war von parallelen Bändern im Eis gekennzeichnet, als wäre der See wiederholt geschmolzen und wieder zugefroren. Indizien für Vulkan-Sommer; hin und wieder, hatte Venus ihr erklärt, schleuderte eine ausreichend starke Eruption so viel Kohlendioxid in die Luft, dass die Temperatur vielleicht für mehrere Jahre global stieg. Helen wünschte, Venus wäre hier, würde ihr alles erklären und ihre Hand halten.
Die Raumfähre erzitterte erneut und sank noch etwas tiefer. Jetzt flogen sie in sehr geringer Höhe über den See hinweg. Im Licht der Sonne konnte Helen Einzelheiten erkennen; Steine und Eisbrocken, die über die Oberfläche verstreut waren, sausten unter dem Bug dahin.
»Nichts ist jemals so glatt, wie es vom Weltraum aus aussieht«, brummte Wilson. »Solange wir mit unseren Kufen nicht gegen diese klitzekleinen Felsen knallen, ist alles in Ordnung. Wir kommen jetzt problemlos runter. Hundert Meter Höhe. Achtzig. Sechzig. Hoppla …« Er zog an der Translationssteuerung, und das Shuttle schwenkte scharf nach rechts. Helen sah ein Feld von Eisbrocken genau in ihrer vorherigen Anflugbahn. Als Wilson das Shuttle auf eine freiere Fläche ausgerichtet hatte, gab er die Steuerung frei und überließ es der Automatik, den Vogel wieder ins Gleichgewicht zu bringen. »Das war knapp.«
Helen zeigte nach vorn. »Wir sind nicht mehr weit vom Ufer entfernt.« Dahinter erhob sich weiteres hügeliges Gelände, uneben, mit Geröll übersät und von diesen seltsamen schwarzen Farbflecken gesprenkelt.
Wilson grinste. »Kann schon sein, aber wir haben nur einen Versuch, Baby. Hoffen wir, dass der Platz reicht.« Ein Monitor piepste; der Radar-Höhenmesser zeigte, dass sie nur noch zehn Meter hoch waren. »Jetzt geht’s los …« Er schob den Knüppel behutsam nach vorn. Der See kam zu ihnen herauf.
Die Kufen trafen aufs Eis. Das Shuttle klapperte und stieg wieder in die Luft, und Helen klammerte sich an ihre Liege. Das Shuttle sank erneut hinunter, hüpfte noch einmal, und dann hörte sie das Quietschen von Metall, als die Kufen über die Eisdecke schabten. Es gab einen weiteren Knall, und Helen wurde nach vorn in die Gurte geworfen, als ob eine riesige Hand das Heck des Raumfahrzeugs gepackt hätte.
»Bremsschirme geöffnet!«, rief Wilson. »Wow, was für ein Ritt.«
Dank der Bremsschirme, in denen sich die dicke Luft fing, wurde die Raumfähre rasch langsamer. Auf den letzten paar Metern holperten die Kufen über jeden Stein und Eisblock in ihrem Weg, und die Insassen wurden gründlich durchgeschüttelt. Dann drehte sich das Shuttle um ein paar Grad und schlitterte noch ein paar Dutzend Meter seitwärts, bis es schließlich zum Stehen kam.
Wilson schlug auf eine Taste. »Bremsschirme abgeworfen. Als Erstes müssen wir gleich die Seide einsammeln, die brauchen wir später noch …« Ein wenig benommen tippte er an sein Mikrofon. »Hawila, Shuttle B. Wir sind unten, in einem Stück. Yeah! Wir sind unten«, wiederholte er leiser und schaute zu Helen hinüber. »Und was nun?«