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Grace Grays Lieblingszeit jedes Tages auf der Arche war dessen Ende.
Das Kontrollzentrum in Alma hatte der Crew in ihren beiden Modulen ein Drei-Schichten-System verordnet, so dass erst Seba und dann Hawila eine Schicht schlief; anschließend waren beide wach. Auf diese Weise war jederzeit zumindest die Hälfte der Crew wach und einsatzfähig, was die Chancen erhöhte, dass die Arche als Ganzes ein etwaiges plötzliches Unglück überstand.
In beiden Modulen gab es jedoch keine richtige Privatsphäre, außer in den mit Türen versehenen Toiletten, obwohl ihnen für die lange interstellare Reisephase eine Unterteilung der großen Räume versprochen worden war. Das hieß, dass man lernen musste, wie in einem riesigen Schlafsaal zu schlafen, mit anderen über und unter einem, deren Stöhnen und Schnarchen nur allzu gut hörbar und deren Liegen durch das Gitter des Decks sichtbar waren, und man sah geisterhafte Gestalten hin und her schweben, lautlos und schwerelos wie Seifenblasen.
Dennoch hatte Grace gelernt, jene Momente zu genießen, wenn sie sich im Innern eines Kokons aus Schlafsack und Decke locker auf ihrer Liege festschnallte. Dies war das Beste an der Mikrogravitation, weit weg von den kleinen Ärgernissen des Tages, wenn man durch den Müll anderer Leute oder Wolken von losem Zeug schwebte – Schraubenzieher, Plastikfetzen, Stücke von Dichtungsmaterial –, alles Beweise für den eiligen Bau des Schiffes. Auf der Liege hingegen schwebte man, als läge man im bequemsten Bett der Erde.
Und wenn die Schlafperiode begann, wandten sich die auf Wandstützen montierten, allgegenwärtigen Kameras ab. Die Erde musste einem nicht beim Schlafen zusehen, weder das Kontrollzentrum noch die Öffentlichkeit, die, wie Gordo ihnen versicherte, ansonsten jede ihrer Bewegungen beobachtete, als wäre das Schiff eine Realityshow mit dem einzigen Daseinszweck, die Menschen von der schrecklichen Wahrheit der Flut abzulenken. Die Quoten seien enorm, sagte Gordo. Grace glaubte, dass die ständige Überwachung den Ausbruch von Konflikten an Bord des Schiffes verhinderte, darum hatte sie keine Einwände dagegen, aber es war angenehm, wenn sich die elektronischen Augen abwandten.
Und dann pflegte Kelly Kenzie ihre letzte Runde zu machen, eine visuelle Inspektion, dass alles in Ordnung war. Das war ein gesunder Instinkt von Kelly, dachte Grace, eine Art, Bindungen zu ihrer Crew zu entwickeln. Vielleicht würde es voreilige Handlungen wie die geplante Razzia nach Waffen aufwiegen. Wenn Kelly vorbeikam, sorgte sie dafür, dass die Schiffssysteme die Lichter im Modul eins nach dem anderen auf die Notbeleuchtung herunterdimmten. So wurde es in den Sektionen des Moduls dunkel, wenn sie vorbeischwebte.
Einmal, in Graces Zeit bei Walker City – sie war nicht älter als zwölf oder dreizehn gewesen –, hatten die Wanderarbeiter für sechs Monate bei einem Bauprojekt in der Nähe von Abilene, Texas, haltgemacht, um dort zu arbeiten. Einer ihrer Gefährten, ein Engländer namens Michael Thurley, war als Katholik aufgewachsen, und als er eine kleine, hübsche katholische Kirche in der Stadt entdeckt hatte, war er dort öfters zur Messe gegangen. Ein paarmal hatte Grace bei ihm gesessen. Am besten hatte ihr das Ende des Gottesdienstes gefallen, wenn ein Messdiener in der Kirche herumging und Kerzen löschte. So ähnlich war Kellys stille tägliche Prozession, als wären sie Kinder, die in einer riesigen Kirche schliefen, wo die Lichter eines nach dem anderen gelöscht wurden. Grace driftete in den Schlaf und dachte dabei an jene Tage zurück, an Michael und Gary Boyle, an ihre Zelte, ihre tragbaren Gerätschaften und das ewige Wandern, und an die Kirche in Texas, wo die Lichter eines nach dem anderen ausgingen.
Sie wurde von einem stechenden Schmerz im Bauch und einem Schwall von Feuchtigkeit zwischen den Beinen geweckt. Ihre Fruchtblase war geplatzt. Es war drei Uhr morgens, Alma-Zeit.