13

Holle war erleichtert, als sie an diesem Abend nach Hause kam. Die Wohnung, die ihr Vater gemietet hatte, lag im selben Block wie der Tattered Cover Book Store; das Antiquariat gehörte noch immer zu den florierendsten Geschäften in Denver, weil niemand mehr neue Bücher druckte. Sie stellte ihre Schultasche in der Diele ab, holte sich ein Glas Wasser und ging ins große Wohnzimmer, wo im Wandfernseher gerade die aktuellen Nachrichten auf dem Kanal der Rocky Mountain News liefen.

Patrick hörte sie nicht hereinkommen. Er saß auf dem Fußboden, den Rücken ans Sofa gelehnt, einen Arm über ein Kissen gelegt, in der anderen Hand ein Glas Mais-Whiskey. Die obersten Knöpfe seines Hemdes standen offen, er hatte die Schuhe ausgezogen, und seine schwarz bestrumpften Füße waren gekreuzt.

Die Nachrichten waren allesamt schrecklich, wie Holle mit einem Blick auf den großen Mehrfachbildschirm sah. In Denver bereitete sich die Polizei auf eine weitere Randale-Nacht der Wanderarbeiter im City Park vor. Woanders wurden diplomatische Noten mit Utah ausgetauscht; Mormonenführer in Salt Lake City weigerten sich nun, Steuern an den Bund abzuführen. Präsidentin Vasquez würde dazu demnächst eine Erklärung abgeben. Meerwasser, das sich von Alabama aus durchs Tennessee-Tal vorarbeitete, löste eine neue Evakuierungswelle aus und produzierte weitere Bilder durchnässter Menschen, die in prasselndem Regen dicht gedrängt auf Landstraßen dahinstapften. Die Regierung erwog, Truppen in die Friedmanburgs zu schicken, die von Unruhen geplagten neuen Städte auf den Great Plains, wo Einwohner gegen die Ausbeutung durch die Reichen protestierten, die das Land ursprünglich aufgekauft und einen großen Teil der Erschließungskosten bezahlt hatten. Holle wusste, dass ihr Dad irgendetwas damit zu tun hatte. Noch aktive Aufklärungssatelliten meldeten mutmaßliche Atombombenexplosionen in Tibet, dem Kulminationspunkt der Spannungen zwischen Indien, China und Russland.

Zugleich erzitterte die Erde unter dem Gewicht des Wassers, das immer schwerer auf den Kontinenten lastete und weitere Tsunamis, Erdbeben und Vulkanausbrüche auslöste. Eine Übersichtskarte im Hintergrund zeigte, dass rund vierzig Prozent der weltweiten Landfläche aus der Zeit vor der Flut verlorengegangen und rund vier Milliarden Menschen vertrieben worden waren.

Holle hasste die Nachrichten. All diese Schalen aus Schrecknissen, Elend und Konflikten, die sich um die Blase der Sicherheit legten, in der sie aufgewachsen war – und die, wie ihr allmählich klarwurde, eine sehr besonderer Ort war. Und obwohl Wissenschaftler manchmal behaupteten, dass die Flut bald ein Ende nehmen und das Wasser zurückweichen würde, schien es nicht sonderlich viel zu geben, worauf sie sich stützen konnten, und ihr Vater reagierte nie auf die leisen Hoffnungen, die sie weckten.

»Können wir nicht zu Friends umschalten, Dad?«

Patrick schreckte zusammen. Er hatte nicht gemerkt, dass Holle da war. »Oh, hallo, Schätzchen.« Er schaltete zu einer Konferenzschaltung um; Holle erkannte Edward Kenzie, einen sonnengebräunten Nathan Lammockson und andere. Ihre tiefen Stimmen dröhnten. Patrick hob den Arm und machte ihr Platz. Sie setzte sich auf den Teppich neben ihn und kuschelte sich an ihn. Er war warm, müde und verschwitzt. Sein Geruch war ungeheuer beruhigend. »Entschuldige«, sagte er, »ich habe gerade ein bisschen geschwänzt. Eigentlich soll ich an dieser Konferenz teilnehmen. Friends – später vielleicht. Das läuft ja Tag und Nacht.«

Holle war mit den alten Fernsehserien aus der Zeit vor der Flut aufgewachsen. Sie waren tröstlich, weil sie in einer Welt spielten, die für sie so irreal war wie die eines Märchens. »Worum geht’s bei der Konferenz?«

»In einem Observatorium in Chile läuft gerade eine astronomische Durchmusterung. Ein Ort namens La Silla, sehr hoch gelegen. Das ist in Südamerika, weißt du? Gehörte früher mal den Europäern, aber jetzt erhält Nathan Lammockson, der in Peru sitzt, für uns dort den Betrieb aufrecht. Nicht dass er wüsste, was genau wir da oben eigentlich tun.«

»Bestimmt nach Planeten suchen.«

»Ja, darum geht es. Irgendein Ziel für die Arche zu finden. Und sobald das neue Raumfahrtzentrum fertig und einsatzbereit ist, wollen wir eine Sternenschirm-Mission durchführen.«

»Eine was?«

»Ich weiß nicht genau, ob ich’s verstehe, aber es ist interessant. Man schickt eine riesige Plane hoch, die in Rotation versetzt und dadurch stabilisiert wird. Das Ding sieht wie eine Blume mit Blütenblättern aus. In mehreren Tausend Kilometern Entfernung befindet sich ein konventionelles Teleskop – wir benutzen das Hubble. Der Schirm soll das Licht des Sterns blockieren, damit das Teleskop etwaige Planeten aufspüren kann. Mit diesem Arrangement sollte es uns gelingen, Kontinente auf einem erdähnlichen Planeten bis in dreißig oder vierzig Lichtjahren Entfernung auszumachen. Vor Jahren hat sich ein Astronom an der University of Colorado in Boulder sehr für dieses Projekt eingesetzt. Dadurch konnten wir es ausgraben.«

»Und eine Pause zu machen bedeutet für dich also, die Nachrichten zu gucken? Die sind immer schlecht.«

»Ich weiß.«

»Manchmal denke ich, alle haben Angst.« Es stimmte: Die Menschen hatten Angst vor der Flut, die noch weit von der Stadt entfernt war, Angst vor den Eye-Dee-Wellen, weil sie Schmutz, Krankheiten und Hunger mit sich brachten und Raum beanspruchten, und Angst voreinander, denn in Zukunft würde es vielleicht nicht mehr genug Platz für alle geben. Holle selbst hätte sich erheblich sicherer gefühlt, wenn Alice Sylvan, die sie mit den Jahren als eine Art Ehrentante betrachtet hatte, nicht in der Innenstadt von einem Heckenschützen erschossen worden wäre.

»Ich weiß, ich weiß.« Patrick zerzauste ihr die Haare. »Aber es bringt ja nichts, einfach die Augen zuzumachen. Und, wie war’s an der Akademie?«

»Es war schrecklich, Dad. Die Kinder sind alle intelligent und laut, und dann herrscht da auch eine irrsinnige Konkurrenz. Nur Zane war nett zu mir.«

»Zane ist bestimmt froh, dass du da bist.«

»Ich bin nicht wie Zane«, platzte sie heraus. »Und ich bin auch nicht wie Kelly Kenzie. Ich bin nicht groß und hübsch und selbstbewusst. Erzähl mir nicht, dass solche Dinge nicht wichtig sind, denn das sind sie. Ich weiß, wie man die Schüler nennt. Die Kandidaten. Man muss was Besonderes sein, um ein Kandidat zu sein, ein Star. Ich kam mir vor wie Joey in Friends

Er lachte und nippte an seinem Drink. »Okay. Aber sieh mal – ich finanziere die Akademie wie auch viele andere Initiativen, die mit der Arche Eins zu tun haben, im Rahmen eines Konsortiums mit meinem Geld. Sie ist allerdings kein Pensionat für kleine reiche Kinder. Wenn man dich dort aufgenommen hat, dann, weil man glaubt, dass deine Fähigkeiten es rechtfertigen; sonst wärst du nicht dort, ganz gleich, wessen Tochter du bist. Du verdienst es, dort zu sein, Schätzchen.« Er küsste sie auf den Kopf. »Aber wenn es irgendwann mal zu hart für dich ist, komm einfach nach Hause.«

»Oh, ich werde nicht aufgeben.«

Der Fernseher gab einen Signalton von sich, und der Bildschirm füllte sich mit einem Brustbild von Liu Zheng.

 

»Liu?«, sagte Patrick. »Was kann ich für Sie tun?«

Liu grinste. So menschlich hatte er im Unterricht bisher noch kein einziges Mal dreingeschaut. »Eigentlich hatte ich gehofft, mit Holle sprechen zu können. Miss Groundwater, ich glaube, Sie haben das seltene Talent, die richtigen Fragen zu stellen.«

»Welche richtigen Fragen? Meinen Sie diese Diskussion über die größte Warp-Blase, die wir erzeugen könnten? Aber die Antwort war ›klitzeklein‹. Die anderen haben alle gelacht.«

»Hören Sie mir zu«, sagte Liu ernst. »Wir befassen uns hier mit der Manipulation der Raumzeit, einer multidimensionalen Manipulation. Alles, was wir mehr oder minder intuitiv zu wissen glauben, ist wahrscheinlich falsch. Angeregt von dieser Diskussion, habe ich mir noch einmal etwas angesehen, was ich im Verlauf meiner früheren Forschungen entdeckt hatte. Eine dreißig Jahre alte spekulative Abhandlung eines belgischen Physikers. Haben Sie einen Handheld? Versuchen Sie, der Argumentation zu folgen …«

Und als wäre Patrick gar nicht da, verfiel er umstandslos in seinen seltsamen, zerstreuten Vortragsstil, und der große Wandbildschirm begann sich mit Grafiken und Gleichungen zu füllen. Holle ließ die Tensoren wie fallende Blätter vorbeiwirbeln und bemühte sich, die Quintessenz seiner Ausführungen zu verstehen.

»Eine Warp-Blase ist ein separates Universum, das mit unserem verbunden ist, wie eine Beule, die sich an einer schadhaften Stelle in der Hülle eines Spielzeugballons bildet. Die Blasenwand … ähm … umgibt dieses Taschenuniversum. Aber ›umgeben‹ ist ein dreidimensionaler Begriff und deshalb ungeeignet, die höherdimensionale Realität zu beschreiben. Die Blase ist in Wahrheit der Hals der schadhaften Stelle, der die Mutterraumzeit mit der Tochter verbindet. Sie kann also viel kleiner sein als das Tochteruniversum selbst.«

»Kleiner als das Schiff!«

»Genau. Die Warp-Blase kann beliebig klein sein.« Das Grinsen wurde breiter. »Allem Anschein nach sogar so klein, dass sie in ein einzelnes Neutrino passt. Und es gibt noch andere Vorteile. Der Stoßquerschnitt unseres Warp-Schiffes hat uns Sorgen bereitet. Selbst Staubkörner, die das vordere Ende der Warp-Blase träfen, wären enormen Kompressionskräften ausgesetzt. Das Schiff könnte Schaden nehmen, und das Warp-Feld würde vielleicht einen Energieverlust erleiden. Durch die neue Geometrie verringert sich diese Gefahr erheblich.«

»Mein Gott«, meinte Patrick. »Ich verstehe vielleicht fünf Prozent von dem, was Sie sagen. Aber ich weiß, dass die Masse-Energie-Frage der entscheidende Hemmschuh für die Konstruktion war …«

»Wir liegen Jahre hinter jedem hypothetischen Plan zurück«, sagte Liu mit schwerer Stimme. »Dies könnte der konzeptionelle Durchbruch sein, den wir gebraucht haben.«

Patrick umarmte seine Tochter. »Und alles dank meiner Kleinen. «

»Oh, Dad …«

»Das ist natürlich nicht so«, sagte Liu mit unerwarteter Strenge. »Beherrscht sie die relativistische Mathematik, die man braucht, um diese neue Lösung umfassend zu beschreiben? Selbstverständlich nicht. Ihr Beitrag besteht in einer scharfsinnigen Frage, die eine Antwort hervorgebracht hat, die zu einer endgültigen Lösung führen könnte. Zane Glemp hat mehr dazu beigetragen, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Hier geht es um Teamwork. Auf der Archen-Akademie suchen wir nicht nach dem überragenden Individuum, Holle Groundwater. Wir streben danach, ein Team zusammenzustellen, eine Crew. Heute haben Sie gezeigt, dass Sie vielleicht das Potenzial besitzen, zu diesem Team zu gehören. Vielleicht. Es war ein guter erster Tag. Jetzt schlage ich vor, Sie schlafen gut und sorgen dafür, dass Sie morgen pünktlich sind.« Sein Bild erlosch und wurde von den stumm geschalteten sprechenden Köpfen Lammocksons, Kenzies und der anderen ersetzt.

»Puh.« Patrick ließ Holle los und stand steifbeinig auf. »Ich brauche noch einen Drink und etwas zu essen – in dieser Reihenfolge. Was für ein Tag. Ein Raumschiff von der Größe eines Neutrinos!«

»Nein, Dad«, sagte sie, während sie ihm folgte. »Ein subneutrinogroßer Korridor zu einem Taschenuniversum mit einem Raumschiff drin.«

»Was auch immer. Wer schält die Kartoffeln?«

Die Letzte Arche
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