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MAI 2078
Helen Gray brachte Zane ein Geschenk. Es war ein flüchtig in einen Bogen Isolierschaumstoff eingeschlagener Block aus gefrorenem Urin, der kunstvoll zu einer Büste geformt worden war, einem menschlichen Kopf. Die Künstlerin wollte ihn als Denkmal für die Toten verstanden wissen, zum zehnten Jahrestag von Steel Antoniadis Blow-out-Rebellion.
In seiner düsteren Kabine hob Zane den Kopf hoch und legte seine steifen, leberfleckigen Hände um dessen Wangen. Der Lichtschein der einzigen Lampe in der Kabine durchdrang das Eis, brachte die dunkelgoldene Farbe zum Leuchten und hob Blasen und Streifen anderer Flüssigkeiten im Innern hervor. »Mir gefällt es, wie sich das Licht in Pisseeis fängt«, sagte Zane trocken, »wenn man es auf die richtige Weise zur Schau stellt.«
Dies war Zane 3, entschied Helen zögernd, der überzeugte Amnestiker, der keinerlei Erinnerung an die Geschehnisse vor seiner Erweckung nach dem Aufbruch vom Jupiter besaß. Es freute sie, dass Zane 3 heute da war. Obwohl er oftmals unter Depressionen litt, und obwohl Zane seit zehn Jahren, seit seine Verschwörungstheorien mit zu dem Blow-out geführt hatten, als Paria behandelt wurde, war Zane 3 eine abgerundete Persönlichkeit mit einer einzigartigen Sicht auf sich selbst, während Jerry tüchtig, aber hohl war, ein raubeiniger, arroganter Tyrann. Holle und Grace hatten ihre Versuche, Zane zu reintegrieren, längst aufgegeben; ihnen zufolge gab es jetzt Hinweise auf weitere Alter Egos, die in seinem Kopf kreisten, abgespalten in diversen Krisen, um die Kernpersönlichkeit von weiterem Leid zu entlasten, Alter Egos mit Namen wie Leonard, Robert und Christopher. Das einzig Interessante auf der Arche waren andere Menschen. Zane 3 mochte nicht mehr als ein Fragment eines zerfallenden Geistes sein, aber er war nach wie vor eine der interessanteren Personen auf dem Schiff.
»Ist gut gemacht«, sagte er jetzt, während er den Urinkopf in den Händen hin und her drehte. »Wenn die Züge auch übertrieben sind. Diese großen Augen, der Mund, die Nase. Sieht aus wie ein Marionettenkopf.«
»Bella hat andere Körperflüssigkeiten benutzt, um innere Strukturen zu betonen. Schau, dieser Blutfaden dort …«
»Anatomisch nicht allzu exakt.«
»Es ist fantasievoll – es soll den Geist, nicht den Körper darstellen. «
»Ja. Man sieht, welchen Gesichtsausdruck sie einzufangen versucht hat. Neugier. Zweifel vielleicht. Wie alt ist diese Bella?«
»Achtzehn.«
Bella Mayweather gehörte zu der Generation, die in der Dekade seit dem Blow-out die Volljährigkeit erlangt hatte; zum Zeitpunkt der Rebellion gerade einmal acht Jahre alt, besaß sie wahrscheinlich nur noch verschwommene, alptraumhafte Erinnerungen an die damaligen Ereignisse. Sie war unter Holle Groundwaters liebevoller, aber strenger Herrschaft aufgewachsen.
»Achtzehn Jahre.« Zane drehte den Kopf weiter hin und her. »Die Kunst der Schiffsgeborenen fasziniert mich. Ihre Kultur auch, die Sprache, die sie zu entwickeln scheinen. Wie sie sich in der Mikrogravitation wie Vögel zusammenscharen. Weißt du, auf dieser Reise ins Nichts habe ich vor allem eins gelernt: Der menschliche Geist ist unverwüstlich. Wir fliegen immer weiter, Jahrzehnt um Jahrzehnt, und jedes neue Jahr ist schlimmer als das davor, jeder nachfolgende Kader von Kindern wächst in noch schlimmeren Bedingungen auf als der vorige. Jetzt haben wir nichts mehr, was wir ihnen geben können, nicht einmal irgendwelche Rohmaterialien für die Kunstproduktion. Und trotzdem schaffen sie es, sich auszudrücken. Ihre Skulpturen aus gefrorener Pisse, ihre Gemälde aus Blut und Schleim an den Wänden des Schiffes, diese hochkomplizierten Tätowierungen, ihre unaufhörlichen Gesänge. Alles natürlich vergänglich.«
»Ja. Auch dieser Kopf wird in ein paar Tagen in die Sammelbehälter wandern müssen. Das Bild speichern wir im Archiv, aber …«
Aber selbst Hawilas digitalem Archiv, gespeichert in strahlungsgehärteten Diamant-Chips, ging allmählich der Platz aus. Die Hälfte der Kapazität war bei der Aufteilung an Seba verlorengegangen, und der Rest war nur für die Aufzeichnungen einer Reise von höchstens einem Jahrzehnt gedacht gewesen. Da Holle neue Kapazitäten suchte, zum Beispiel für die von ihr angeordnete Wiederbelebung der HeadSpace-Zellen, war die im Archiv gespeicherte institutionelle Erinnerung »rationalisiert«, also in weiten Teilen gelöscht worden.
»Diese thematische Resonanz untermauert meine sogenannten Verschwörungstheorien«, erklärte Zane. »In unserer kleinen Welt werden auf verschiedenen Ebenen immer wieder dieselben Themen artikuliert, ein Indiz für künstliche Steuerung, für bewusste, wenn auch ungeschickte Planung. Mithin sind wir alle zusammen in diesem Modul gefangen wie rasende Gedanken in einem Schädel, so wie ich und meine Alter Egos in meinem Kopf gefangen sind. Und jetzt wird das elektronische Gedächtnis der Arche gelöscht, Megabyte für Megabyte, Bibliotheksregal für Bibliotheksregal. Wird die Arche eines Tages aufwachen, ohne zu wissen, was sie ist, so wie ich zu Beginn der Reise? Vielleicht gibt es hier niemand anderen als mich«, sagte er plötzlich. Er sah sie an. »Vielleicht bist du nur ein weiteres abgespaltenes Alter Ego, das mich vor der Einsamkeit bewahren soll. Vielleicht gibt es nur mich, allein in diesem leeren Tank, während die Beobachter dabei zuschauen, wie ich Stück für Stück den Verstand verliere.«
Helen überlief es kalt. Wie so viele Visionen von Zane hatte auch diese neueste Spekulation, diese neueste bizarre Hypothese eine gewisse reale Grundlage. Obwohl Helen mit ihren sechsunddreißig Jahren zu den Ältesten der Schiffsgeborenen gehörte, besaß sie schließlich keine Erinnerung an die Erde. Intellektuell glaubte sie, dass die Sterne real waren, dass die Erde real war, dass es wirklich eine Flut gegeben hatte, die eine planetare Zivilisation ertränkt hatte, und dass es jetzt nur noch drei Jahre dauern würde, bis sie die Erde III erreichten. Aber für sie war es eine Frage des Glaubens. Und es gab Leute wie Steel Antoniadi, die ihr ganzes Leben von der Geburt bis zum Tod auf der Arche verbracht hatten, ohne jemals irgendetwas außerhalb ihrer Hülle zu erleben. Welchen Unterschied hatte es für sie gemacht, ob all das real gewesen war oder nicht?
Zanes theoretische Konstrukte ähnelten einer Horrorstory; Helen verspürte einen angenehmen Schauder. Aber seit dem Blow-out verstieß es gegen die Schiffsgesetze, Zane zuzuhören.
»Deshalb dürfen die Kinder nicht herkommen und dich besuchen, wenn du so redest.«
»Ach, die Kinder. Ich bin immer noch der schwarze Mann des Schiffes, was? Aber ich vermisse diese Sitzungen, bei denen wir uns damals unsere Träume erzählt haben.« Er warf einen Blick auf ihren Bauch, wo der Overall eine leichte Wölbung erkennen ließ. »Kriegst du auch wieder eins?«
Sie lächelte. »Wir haben’s gerade noch rechtzeitig geschafft. Holle will ein Empfängnismoratorium von hier an bis zur Erde III. Sie möchte nicht, dass wir mit Neugeborenen an Bord landen.«
»Das ergibt einen gewissen paranoiden Sinn. Ein Schwesterchen für Mario?«
»Ein Bruder.«
»Ein weiterer Sohn für Jeb. Das wird ihm gefallen.«
»Vermutlich«, sagte sie desinteressiert. Jeb Holden, ehemals einer von Wilsons Schlägern, war nicht ihre erste Wahl als Vater ihrer Kinder gewesen – und sie als Mutter auch nicht seine, wie sie wusste. Schließlich war er ungefähr in Zanes Alter, fast sechzig, viel älter als Helen. Aber Holle hatte, einer eigenen demografischen Logik folgend, alle ermutigt, fleißig Babys zu produzieren, und die zehn Jahre seit dem Blow-out hatten eine ganze Schar neuer kleiner Kinder aufwachsen sehen, die Schiffsgeborenen der zweiten Generation. Helen konnte sich schwerlich abseits halten. »Vergiss nicht«, hatte Grace mit gezwungenem Lächeln gesagt, »ich hatte auch nicht die Möglichkeit, mir deinen Vater auszusuchen. Und meine Mutter hatte ebenfalls keine Wahl, was den Mann betraf, der mich gezeugt hat.« Grace hatte ihre Tochter umarmt. »Aber dafür haben wir uns gar nicht so schlecht gemacht, stimmt’s?«
»Jeb ist in Ordnung«, erklärte Helen jetzt. »Er kommt aus gutem Hause, denke ich. Wir haben Mario nach Jebs Vater benannt, einem Farmer, der bei einem Eye-Dee-Blitzkrieg gestorben ist – so kam es, dass Jeb schließlich auf einem Floß um sein Leben kämpfen musste. Wilson hat einen schlechten Einfluss auf ihn gehabt.«
»Und wie willst du den Neuzugang nennen? Wie hieß dein Vater noch gleich – Hammond?«
Helen lächelte. »Meine Mutter will nichts davon hören. Wir denken daran, ihn Hundred zu nennen. Wenn er zur Welt kommt, werden wir nämlich gerade hundert Lichtjahre von der Erde entfernt sein.«
Er stöhnte. »Diese erfundenen Schiffernamen! Ich kann sie nicht ausstehen.«
Sie schwebte zur Tür. »Ich muss weg. Du kannst den Kopf ein paar Tage behalten. Lass ihn nicht schmelzen.«
»Oh, keine Sorge.« Zane starrte in die Augen der Skulptur, als suchte er dort Antworten.
Sie verspürte einen seltsamen Impuls, ihn zu umarmen. Aber bei Zane wusste man nie so genau, wen man umarmte. »Du wirst hoch geschätzt, weißt du.«
»Ach, wirklich?«
»Du bist immer noch die Autorität auf dem Gebiet des Warp-Generators. Wir brauchen dich.«
»Nein«, sagte er. »Komm schon. Du weißt so gut wie ich, dass unser Flug zur Erde III, was die Warp-Mechanik betrifft, vom Start an einprogrammiert war.«
»Aber wenn der Warp während des Flugs ausfiele …«
Er lachte. »Wenn das passieren würde, wären wir alle höchstwahrscheinlich auf der Stelle tot. Nein, mit meiner Nützlichkeit war es in dem Moment vorbei, als sich die Warp-Blase bei der Erde II erfolgreich aufgebaut hatte.«
»Für mich bist du nützlich, wenn man es so ausdrücken will. Ich mag die Gespräche mit dir.«
»Das ist sehr nett von dir. Aber deine Kinder wachsen heran, und wenn ihr die Erde III erreicht und das großartige Projekt in Angriff nehmt, eine neue Welt aufzubauen …« Er schien wieder zu sich zu kommen. »Mir geht’s gut. Kümmere du dich mal lieber um deinen kleinen Jungen. Na los, geh schon!«