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JUNI 2043

 

Gordo Alonzo, dessen Worte sich über den Abgrund von fünfundvierzig Lichtminuten zum Jupiter schleppten, verkündete, er werde das Urteil des Gesamtstreitkräfte-Tribunals bezüglich Jack Shaughnessys Fehlverhalten gegenüber der Führungscrew auf dem Wachdeck von Hawila bekanntgeben.

Masayo Saito hatte Seba nicht mehr verlassen, seit sie den Jupiter erreicht, die Module getrennt und den Verbindungstunnel unterbrochen hatten. Um an der Urteilsverkündung in Hawila teilzunehmen, würde er nun jedoch wie ein Astronaut in einem Raumanzug hinüberfliegen müssen. Man flog immer zu zweit, und Holle meldete sich freiwillig, ihn zu begleiten. Sie sah eine Chance, mit Masayo ein paar metaphorische Brücken zu bauen, während sie die echte Brücke zwischen den Modulen überquerten.

Masayo war schon da, als sie zur Voratmungskammer kam, einem kuppelförmigen Raum in Sebas Nasenspitze. Man musste stundenlang voratmen, um sich auf den reinen Niederdruck-Sauerstoff im Raumanzug vorzubereiten; sonst riskierte man die Dekompressionskrankheit. Masayo hatte nicht viel zu sagen, als sie eintrat. Er trug bereits seinen Anzug, bis auf Helm und Handschuhe, und saß da, die Beine um einen T-Hocker geschlungen, während er sich durch Dienstpläne der Crew in seinem Handheld arbeitete. Sie nahm an, dass er gegen seine Nervosität ankämpfte.

Zudem hatte die ganze Windrup-Shaughnessy-Geschichte Spannungen zwischen Illegalen und Kandidaten angefacht. An Bord der Arche konnte man kein Geheimnis bewahren, das war eine Lektion, die sie alle schon in den ersten Tagen in der stets leicht entflammbaren Atmosphäre des vollgestopften Schiffes gelernt hatten. Selbst wenn das, was man sagte, nicht vom Crew-Klatsch weitergetragen wurde, bestand eine reale Chance, dass der an der Liveübertragung klebende irdische Fan eines berühmten Crewmitglieds wie Kelly oder Cora seiner Heldin solche belauschten Bemerkungen in einer Fan-Mail zukommen ließ. Holle hoffte, dass es ihr gelingen würde, in der Abgeschiedenheit des Weltraums mit Masayo zu reden, und sie war darauf vorbereitet zu warten.

Sie hatte ebenfalls Arbeit mitgebracht, um diese Stunden zu füllen, und zwar eine interessantere als Masayos Wandschrubbpläne. Nach sieben Monaten im Orbit um den Jupiter waren die ersten Ergebnisse von Venus Jennings Planetensuche veröffentlicht worden.

 

Venus’ Untersuchung basierte auf Daten aus der mehr als vierzigjährigen Arbeit terrestrischer Instrumente und Planetensucher-Weltraumteleskope, ergänzt durch Beobachtungen von der Arche eingesetzter Teleskope. Mit diesen war eine größere Genauigkeit möglich gewesen, denn in gewissem Maße konnten zwei Teleskope bei der Erde und beim Jupiter als Komponenten eines einzigen Instruments von fast einer Milliarde Kilometer Größe fungieren.

Da man davon ausgegangen war, dass sich bessere Daten über nahe gelegene Exoplaneten sammeln ließen, nachdem die Arche beim Jupiter angelangt war, hatte man vor dem Start keine feste Entscheidung über das Ziel der Arche getroffen. Aber dem offiziellen Missionsplan zufolge sollte die gegenwärtige Phase im Jupiterorbit in weiteren neun Monaten beendet sein – vorausgesetzt, sie waren bis dahin mit dem Umbau der Arche, dem Bau des Warp-Generators und dem Antimaterie-Sammeln bei Io fertig. Bevor sie den Jupiter verließen, würden sie jedoch eine Entscheidung benötigen, denn eine Warp-Reise ließ sich aus dem Innern des Raumschiffs heraus nicht kontrollieren, es hieß Zielen und Schießen; sobald sie aufbrachen, waren sie festgelegt. Ihnen blieben also noch neun Monate, um diese Entscheidung zu treffen.

Hunderte von Exoplaneten waren katalogisiert worden. Die Schwierigkeit war: Welchen sollten sie auswählen?

Die Sonne war ein Stern der Klasse G, kompakt, gelb, mit einer stabilen Lebensspanne von Jahrmilliarden. Sterne der G-Klasse waren jedoch vergleichsweise selten; sie stellten nur ein Dreißigstel der Sternenpopulation der Galaxis. Die meisten der vielen Hundert Milliarden Sterne in der Galaxis – zwei Drittel der Gesamtzahl – waren rote Zwerge, klein, kühl und so geizig mit ihrem Wasserstoffbrennstoff, dass sie sehr langlebig waren und mehrere Hundert Mal so lange existierten wie ein Stern der G-Klasse. Die Astronomen bezeichneten sie als Sterne der Klasse M.

Der interstellare Flug war für eine nominelle Dauer von sieben Jahren geplant. Im Innern ihrer Warp-Blase würde die Arche ungefähr die dreifache Lichtgeschwindigkeit erreichen, was der Reise eine Obergrenze von rund zwanzig Lichtjahren setzte. Innerhalb dieses Radius lagen ungefähr siebzig Sternsysteme, meist solche mit mehreren Sternen. Außer der Sonne waren jedoch nur fünf G-Klasse-Sterne darunter.

Der nächstgelegene war Alpha Centauri A, zehn Prozent massereicher als die Sonne, der Seniorpartner jenes Dreifachsystems, das der Sonne am nächsten war, nur vier Lichtjahre entfernt. Man war schon längst zu dem Schluss gelangt, dass in diesem System keine auch nur annähernd erdähnlichen Welten zu finden waren, sondern nur in großer Ferne um die Zentralgestirne umlaufende Gasriesen, »kalte Jupiter«, wie man sie nannte, und Asteroidenschwärme, vielleicht Überbleibsel gescheiterter Planetenbildungen. Der nächstweitere G-Klasse-Stern war Tau Ceti im Sternbild des Walfischs, fast zwölf Lichtjahre von Sol entfernt. Doch auch dort waren keine geeigneten Kandidaten gefunden worden. Die nächsten Analogien zur Erde – Welten mit der ungefähr richtigen Masse in stabilen Umlaufbahnen und genau in der richtigen Entfernung vom Mutterstern, also weder zu heiß noch zu kalt – hatte man tatsächlich im Orbit um die »falschen« Sterne gefunden – sie waren entweder dunkler oder heller als Sol –, ja sogar bei einigen der vielen M-Klasse-Kandidaten.

Angeheizt von all diesen Daten, tobten Diskussionen sowohl auf der Arche als auch unten in Alma. Eine starke Fraktion unter Führung von Gordo Alonzo bestand darauf, dass die G-Klasse-Sterne Priorität haben müssten und man bezüglich der genauen Analogie des Planeten zu Erdbedingungen ein Risiko eingehen müsse. Eine andere Lobby, klar und deutlich angeführt von Venus, trat dafür ein, die Welt an die erste Stelle zu setzen und den Stern an die zweite. Es war eine leidenschaftliche Debatte; schließlich stand die Auswahl der Erde II, einer neuen Heimat für die Menschheit, zur Diskussion. Holle hatte jedoch den Eindruck, dass sie zu einem beinahe theologischen Disput um die Frage degenerierte, ob man wollte, dass die Nachkommen unter einer Sonne von der falschen Farbe aufwuchsen.

Darüber hinaus – und das komplizierte die Diskussion noch mehr – hatte Venus zufällig einen riesigen Kometenkern entdeckt, der aus der Dunkelheit jenseits des Jupiters herankam und einen Kollisionskurs mit der Erde einzuschlagen schien. Die plötzliche Bedrohung zusätzlich zu der nicht enden wollenden Flutkatastrophe war ihnen unerträglich erschienen, die Koinzidenz monströs. »Der Beweis, dass der Teufel existiert«, hatte Gordo Alonzo geknurrt, »wenn nicht Gott.« Venus’ Bericht zufolge hatten weitere Daten und Analysen nun gezeigt, dass der Komet nah an der Erde vorbeifliegen, aber nicht einschlagen würde; wenn er in ein paar Jahren das innere Sonnensystem erreichte, würde er ein dramatisches Schauspiel liefern, aber nicht mehr. Holle dachte, der seltsame Zufall hätte die zerstrittenen Planetenjäger auf der Erde und der Arche für eine Weile näher zusammengebracht. Aber sie hatten schon bald ihre Diskussionen wieder aufgenommen.

Masayos Timer klingelte. Holle schloss den Bericht.

 

Masayo half Holle, die Schichten ihres Anzugs anzulegen, den hautengen, flüssigkeitsgekühlten Innenanzug, den Druckanzug und dann den leuchtend weißen Außenschutz gegen Mikrometeoriten. Dazu musste er Holle in ihrer Unterwäsche sehr nahe kommen. Kontakt zwischen den Geschlechtern konnte unangenehm sein auf einem Schiff, auf dem ein Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen herrschte, ein Erbe des chaotischen endgültigen Einschiffungsprozesses. Und in den offenen Modulen war es nur allzu leicht, seinen Nachbarn Tag und Nacht zu beobachten und sich in Fantasien hineinzusteigern. Genau das hatte zu dem Angriff geführt, mit dem sich Jack Shaughnessy solchen Ärger eingehandelt hatte. Aber Masayo war energisch und professionell und zeigte über die Erledigung der Arbeit hinaus kein besonderes Interesse an Holle.

Sie band sich ihr persönliches Identifikationsband ums Bein, einen Farbcode mit einer Crew-Nummer, so dass sie auf den Monitoren zu erkennen war, sobald sie sich außerhalb des Schiffes befand. Obendrein klebte sie sich eine »EVA Eins«-Scheibe auf die Brust und eine Nummer Zwei auf die von Masayo. Dann zogen sie ihre Snoopy-Funkhauben über, halfen einander mit Helmen und Handschuhen und überprüften noch einmal die Display-Konsolen auf der Brust.

Als sie fertig waren, reckte Holle einen Daumen in eine Kamera, die sie beobachtete, und rief Zane, der an diesem Tag Dienst hatte, zu: »Okay, Zane, hier ist EVA Eins, EVA Eins und Zwei sind aufbruchsbereit.«

Zanes Stimme knisterte in ihrem Ohr. »Verstanden, Holle. Lasst mich die Schleusen-Checks durchführen.«

Sie standen da und warteten. Zane klang geistesabwesend, wie immer. Vielleicht war er von irgendeinem eigenen Projekt in Anspruch genommen – die Warp-Montage war anstrengend genug. Aber Holle hatte den Eindruck, dass er zunehmend in den dunklen Regionen seines eigenen Kopfes verschwand. Er pflegte auf seiner Liege zu liegen oder einfach wie ein leerer Anzug an irgendeiner Halterung in der Luft zu hängen. Sie hatte Mike Wetherbee zu bewegen versucht, sich ihn anzusehen, aber der Arzt hatte eingewandt, er sei kein Psychiater, und er war ohnehin noch immer ungeheuer eingeschnappt, weil Miriam auf der Erde zurückgeblieben war, und wollte sich nicht mit psychiatrischen Fällen befassen. Holle, die nach wie vor unter ihrer Trennung von Mel litt, konnte es ihm nachfühlen. Mike hatte Zane gebeten, über Funk mit Fachleuten auf der Erde zu sprechen, aber die Zeitverzögerung hatte verhindert, dass sich jemand richtig in ihn hineinversetzen konnte.

Heute jedoch war Zane voll da. Nach ein paar Minuten sprang eine Anzeige über der Schleusentür von Rot auf Grün. Holle wandte sich an Masayo. »Willst du vorangehen?«

»Was, ein einfacher Soldat wie ich? Geh du vor.«

»Das ist deine allererste EVA, stimmt’s?«

»Danke, dass du mich dran erinnerst.«

»Hauptsache, du kotzt nicht in deinen Anzug. Es gibt nur fünf, die mir passen, und das ist einer davon. Gehen wir.«

Sie drückte einen Griff herunter, und die Tür glitt auf und gab den Blick in die glänzende Luftschleusenkammer und auf ein kleines Fenster frei, das die Schwärze des Alls draußen zeigte.

Die Letzte Arche
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