79

Auf dem Weg zu Wilson, den sie wegen seiner Beziehung zu Steel zur Rede stellen wollte, trafen sich Holle und Grace im oberen Teil des Kegels von Hawila, wo sie auf Venus warteten.

Sie schauten durch den gesamten offenen Tank nach unten. In der Mikrogravitation nach der Aufteilung waren die meisten Decksböden erneut herausgenommen worden, um den großen Innenraum des Moduls zu öffnen. Die lange Rutschstange verlief immer noch in der Achse des Moduls, und auf ihrer gesamten Länge drängten sich Kabinen aneinander, die mit Klammern und Seilen befestigt waren und in allen Winkeln abstanden. Der Arbeitstag war in vollem Gange. Überall schwebten Menschen, die mit ihren Angelegenheiten beschäftigt waren. Das ganze Modul war erfüllt von Geräuschen und Stimmen; der Abbau der Decks hatte es in einen Hallraum verwandelt. Unten, ungefähr auf Höhe von Deck fünf, sah Holle einen versammelten Traumzirkel, fast alles junge Leute. Einer von ihnen war Zane Glemp; er redete und hielt sie in seinem Bann. Um Deck acht herum war die Hälfte des Fußbodens an Ort und Stelle belassen worden. Er diente nun als Basis für Wilsons Kabine, ein imposantes Gebilde aus Trennwänden und Decken, ein Abfall-Palast. Der ganze Innenraum war in den künstlichen Sonnenschein der großen, an den Wänden angebrachten Bogenlampen getaucht; die staubige Luft streute das Licht.

Man konnte die verschiedenen Generationen mühelos auseinanderhalten. Wie Holle und Grace gehörten die meisten Leute an Bord noch zu der Generation, die das Schiff vor achtzehn langen Jahren auf der Erde bestiegen hatte. Jetzt wurden sie allmählich alt; sie waren größtenteils Ende dreißig oder Anfang vierzig, und sie bewegten sich mühelos, aber ohne Eleganz.

Dann kamen die Teenager wie Helen Gray, die nach dem Start von Gunnison geboren waren, ihre Jugendjahre in der Mikrogravitation verbracht hatten und sich mit unbewusstem Geschick bewegten. Die meisten von ihnen besaßen jedoch keine große Ähnlichkeit mit Helen. Sie trugen primitive Kittel, die ihre Arme und Beine frei ließen; ihre Haut war mit Tätowierungen geschmückt, die zu den Graffiti an den Wänden passten, für die Erwachsenen unverständliche Zeichnungen, die jedoch ihre Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Stamm symbolisierten. Sie bewegten sich in Schwärmen wie exotische Fische in einem Bassin, ohne die Erwachsenen zu beachten, und behielten einander misstrauisch im Auge. Holle wusste, dass nur wenige dieser Kinder jemals am offiziellen Unterricht teilnahmen. Es bereitete ihr Sorgen, dass sie so wenig mit dem Schiff und seiner Mission verbunden waren; dies war immerhin die nächste Generation der Crew. Wilson behauptete, ihm sei das egal. Wenn er ihnen überhaupt einmal entgegentreten musste, schickte er seine Illegalen-Kumpane hin, eine größere, härtere Gang als die anderen. Andererseits hatte Wilson so seine eigene Art, mit diesen jungen Leuten umzugehen. Das war der Grund, weshalb Holle und Grace jetzt mit ihm sprechen wollten.

Und schließlich kamen die Jüngsten von allen, die Kinder von sieben Jahren und darunter, die im freien Fall geboren und aufgewachsen waren. Da sie nie etwas anderes kennengelernt hatten, schossen sie furchtlos durch die Luft. Eine Gruppe von Kindern arbeitete sich gerade an einer Wand nach oben, um sie zu säubern; sie hatten Reinigungsschwämme in den Händen und Wasserkanister auf den kleinen Rücken. Trotz des allgemeinen Lärms konnte Holle das Nonsense-Lied vernehmen, das die Kinder mit ihren Piepsstimmen bei der Arbeit sangen: »Lieblich Meer, sei mein Taifun / du bist mein Engie, mein Tiffie / lieblich Meer, sei mein Taifun …« Sie sangen es als Kanon, wobei sich die fragmentarischen Zeilen überlappten, und rieben mit ihren Schwämmen im Rhythmus der Musik über die Wand. Sie waren eine magere Brut, dachte Holle immer, überraschend kleinwüchsig, bleich wie die blinden Würmer, die einst in den lichtlosen Tiefen der Erdmeere geschwommen waren.

Und in einem vergleichsweise ruhigen Moment drang Zanes dünne Stimme aus dem Traumzirkel zu ihr herauf.

»Die Ärzte – aber sie sind keine richtigen Ärzte, und sie geben es sogar zu –, die sagen, ich existiere nicht. Ich bin nur ein Konstrukt der Beziehung zwischen diesen Teilmenschen, die in meinem Kopf wohnen und auch nicht existieren. Vielleicht ist das bei uns allen so. Vielleicht existiert keiner von uns, außer in der Art und Weise, wie wir uns aufeinander beziehen. Wenn wir einer nach dem anderen dieses Modul verließen, würde jeder von uns da draußen, allein im Dunkeln, vielleicht aufhören zu sein. Und wenn schließlich nur noch der Letzte von uns übrig wäre, eine Person, die sich noch im Modul befände – vielleicht würde er oder sie sich dann auch einfach in Nichts auflösen …«

Das war eindeutig Zane 3; Holle erkannte den Inhalt seiner Worte, die Manierismen wieder. Aber es war ein energischerer Zane 3, zorniger, stärker, irgendwie entschlossener. Vielleicht angespornt vom reintegrierten Schmerz von Zane 1.

»Weißt du, Wilson macht sich Sorgen wegen dem, was Zane so von sich gibt«, sagte Grace leise. »Zane bestreitet, dass irgendetwas außerhalb des Moduls existiert, und sagt, er erinnere sich an nichts, was vor dem Warp-Start vom Jupiter geschehen sei. Na ja, die meisten dieser Kinder waren auch noch nie außerhalb des Moduls, und sie erinnern sich ausschließlich an die Reise. Er sagt, was sie irgendwo tief in ihrem Innern hören wollen, denke ich.«

»Es ist bloß Unterhaltung. Die HeadSpace-Zellen sind zu teuer, deshalb tauschen sie Träume aus. Zane ist nur ein Geschichtenerzähler. Zwar ein unheimlicher, aber nicht mehr.«

»Bist du sicher? Er hat jahrelang Begründungen für seine Theorien entwickelt. Zum Beispiel behauptet er, ein Warp-Antrieb sei unmöglich; er könne das von den Grundprinzipien ausgehend beweisen.«

»Aber jedes dieser Kinder kann in die Kuppel gehen und zu den Sternen hinausschauen. Wie erklärt er das weg?«

»Es sei eine Simulation, mit offenkundigen Fehlern. Die Linsenwirkung des Warp-Feldes etwa, die sei nur eine Verwürfelung einer Sternenfeld-Projektion.«

»Und was für ›offenkundige Fehler‹ gibt es noch?«

»Seltsame Übereinstimmungen. Wir fliehen angeblich vor einer Flut, aber die Erde II lag in einem Sternbild namens Fluss. Flut, Fluss? Um unser Ziel in der Sternenlandschaft zu finden, hält man Ausschau nach dem Orion – und zugleich behaupten wir, mit einem sogenannten Orion-Antrieb von der Erde gestartet zu sein. Zane vertritt die Ansicht, diese Namensgleichheiten seien Symptome eines faulen Design-Regimes. Oder vielleicht von einem dissidenten Sim-Designer eingeschmuggelte Fingerzeige, die uns helfen sollen, die Wahrheit über unsere Situation herauszufinden.«

»Das sind doch alles bloß Zufälle!«

»So was wie Zufälle gibt’s in Zanes Welt nicht. Nur Verschwörungen. Und das ist noch nicht alles. Um festzustellen, woher wir kommen, schaut man zum Ophiuchus zurück, dem Schlangenträger. Dieser Teil des Himmels ist ausgelöscht, so dass man Sol, die Heimat des Menschen, nicht sehen kann. Aber warum der Schlangenträger? Zane hat im Archiv gewühlt und einen Bericht über Ouroboros gefunden, einen altägyptischen Mythos, eine Schlange, die unablässig ihren eigenen Schwanz verschlingt. Was wir also hinter uns sähen, sagt Zane, sei kein Warp-Kegel oder so etwas, sondern das Maul von Ouroboros, der fortwährend unsere falsche Realität verschlingt, während vor uns fortwährend eine neue Realität konstruiert wird, um uns die Illusion von Bewegung zu verschaffen.«

»Mein Gott. Ich hatte keine Ahnung, dass seine Fantasien mittlerweile so ausgeklügelt sind.«

Grace zuckte die Achseln. »Sogar ich glaube ihm manchmal. Nach achtzehn Jahren in diesem Tank scheint die Erde nur noch eine ferne, unwirkliche Erinnerung zu sein. Wenn mir nicht immer noch so die Füße wehtäten, weil ich all diese Jahre auf den Plains herumgewandert bin …«

Holle schüttelte den Kopf. »Ob wir nun in einem Käfig in der Wüste von Nevada begraben sind oder nicht, die Sanitäranlagen müssen trotzdem repariert werden. Daran halte ich mich fest. Da kommt Venus. Gehen wir zu Wilson und bringen wir das mit ihm und Steel hinter uns.«

 

In seiner Kabine trug Wilson nur schmutzige Shorts, Weste und Strümpfe, und er lag faul herum, lose an einen Haufen Decken geleint. Er setzte Fett an, und seine Haut war teigig.

Zwei seiner Kumpane waren bei ihm, Illegale namens Jeb Holden und Dan Xavi. Sie waren beide ehemalige Eye-Dees, die zu den Sicherheitsdiensten gegangen waren und sich beim Start der Arche mit Gewalt Zugang zum Schiff verschafft hatten. Jetzt waren sie übergewichtige Vierzigjährige, die wort- und tatenlos in den Ecken der Kabine hingen und die Frauen mit leicht einschüchterndem Gehabe beobachteten.

Von Steel, dem Zankapfel, war nichts zu sehen.

Wilson wusste, warum sie hier waren. Holle ergriff das Wort; gehemmt und nervös schlich sie um den heißen Brei herum.

Soweit sie wusste, hatte Wilson nach der Aufteilung Kelly nicht durch eine andere Dauerpartnerin ersetzt. Aber er hatte sich zahlreiche Geliebte aus der ganzen Crew zugelegt. Er hatte auch ein paar Kinder gezeugt. All dies war mit Zustimmung der beteiligten Frauen geschehen, und die Sozialingenieure in Colorado hätten es gutgeheißen, dass er seine Gene verbreitete. Doch dann war ihm bei einer Party Steel Antoniadi ins Auge gefallen. Nach der Farbe der Wände in diesem leergeräumten Modul benannt, war sie in der Mikrogravitation zu einem dunklen, gertenschlanken, unbewusst anmutigen Geschöpf herangewachsen, exotisch in ihrem Kittel und mit ihren Tattoos und erst vierzehn Jahre alt. Ihre Mutter, eine Illegale namens Sue Turco, hatte zu viel Angst vor Wilson gehabt, um etwas dagegen zu unternehmen. Aber ihr Vater, Joe Antoniadi, ein ehemaliger Kandidat, hatte sich bei den anderen Eltern darüber beschwert, insbesondere bei Holle, seiner Chefin.

Wilson schnitt Holle das Wort ab. »Was soll der Scheiß, Holle. Ich zwinge die Kleine zu nichts.«

»Darum geht es nicht, Wilson …«

»Schau mich an. Ich bin der mächtigste Mann auf dem Schiff. Seit zehn Jahren. Und reich bin ich auch! Ein Kredit-Millionär. Aber ich kann mir nichts kaufen. Also, was ist für mich drin? Ich will’s dir sagen. Nur das Appetitlichste auf dem Schiff. Ich rede von jungem Fleisch, Holle. Jung, heranreifend und genial biegsam nach einem Leben in der Schwerelosigkeit. Das ist für mich drin – habe ich jedenfalls beschlossen, als ich gesehen habe, wie Steel da durch die Luft gewirbelt ist.«

»Bei der Mission geht’s um die Kinder, Wilson«, sagte Venus hitzig. »Die sind nicht bloß irgendwelche ›Appetithappen‹, an denen du dich gütlich tun kannst. Was kommt als Nächstes, suchst du die Schülergruppen heim, um Köder für deine Handlanger zu finden? Ich kann einfach nicht glauben, was aus dem Jungen geworden ist, mit dem ich aufgewachsen bin.«

Wilson lachte nur. Einer seiner Kumpels furzte, ein obszön feuchtes Geräusch.

»Du legst es anscheinend drauf an, Ärger zu kriegen, Wilson«, sagte Holle. »Wir sind hier nicht in einem feudalen Dorf. Letztendlich regierst du auf Konsensbasis. Und du treibst es zu weit.«

Wilson warf Jeb und Dan einen Blick zu. Die beiden grinsten ihn an. »Ich lass es mir durch den Kopf gehen. Kann ich sonst noch was für die Damen tun?«

Die Letzte Arche
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