50

Sie glitten aus der Luftschleuse in stechendes, trübes Sonnenlicht.

Holle und Masayo standen schwerelos auf der Nase von Seba, einem mit Isoliermaterial umhüllten, fünfzig Meter hohen Turm. Die Verbindung zwischen den Modulen bestand aus einem dreiadrigen Stahlseil, das von der Nase des Moduls senkrecht nach oben führte und im matten Sonnenlicht glänzte. Holle zeigte Masayo, wie er die Sicherungsvorrichtung an seiner Taille an dem Seil befestigen musste. Sie lehnte sich zurück und folgte der Linie des Verbindungsseils nach oben, durch den unvollständigen Kreis des Warp-Generators direkt über ihr. Dahinter schwebte das zweite Modul, Hawila, mit der Nase nach unten im Himmel, zweihundert Meter entfernt. Es war eine außergewöhnliche Metallskulptur, die im fahlen Licht hing.

Sie sah Masayo an. Er stand in dem steifen Anzug unbeholfen da, das Gesicht hinter einem goldenen Visier verborgen. »Bereit? «, fragte sie.

»Bringen wir’s hinter uns.«

Holle legte einen Schalter um. Die Anzugwinden sprangen an, und sie stiegen mit baumelnden Beinen zügig und lautlos an dem Seil nach oben. Holle war unmittelbar vor Masayo. »Die Überfahrt wird ein paar Minuten dauern.«

»Ziemlich langsam«, sagte er leise.

»Ja, wegen der Sicherheit. Hast du’s eilig? Ich könnte den Regulator natürlich abschalten …«

»Nein, bloß nicht.«

»Ach, komm schon, genieß es. Schau dich um. Orientier dich. Dort ist die Sonne. Da drüben.« Sie zeigte hin. Die Sonne, fünf Mal so weit entfernt wie auf der Erde, warf ein seltsam trübes Licht und scharfe, seltsame Schatten. Ihr Licht war nicht mehr hell genug, um die Sterne zu bannen, die den Himmel überall um sie herum füllten, schärfer und zahlreicher als auf jedem irdischen Berggipfel. »Schau, man kann die Startstufe sehen …«

Das Startgerüst der Orion schwebte neben den miteinander verbundenen Modulen. Seine hitzebeständige pyramidenförmige Haube war noch vorhanden, die Prallplatte glänzte noch. Ohne die massigen Module wirkte das Innere wie ausgeweidet, und der mächtige thermonukleare Antrieb war endgültig verstummt. Der Rumpf erfüllte nun seine letzte Funktion als Konstruktionsplattform, während im Weltraum umherschwebende Astronauten – allesamt für diese Aufgabe ausgebildete Kandidaten – die Warp-Einheit um die Mitte des Modulseils herum zusammenbauten. Darüber hinaus konnte Holle die freischwebenden Plattformen erkennen, die Venus’ Planetensuch-Teleskope trugen, beide weit weg von den Vibrationen und den hellen Lichtern der Module. Ausschau nach dem Antimaterie-Schürfer zu halten, hatte keinen Sinn; er betrieb sein gefährliches Geschäft irgendwo zwischen Io und Jupiter, fünfzehn Millionen Kilometer entfernt. All diese Komponenten waren in der Schwärze verstreut, aber sie funkelten von Lichtern, von menschlicher Präsenz, wie eine kleine Stadt in der Umlaufbahn um den Jupiter.

Masayo schaute sich nervös um, die Hände um die Sicherungsleine an seiner Taille geklammert.

»Und dort«, sagte sie, »ist der Jupiter.« Sie zeigte in die Gegenrichtung der Sonne.

Der Jupiter war eine goldbraune, sichtbar abgeplattete Scheibe, das einzige Objekt im ganzen Universum außer dem Archen-Cluster selbst, das groß genug war, um nicht bloß als Punkt zu erscheinen.

»Irgendwie enttäuschend«, sagte Masayo.

Es war eine häufige Reaktion bei den Mitgliedern der Crew. »Ach, findest du?«

»Er ist nicht größer als der Mond, von der Erde aus gesehen.« Er hob einen Daumen, wackelte damit und verdeckte den Planeten. »König der Welten! Jemand hat mir erzählt, seine Masse sei so groß wie die aller anderen Planeten zusammen. Stimmt das?«

»Ja. Mehr als dreihundert Erdmassen.«

»Aber er ist doch bloß eine Gaskugel. Ich sehe diese großen Wolkenbänder, aber was soll’s? Selbst der Große Rote Fleck ist nur irgendwie schmutzig grau.«

»Du solltest mal mit Joe Antoniadi sprechen.«

Joe hatte sich unter anderem auf Klimatologie spezialisiert, und er verbrachte lange Stunden in der Kuppel und studierte den Jupiter, ein Super-Klimalabor. Der Große Rote Fleck war tatsächlich ein permanenter, Jahrhunderte alter Wirbelsturm, der unaufhörlich um die Wolkenbänder des Jupiter herumwanderte. Es gab beunruhigende Parallelen zwischen ihm und einigen der gewaltigen neuen Hypercanes, die den Äquator der Erde unsicher machten.

Aber sie waren nicht wegen des Jupiters selbst hier, sondern wegen der Produkte seiner Magnetosphäre.

»Du musst die Dinge in der richtigen Perspektive sehen. Weshalb sind wir so weit draußen? Warum gehen wir nicht in eine planetennahe Umlaufbahn und segeln in hundert Kilometer Höhe über den Wolken dahin, wie früher über der Erde?«

»Strahlung, richtig?«

»Genau. Der Jupiter ist eine Hochstrahlungsumgebung. Ein menschlicher Arbeiter würde dort unten mehr als dreitausend Rem pro Tag abbekommen – die tödliche Dosis liegt ungefähr bei fünfhundert.« Sie lehnte sich voller Vertrauen in das Seil zurück und wedelte mit den Anzugarmen. »Und glaub mir, wenn du das Magnetfeld des Planeten sehen könntest, würdest du nicht denken, dass der Jupiter so klein ist. Es ist zehn Mal so stark wie das der Erde, es speichert zwanzigtausend Mal so viel Energie und erstreckt sich weit ins All, sogar noch über den Radius unserer Umlaufbahn hinaus – doppelt so weit. Und es fängt geladene Teilchen von der Sonne ein.«

»Das macht die Strahlungsumgebung so tödlich.«

»Richtig. Aber das Wichtige für uns ist die Interaktion zwischen Io und dem Magnetfeld des Jupiter.« Durch Venus’ Teleskope hatte Holle die mächtigen Auroras gesehen, die über Jupiters Nachtseite spielten, und das Knistern der Radiowellen gehört, die von den gepeinigten Gasen ausgingen. Ios Flussröhre, ein System aus energiereichem Plasma, war eine natürliche Antimateriefabrik.

»Höllische Art, seine Aufgaben zu erledigen«, sagte Masayo.

Sie hatten jetzt den Mittelpunkt des Verbindungsseils erreicht, und Holle bremste sie ab, bis sie zum Stillstand kamen. Wenn sie sich von hier aus umschaute, sah sie das riesige Band des Warp-Generators, im Grunde ein kompakter Beschleunigerring, der sich um das Seil schloss. Speichen wie die eines Fahrrads verbanden den Ring mit einer Nabe im Mittelpunkt des Seils. An dem Ring sah sie die Funken eines Schweißbrenners, und zwei Arbeiter im Raumanzug bewegten sich geduldig um ein neu installiertes Verkleidungselement herum.

»Gibt es einen Grund, weshalb wir angehalten haben?«, fragte Masayo unruhig.

»Zeig auf die Sonne. Tu’s einfach.«

»Sie ist da drüben.« Er zeigte erneut hin, sein Finger dick in dem schweren Handschuh. »Oh. Nein, doch nicht.« Die Sonne hatte sich sichtbar um ihren Himmel bewegt, so wie der Jupiter und die Sterne. »Wir drehen uns.« Er hielt sich an dem Seil fest.

»Immer mit der Ruhe. Das da unten ist Seba, woher wir gekommen sind.« Sie zeigte hin. »Da ist unten. Die Gegenrichtung ist oben. Okay?«

Er entspannte sich mit erkennbarer Anstrengung. »Oben, unten, oben, unten«, murmelte er.

»Gut. Wir machen schon noch einen Astronauten aus dir. Vorläufig ist es bloß eine langsame Rotation. Eine vollständige Umdrehung dauert eine Stunde. Zu lange, als dass man die Zentripetalkraft im Innern der Module bemerken würde, aber es reicht, um das Verbindungsseil unter Spannung zu halten. Später werden wir uns schneller drehen.«

Wenn das Warp-Konstrukt fertig war, würde das gesamte Gebilde mit Hilfe von Korrekturtriebwerken in Drehung versetzt werden, so dass die beiden Module um den Mittelpunkt des Verbindungsseils rotierten wie zwei sich an den Händen haltende Eisläufer, die auf dem Eis herumwirbelten. Bei einer Umdrehungsdauer von dreißig Sekunden würde die Rotation in den Nasenschleusen eine scheinbare Schwerkraft von ungefähr fünfundvierzig Prozent eines Ge erzeugen – und da die Zentripetalkräfte stärker wurden, je weiter man sich vom Zentrum entfernte, würde auch die Schwerkraft bis auf ungefähr sechsundsechzig Prozent eines Ge am Fuß jedes Moduls steigen.

Dann würde die ganze unwahrscheinliche, zusammengebastelte Konstruktion in eine Warp-Blase eingeschlossen werden, die es aus dem Universum schnipste und mit einem Mehrfachen der Lichtgeschwindigkeit durch die Galaxis katapultierte.

»Geht’s jetzt endlich weiter?«, fragte Masayo angespannt.

»Gleich.« Das war ihre Chance. Sie holte ein Kabel aus ihrer Tasche; den einen Stecker stöpselte sie in ihre eigene Brustkonsole, den anderen in die von Masayo.

Er schaute nach unten. »Was ist das?«

»Direktverbindung von Anzug zu Anzug. Hat Vorrang vor dem Funksignal.«

»Oh. Niemand kann uns hören, stimmt’s?«

»So ist es.«

»Und worüber willst du sprechen?«

Sie überlegte. »Ich finde einfach, es wäre gut, wenn wir uns mal unterhalten. Ich meine, wir sind jetzt seit über fünfhundert Tagen auf dieser Arche.«

»Seit fünfhundertachtundvierzig. Paul Shaughnessy führt eine Strichliste an der Wand neben seiner Liege, als wäre er im Gefängnis. Tatsächlich war er mal im Gefängnis.«

»Sieh an, das wusste ich nicht.«

»Und nützt es dir was zu wissen, dass der Bruder des Kerls, der Thomas Windrup zusammengeschlagen hat, ein ehemaliger Knacki ist?«

»Hör mal, ich will dich nicht aushorchen. Du bist sehr defensiv. «

»Kannst du mir das verdenken? Du weißt, dass wir Illegalen uns einer ganzen Reihe von Beschuldigungen gegenübersehen, von Insubordination über unbefugtes Eindringen in Regierungseigentum bis zu Meuterei. Die Eltern einiger gestrandeter Kandidaten verklagen uns vor Zivilgerichten. Ist ganz gut, dass wir diese Arche nicht einfach umdrehen und heimfliegen können; ich käme selbst ins Gefängnis.«

»Ich habe immer gehört, dass du eigentlich gar nicht hier sein wolltest«, sagte sie behutsam. »Dass du einfach irgendwie mitgerissen wurdest.«

Er zögerte. »Ja, das stimmt. Ich war der Lieutenant, vergiss das nicht. Die Kerle haben mich mit vorgehaltener Waffe diese verdammte Gangway raufgeschleppt. Ich dachte, ich hätte noch Zeit, sie zur Umkehr zu bewegen oder zu entwaffnen und wieder von der Arche runterzubringen. Aber nachdem wir dann gestartet waren, dachte ich mir, ich sollte zu ihnen halten. Zumindest hatte ich eine Chance, sie an die Kandare zu nehmen. Nicht dass ich bei Jack gute Arbeit geleistet hätte, das gebe ich zu. Aber du musst es mal von ihrer Warte aus sehen, Holle. Auf der Erde standen wir an vorderster Front. Wir waren im bewaffneten Einsatz. Hier schrubben wir Dreck von den Wänden.«

»Dieselben Klagen höre ich von den Eindringlingen, wenn du’s wissen willst«, gab sie zu. »Vielleicht ist es unsere Schuld, die der Kandidaten. Ich weiß, wir können ganz schön herablassend sein.«

»Tja, halleluja. Eine selbstkritische Kandidatin. Es hätte auch geholfen, wenn ihr uns nicht die Waffen abgenommen hättet.« Als die Männer entdeckt hatten, dass ihre Waffen weg waren, hätte es beinahe eine Meuterei gegeben, einen Aufstand. »Meine Leute kommen alle aus harten Verhältnissen, meistens aus Eye-Dee-Lagern oder Banditengemeinschaften. Ihre Waffen sind ihre Identität. Als Kelly das gemacht hat, war es wie eine Kastration. «

»Kelly hat es für nötig gehalten. Ihrer Ansicht nach war das Risiko, Waffen im Schiff zu haben, größer als das Risiko solcher psychologischer Schäden.«

»Und du warst damit einverstanden?«

Holle dachte darüber nach. Kelly war trotz allem erst fünfundzwanzig, nur ein Jahr älter als Holle selbst. Sie war sehr jung gewesen für solche Entscheidungen. Dennoch hatte sie sie getroffen. »Ja, im Rückblick bin ich damit einverstanden. Damals wäre ich nicht auf die Idee gekommen. Ich schätze, ich bin nicht so weitsichtig oder entschlussfreudig wie Kelly. Aber ich bin einverstanden, ja. Und in Anbetracht dessen, was zwischen Shaughnessy und Windrup vorgefallen ist, war’s vielleicht ganz gut, dass keiner der beiden an eine Schusswaffe rangekommen ist.«

Sie legten eine kleine Pause ein, während sich die Sonne, der Jupiter und die Arche imposant um sie herum drehten.

Schließlich sagte sie: »Kommt mir vor, als hätten wir eher ein paar Eiterbeulen aufgestochen, als miteinander zu reden. Wir müssen das gelegentlich mal wiederholen.«

»Ja. Aber nicht hier draußen, okay?«

»Klar.« Sie stöpselte das Kabel zwischen ihnen aus, steckte es weg und griff nach der Seilführung an seiner Taille. »Bist du bereit? «

»Wofür?«

»Dafür.« Sie betätigte eine Taste, und die Vorrichtung drehte ihn um den Fixpunkt an seiner Taille, so dass sein »Unten« jetzt zu Hawila zeigte, seinem Ziel, und nicht mehr zu Seba.

»Ach du Scheiße.«

»Der Anzug! Pass auf den Anzug auf!«

Die Letzte Arche
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