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Fünf Tage, nachdem Seba in die Erdumlaufbahn eingeschwenkt war, rief Masayo Kelly über Funk an und bat sie, ins Cockpit des Shuttles zu kommen.
Sie schwebte durch die Schleuse hinüber. Mike Wetherbee und Masayo warteten auf sie, lose auf die beiden Pilotenliegen in der Nase des Shuttles geschnallt. Kelly gab Masayo einen innigen Kuss, dann schwebte sie hinter den beiden Männern und schaute ihnen über die Schulter. Lange Minuten blickten sie schweigend zu den großen Cockpit-Fenstern hinaus.
Draußen vor den Fenstern ragte die Erde über ihnen auf. Selbst nach fünf Tagen fiel es ihnen schwer zu glauben, dass sie hier waren, dass sie es nach einem siebenjährigen Rückflug von der Erde II tatsächlich geschafft hatten, wieder nach Hause zu kommen. Doch dies war die nüchterne Realität.
Die Welt war ein Schild aus klumpigen Wolken, so nah, dass ihre Krümmung kaum sichtbar war. Wenn Kelly zum Horizont schaute, sah sie die Wolkenbanken in ihrer dreidimensionalen Pracht, kontinentgroße Stürme, gekrönt von riesenhaften Gewitterwolken. Seba näherte sich dem Terminator, der diffusen Grenze zwischen Nacht und Tag, und in der irgendwo hinter dem Modul stehenden Sonne warfen diese gewaltigen Gewitterwolken Schatten auf die Wolkenbänke darunter. Über die Monitore plätscherten und blinkten unterdessen Daten und Bilder von der Erde, Informationen über das Klima, die Ozeanographie, die Atmosphärenzusammensetzung und alles andere, zusammengetragen von Instrumenten, die zur Untersuchung einer neuen Welt gedacht, deren elektronische Augen jetzt jedoch auf die alte gerichtet waren.
»Und, wie geht’s Eddie?«, fragte Masayo.
»Gut. Er flippt gerade mal wieder ein bisschen aus. Du weißt ja, wie er ist, bevor er endlich sein Nickerchen macht.« Eddie, Kellys zweites Kind – der Vater war Masayo Saito –, inzwischen vier Jahre alt, gezeugt und geboren in der Mikrogravitation, war ein spindeldürres Energiebündel. Eddie war eins von nur vier Kindern, die während der Rückreise von der Erde II zur Welt gekommen waren, was die Anzahl der Crewmitglieder auf dreiundzwanzig erhöht hatte. In dem für eine nominelle Crew von vierzig oder mehr Personen konstruierten Modul gab es für Kinder reichlich Platz zum Spielen. »Jack Shaughnessy ist bei ihm. Er steckt ihn ins Bett, wenn er sich beruhigt hat.«
»Gut.« Masayo lächelte. Sein breites Gesicht war ins Licht der Erde getaucht.
Kelly verspürte eine Aufwallung von Zuneigung für ihn. Masayo war jetzt einundvierzig. Er hatte sein jungenhaftes, gutes Aussehen an sich lichtendes Haar und einen immer dicker werdenden Hals verloren, und wie alle Crewmitglieder war er nach achtzehn Jahren in der Arche viel zu blass, mit einer Dunkelheit um die Augenfalten. Doch aus seiner Miene sprach seine unverwüstliche gute Laune, und die natürliche, unverkrampfte Autorität, der ihm einst die Loyalität der Shaughnessys und seiner anderen bunt zusammengewürfelten Illegalen eingetragen hatte, brachte ihm nun die Liebe seines Sohnes ein.
Liebte sie Masayo? Liebte er sie? Diese Fragen waren nicht zu beantworten, hatte sie vor langer Zeit entschieden. Ohne die einzigartigen Umstände der Mission wären sie niemals zusammengekommen und schon gar nicht zusammengeblieben. Aber dies war nun einmal das Gefüge, in dem sie lebten und in dem jede Beziehung gedeihen musste. Auf jeden Fall glaubte sie, dass er gut für sie war.
Aber Mike Wetherbee beobachtete Kelly auf seine klinische, leicht wertende Art und Weise. »Jack ist ziemlich zuverlässig«, sagte er in spitzem Ton. »Du kannst ihm vertrauen. Glaube ich.«
Nach außen hin schien Mike darüber hinweggekommen zu sein, dass er vor sieben Jahren betäubt und gefesselt aus Hawila entführt worden war. Doch sobald er die Chance dazu bekam, setzte er Kelly unter Druck, vor allem wegen ihrer Kinder, bohrte in diesem dumpfen Schmerz herum, dieser schrecklichen Erinnerung daran, dass sie ein Kind aufgegeben hatte. Mike hatte keine Ausbildung zum Psychiater absolviert; all seine diesbezüglichen Fähigkeiten hatte er durch die Behandlung von Patienten, insbesondere von Zane, nach dem Start erworben. Er schien viel gelernt zu haben, wenn man nach der langsamen, subtilen Folter ging, der er Kelly unterzog.
Heute jedoch lag Kellys Augenmerk auf der Gegenwart, nicht auf der Vergangenheit, und sie beachtete ihn nicht. »Also, was haben wir in Erfahrung gebracht?«
Masayo grunzte. »Nichts Gutes. Falls wir gehofft hatten, die Erde wäre irgendwie geheilt worden – nun, dann werden wir enttäuscht.« Er blätterte in Bildern und summarisch zusammengefassten Daten auf einem Bildschirm vor ihm. »Es gibt kein sichtbares Land, überhaupt keins. Dem Radar zufolge ist das Wasser allerdings nicht so tief, wie wir vielleicht erwartet haben. Der neue Meeresspiegel liegt ungefähr fünfzehn Kilometer über dem alten, während wir aufgrund der von den Ozeanographen vor unserer Abreise entwickelten Modelle eher mit fünfundzwanzig gerechnet haben.«
Mike Wetherbee verzog das Gesicht. »Nur fünfzehn Kilometer? «
Masayo grinste. »Ja. Wie sollen wir das der Crew beibringen? Wollt ihr die guten Nachrichten oder die schlechten Nachrichten hören?« Er rief eine schematische Karte des Klimasystems der Erde auf. »Jetzt, wo keine Kontinente mehr im Weg sind, keine Saharas und Himalayas, ist das Wettergeschehen simpler geworden. Seht es euch an.«
In jeder Hemisphäre erzeugte die äquatoriale Erwärmung durch die Sonne drei gewaltige, parallel zum Äquator verlaufende Konvektionsgürtel, die Wärme zu den kühleren Polen transportierten. Diese riesigen Kreisläufe schufen so etwas wie eine Spirale stabiler Winde, die sich um den rotierenden Planeten schlängelte. Es war ein Jahrmilliarden altes, weiterhin existierendes Muster, das auch jetzt noch einen großen Teil der langfristigen Klimamuster der Welt bestimmte. Zugleich war das Strömungsnetz im Ozean jetzt viel simpler, denn die Kontinente lagen kilometertief unter der Wasseroberfläche und konnten der Zirkulation der Strömungen keinen Widerstand mehr entgegensetzen. Selbst die riesigen Wirbel – tote Zonen im Ozean, wo sich der Abfall der Menschheit gesammelt hatte, das Ziel leidgeplagter Floßgemeinschaften auf der Suche nach irgendetwas Brauchbarem – waren mittlerweile verschwunden. Ein primitives System atmosphärischer Zirkulation, mächtige Meeresströmungen, die schlichten Mustern folgten, keine Spur von Land oder auch nur Polareis irgendwo auf der Welt: Dies war eine Erde, die auf Elementargewalten reduziert war, dachte Kelly, wie eine Lernhilfe in Klimakunde. Nichts als die grundlegenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten eines sich drehenden Planeten.
Und dennoch war diese Meereswelt nicht einförmig, sondern besaß ausgeprägte Besonderheiten. Masayo rief das Bild eines gewaltigen Sturms auf, der in den niedrigeren Breiten der nördlichen Hemisphäre umherstrich, eine milchige Spirale von der Größe eines Kontinents, die unablässig Tochterstürme abspaltete, eigenständige, bösartige Hurrikane. »Soweit wir wissen, ist dies noch immer derselbe Sturm, den sie vor achtzehn Jahren ›der Fleck‹ genannt haben«, sagte er. »Vielleicht wird uns das irgendjemand da unten bestätigen können. Er erzeugt Winde von Geschwindigkeiten von ungefähr dreihundert Stundenkilometern. Das sind ungefähr null Komma zwei-fünf Mach – ein Viertel der Schallgeschwindigkeit. Müssen bei diesen Abfallflößen höllische Schäden anrichten.«
»Also wassern wir weit entfernt von ihm«, sagte Kelly leise. »Aber wo?«
»Es gibt kein auf der Hand liegendes Ziel«, sagte Masayo. »Offensichtlich kein Land. Nichts als lauter einzelne Flöße. Manchmal sieht man ihre Lichter bei Nacht. Einige scheinen gar keine Lichter zu haben. Sie neigen dazu, sich über den alten Kontinentalschelfen zu sammeln, besonders über ehemaligen Stadtgebieten, den Großstädten.«
Mike sagte: »Wir haben ein paar Funkbotschaften aufgefangen, die größtenteils nicht an uns gerichtet waren.«
»›Größtenteils‹?«
»Bloß Geplapper. Leute, die nach Verwandten und vermissten Kindern fragen und Neuigkeiten über Stürme und Fischgründe austauschen. Ein paar Leute beobachten nach wie vor das Klima, die weiterhin stattfindenden Veränderungen. Die Kommunikation läuft über das noch vorhandene Satellitennetz. Ich glaube, ein paar von ihnen versuchen, den Mond als Reflektor zu benutzen …«
»Nochmal von vorn, Mike. Du hast gesagt, ›größtenteils‹. Die Signale seien ›größtenteils‹ nicht an uns gerichtet gewesen.«
Er grinste. »Deshalb haben wir dich geholt, Kelly. Vor einer halben Stunde haben wir das hier aufgefangen, von einem Floß über Nordamerika.« Er tippte auf seinen Bildschirm, und aus einem Lautsprecher kam eine knisternde, immer wieder abgespielte Aufzeichnung:
»… wusste, dass ihr zurückkommen würdet. Ich warte seit einem Jahr darauf, dass ihr auftaucht, seit dem frühestmöglichen Rückkehrzeitpunkt. Die Erde II ist nicht der Knaller, hm? Tja, wenn ihr eine einheimische Führerin braucht, kommt hier runter und schaut bei mir vorbei. Ihr könnt dieses Signal zurückverfolgen … Hier ist Thandie Jones, irgendwo über Wyoming, auf dem Panthalassa-Meer. Thandie ruft die Arche Eins. Ich sehe euch! Ich wusste, dass ihr zurückkommen würdet …«