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Sie fuhren durch eine letzte Stadt namens Fairplay, in der ein Freilichtmuseum mit alten Holzbauten aus den Goldgräber-Camps von Flüchtlingen besiedelt worden war. Gordo sagte, das Museum sei früher viel umfangreicher gewesen, aber Brennholz sei nun mal heiß begehrt.
Dann folgten sie auf einem gut erhaltenen Highway den Schildern zum Hoosier-Pass und gelangten schließlich nach Alma. Ein ausladender Berg namens Mount Bross ragte über dem Ort auf; an seinen Flanken erstreckte sich ein vom Holzeinschlag zernarbter Kiefernwald. Die ursprüngliche Stadt war nicht viel mehr als eine Handvoll klobiger Gebäude zu beiden Straßenseiten, die sich zwischen rostenden Tempolimit-Schildern zusammendrängten. Um die alten Häuser herum hatten sich jedoch neuere, großflächigere Bauten angesammelt, Kästen aus Glas und Sichtbeton.
Die Wagen bogen von der Straße auf einen Feldweg ab und hielten vor einem gesichtslosen Kasten. Über eine schwere Stahltür war in ordentlichen Lettern ein Spruch gepinselt: »1. Mose 11,6: NUNMEHR WIRD IHNEN NICHTS UNMÖGLICH SEIN, WAS IMMER SIE SICH VORNEHMEN.« Seltsamerweise stand eine Kinderschaukel aus Metall und leuchtend buntem Plastik vor der Tür.
Die Fahrerin stieg aus, öffnete Gordo die Tür und salutierte zackig.
Gordo hielt sich ein Handy ans Ohr. »Hey, Holle? Schön, dass ich dich erwische. Könntest du wohl mal rauskommen? Ich möchte dir jemanden vorstellen.« Er steckte das Handy weg. »Macht nicht sonderlich viel her, was? Aber wir haben einiges vom NASA-Gelände in Houston geborgen – den Kontrollraum, Kommunikationseinrichtungen, Trainingszentren, sogar einen kleinen Atomreaktor – und das ganze Zeug hier raufgeschafft, in eine winzige Goldgräberstadt namens Alma. Und weißt du, warum? Weil Alma, zehntausenddreihunderteinundsechzig Fuß über dem alten Meeresspiegel, die höchstgelegene Ortschaft in den Vereinigten Staaten ist.«
»Das stimmt leider nicht ganz, Sir«, sagte die Fahrerin. Sie war nicht älter als Grace. »Meine Mutter ist hier in der Gegend geboren, und sie sagt, Alma hätte den Titel an Winter Park verloren …«
Gordo tat das mit einer Handbewegung ab. »Das Einzige in Winter Park, was höher liegt als Alma, sind Skilifte, also zum Teufel damit, Cooper.«
»Entschuldigung, Sir.«
»Manchmal arbeiten Regierungsapparate auf denkbar schlichte Weise, Grace. Die Entscheidungsträger wollten, dass diese Einrichtung so lange wie möglich bestehen bleibt, ganz gleich, wie schlimm es mit der Flut wird. Wo baut man also? Man sucht in den amtlichen Ortsverzeichnissen nach der höchstgelegenen Stadt in Amerika, und darum ist ein dicker Batzen des teuersten staatlichen Projekts seit der Verlegung des Regierungssitzes nach Denver in diesem kleinen Gebirgsort mit seinen zweihundert Seelen gelandet. Schau, ich wohne dort drüben – siehst du den Kasten hinter der Steinkirche? Manche von uns beten dort sonntags.«
»Was für eine Einrichtung? Was ist das hier?«
Die Tür ging auf. Eine schlanke, mittelgroße junge Frau kam heraus, vielleicht ein- oder zweiundzwanzig Jahre alt, blass, das rote Haar kurzgeschoren. Sie trug einen knalligen blau-roten Overall; in den Taschen steckten Handys und andere Gerätschaften. Sie kniff im Tageslicht die Augen zusammen und sah Grace wachsam an.
»Grace, das ist Holle Groundwater, eine unser vielversprechendsten Kandidatinnen. Obwohl das nicht viel besagt. Holle, das Grace Gray – und Grace junior«, sagte er und zeigte unbeholfen auf Graces Bauch. »Sie ist wegen des Auswahlverfahrens hier. Vielleicht kannst du ihr alles zeigen.«
»Klar.« Holle lächelte Grace an und streckte ihr die Hand hin. Aber Grace sah, dass ihr Lächeln gezwungen war.
»Du scheinst nicht gerade erfreut zu sein, mich zu sehen«, sagte Grace unverblümt.
Holle zog dünne Brauen über meerblauen Augen hoch. »Es ist einfach so, dass wir schon genug Konkurrenz um die Plätze haben, und uns bleiben nur noch ein paar Monate. Das Letzte, was wir brauchen, sind weitere Bewerber.« Sie hatte einen sanften, singenden, möglicherweise britischen Akzent, den Grace nicht kannte. Dann grinste sie. »Das ist natürlich nicht deine Schuld.«
»Plätze? Plätze worauf?«
Aber sie bekam keine Antwort. Die Leute hier waren offenbar gewohnheitsmäßige Geheimniskrämer. Holle war gut genährt, ernst und lebhaft. Grace rief sich ins Gedächtnis, wie sie in Holles Alter gewesen war, noch auf der Straße, Füße wie Leder und kein Gramm Fett am Körper, ihre gesamte Habe in einem verschossenen Rucksack auf dem Rücken.
Vielleicht spürte Gordo die Spannung zwischen den Frauen. Er nahm seine Mütze ab und fuhr sich mit einer Hand über den angegrauten Schädel. »Hör zu, Grace. Du wirst deine Fähigkeiten irgendwie unter Beweis stellen müssen. Ich gebe dir einen Auftrag. Wir haben hier gerade ein Verbrechen aufzuklären.«
»Was für ein Verbrechen?«
»Einen Mord«, sagte Gordo schlicht.
Das Wort schockierte Grace. Sie schaute ausdruckslos auf den Betonkasten, auf den Bibelspruch und in Holles aufmerksames, kompetent wirkendes Gesicht. »Ich habe keine Ahnung, wie man ein Verbrechen untersucht. In Walker City hatten wir Cops, und auf der Arche Nathans Wachleute …«
»Du kannst damit anfangen, dass du mit Holle redest. Bring in Erfahrung, wie für sie alles angefangen hat. Ich meine, du gehörst zum Projekt, seit du sechs warst – stimmt’s, Kleine?«
Holle lächelte. »Meinem Vater zufolge, seit meine Mutter mit mir schwanger war.«
»Auf diese Weise kannst du herausfinden, was wir hier vorhaben. « Gordo grinste. »Ja. Klär das Verbrechen auf und verdien dir deinen Platz. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich habe nur selten mal eine Idee, aber wenn, ist sie meistens gut. Also, ich habe noch einiges zu tun, nicht zuletzt muss ich die Bergung von Nathan Lammocksons Samenbank aus seinem sinkenden Schiff organisieren. Aber bevor ich gehe …« Gordo wühlte in einer Jackentasche und brachte einen Schlüsselring mit einem auffälligen Anhänger zum Vorschein. »Diese Dinger gebe ich den Regierungsheinis und jedem anderen, der meiner Ansicht nach ein bisschen Erleuchtung gebrauchen könnte. Worauf wir hinarbeiten.« Er legte das kleine Artefakt in Graces Hand.
Sie hob den Schlüsselring hoch. Der Anhänger war eine durchsichtige bläuliche Kugel von etwa einem Zentimeter Durchmesser, in die zwei mit einem Stück Draht verbundene silberne Splitter eingebettet waren. »Was ist das?«
»Frag Holle. Wir sehen uns, Groundwater.« Er ging zu den Wagen zurück, und Grace blieb wieder einmal mit einer Fremden allein.
»Hier entlang – Grace, richtig?« Holle führte Grace ins Gebäude.
Im Innern bestand der kastenförmige Bau aus Gängen, Büros und Computerräumen, die vom Summen einer Klimaanlage erfüllt waren. Grace fühlte sich an Einrichtungen an Bord von Lammocksons Arche Drei erinnert, die Brücke, den Maschinenraum.
Die beiden begegneten niemandem, bis sich der Gang zu einem Raum mit Gruppen von Stühlen, Mikrofonen und Bildschirmen vor einer Glaswand öffnete. Durch das Glas sah Grace einen größeren Saal, der ein Stück weit in den Boden eingelassen war, so dass sie auf Reihen von Menschen vor Konsolen hinabschaute, über deren helle Monitore Texte und Bilder liefen. Zwei riesige Bildschirme nahmen die Wand vor ihnen ein. Auf dem einem sah man eine von diversen Bahnen überzogene Weltkarte, die Kontinente blau umrissen, noch existierende hoch gelegene Gebiete leuchtend grün. Auf dem zweiten lagen konzentrische Kreise um einen hellen Punkt; jeder Kreis war mit einer Scheibe markiert. Gary hatte in seinem amateurhaften Bildungsprogramm immer einen Schwerpunkt auf die Naturwissenschaften gelegt. Grace erkannte, dass sie eine Karte des Sonnensystems vor sich sah.
Holle beobachtete sie neugierig. Grace kam sich in dieser technologischen Höhle völlig deplatziert vor; sie trug immer noch die Kleidungsstücke, die sie an diesem Morgen auf der Arche angezogen hatte, und ihre mickrige Sammlung von Habseligkeiten war ein für alle Mal verloren.
»Das hier ist das Nervenzentrum unseres Projekts«, sagte Holle.
»Was ist das?«
»Das Kontrollzentrum. Wir führen gerade eine Simulation durch …«
»Und das hier?« Grace hielt den Schlüsselring mit der Kugel hoch.
»Unser Raumschiff.« Holle lächelte; eine elementare Menschlichkeit schien hinter ihrer vom Konkurrenzdruck geprägten Reserviertheit auf. »Komm. Du siehst aus, als könntest du einen Kaffee brauchen. Dann reden wir darüber, wie Harry Smith getötet wurde. Und ich erzähle dir, wie wir hier angefangen haben.«