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Liu eröffnete die Diskussion über seine »Kategorie zwei«. Er zeigte ihnen Diagramme, Tabellen und künstlerische Darstellungen exotischer Welten.

»Wie viele andere Programme war auch die ›Planetensuche‹ – das heißt die Entdeckung und Erforschung von Planeten anderer Sterne mittels hochmoderner teleskopischer und fotografischer Techniken, auch mit Hilfe von Weltraumteleskopen – im Gefolge der Flut von erheblichen Kürzungen betroffen«, dozierte Liu. »Dennoch wurden schon vor der Flut etliche Hundert solcher ›Exoplaneten‹ gefunden, und inzwischen sind weitere hinzugekommen. Mehrere Dutzend von ihnen gleichen der Erde. Sie haben eine erdähnliche Masse und scheinen Meere aus Wasser zu besitzen …«

»Auf einigen davon gibt es Leben«, erklärte Jerzy Glemp mit einem Lächeln. »Das wissen wir von ihren atmosphärischen Signaturen – Sauerstoff, Methan. Spektroskopische Spuren chemischer Stoffe, die durch Fotosynthese entstanden sind.«

Patrick war verblüfft. »Wir haben Leben auf anderen Planeten gefunden? Das wusste ich nicht.«

»Heutzutage stehen in den Nachrichten für gewöhnlich irdische Themen im Vordergrund«, erwiderte Kenzie trocken.

»Was für eine Ironie, nicht wahr«, sagte Jerzy. »Just in dem Moment, wo wir auf der Erde selbst im Aussterben begriffen sind, haben wir endlich Leben auf anderen Welten entdeckt.«

Liu sagte: »Diese Welten sind nur insofern ›erdähnlich‹, als sie mehr mit der Erde gemeinsam haben als beispielsweise der Mars. Trotzdem …«

»Trotzdem«, sagte Kenzie, »wenn so einer im Sonnensystem herumflöge, würden wir unsere Kinder auf der Stelle rüberschießen. Richtig? Also, wie weit sind sie weg?«

Jerzy Glemp zuckte die Achseln. »Tja, da liegt der Haken. Das nächste Sonnensystem ist Alpha Centauri – vier Lichtjahre entfernt. Das ist eine schwer fassbare Distanz: ungefähr vierzig Billionen Kilometer. Hundert Millionen mal weiter von der Erde entfernt als der Mond.«

Kenzie wischte das mit einer Handbewegung beiseite. »Und die nächste erdähnliche Welt? Wie weit bis dorthin?«

»Der nächste halbwegs brauchbare Kandidat ist sechzehn Lichtjahre entfernt.«

»Oh, mehr nicht? Okay, und wie kommen wir da hin? Nach unserer vorherigen Diskussion über die Kuppeln auf dem Mars zu schließen, geht ihr wohl nicht davon aus, dass wir ein Raumfahrtprojekt von mehr als ein paar Jahren Dauer – höchstens einem Jahrzehnt – ohne Unterstützung von außen durchführen können. Das ist der zeitliche Rahmen. Richtig? Wie kommen wir also binnen eines Jahrzehnts zu den Sternen? Ich nehme mal an, chemische Raketen, das Shuttle und die Saturn, sind out. Wenn Apollo drei Tage gebraucht hat, um zum Mond zu fliegen …«

Patrick grinste. »Nur drei Millionen Jahre bis zur Erde II!«

»Eine Alternative wäre ein Rückstoßstrahl aus Ionen – geladenen Atomen –, die mittels Elektrizität beschleunigt werden«, sagte Glemp. »Die Austrittsgeschwindigkeit wäre erheblich höher, so dass man viel schneller vorankäme …«

Aber Liu grub sofort eine schon etwas angegraute Studie aus, derzufolge selbst eine Ionenrakete das Äquivalent von hundert Millionen Supertankern voller Treibstoff bräuchte, um Alpha Centauri binnen eines Jahrhunderts oder weniger zu erreichen.

»Dann Nukleartriebwerke«, fuhr Glemp fort. »Damals in den Sechzigern hat die NASA Bodentests mit einem Kernspaltungstriebwerk durchgeführt – Wasserstoff wurde durch einen heißen Atomreaktor geschickt, darin aufgeheizt und dann hinten rausgespritzt …« NERVA hatte funktioniert. Doch beim Durchblättern theoretischer Studien aus dem Archiv stellten sie auch diesmal rasch wieder fest, dass der Treibstoffbedarf für einen interstellaren Flug im gewünschten Zeitrahmen jedes Maß überstieg. Sie fanden jedoch einiges brauchbare Material, zum Beispiel eine NASA-Studie über nukleare Leichtbau-Triebwerke, die eine Generation unbemannter Jupitermond-Explorer antreiben sollten, Sonden, die nie gebaut worden waren; Glemp und Liu markierten solches Material zur weiteren Lektüre.

»Eigentlich«, sagte Glemp, »benötigt man für die Reise zu den Sternen gar keinen Treibstoff. Man kann ein Sonnensegel benutzen …« Ein mehrere Kilometer großes Segel aus einem hauchdünnen, widerstandsfähigen Material, das den sanften, niemals nachlassenden Druck des Sonnenlichts aufnahm, der solaren Photonen, die von einer verspiegelten Fläche abprallten. »Ein solches Raumfahrzeug würde nur noch Jahrhunderte brauchen, um die Sterne zu erreichen.«

»Zu lange!«, fauchte Kenzie. »So kommen wir nicht weiter, Leute.« Er schob seinen Stuhl zurück und marschierte in dem Raum auf und ab. Bei den Kindern hielt er kurz inne; sie spielten gerade eine Belagerung ihrer Plastikburg durch, während Harry sie geduldig dabei filmte. »Captain Kirk hatte nie solche Probleme«, sagte Kenzie. »Wo ist der Warp-Antrieb, wenn man ihn braucht?«

Sie lachten alle, außer Liu, und Patrick fragte sich, ob es daran lag, dass er noch nie etwas von Star Trek gehört hatte. Aber der Chinese sagte: »Das wäre natürlich die Lösung. Ein überlichtschneller Antrieb.«

»So was gibt’s nicht«, erwiderte Kenzie.

»So was kann es nicht geben«, ergänzte Jerzy Glemp mit fester Stimme. »Einstein zufolge ist die Lichtgeschwindigkeit die absolute Geschwindigkeitsobergrenze in der Raumzeit unseres Universums.«

»Richtig«, sagte Liu. »Aber die Raumzeit selbst ist nichts Feststehendes. Das ist der Kern der allgemeinen Relativitätstheorie. In der Anfangsphase des Universums erfuhr die gesamte Raumzeit eine ungeheure Ausdehnung. Während des Intervalls, das man Inflation nennt, ging diese Ausdehnung sogar mit Überlichtgeschwindigkeit vonstatten.«

Patrick kam nicht mehr mit, aber Jerzy Glemp war voll bei der Sache. »Was wollen Sie damit sagen? Dass wir in einer Blase sich aufblähender Raumzeit fliegen sollen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Liu Zheng. »Ich erinnere mich vage an eine alte Studie … Darf ich nachsehen?« Kenzie erteilte ihm mit einer Handbewegung die Erlaubnis, und Liu begann, sich durch Seiten voller Quellenangaben und Zitate zu scrollen.

»Vielleicht sollten wir unser zentrales Problem mal einen Moment lang beiseitelassen«, schlug Kenzie vor. »Schließlich geht es uns darum, hier in Colorado ein Raumfahrtprogramm aufzulegen. Wie auch immer wir zu den Sternen reisen, wir werden zunächst einmal Startvorrichtungen brauchen, um in den Orbit zu gelangen: Abschussrampen, Ablenkgruben, Flüssigsauerstoffwerke, Kommunikationseinrichtungen, ein Kontrollzentrum, die ganze Cape-Canaveral-Arie. Wir müssen ein paar Raumfahrttechniker finden, Jerzy. Und echte Astronauten, die unsere Leute ausbilden. Da muss es doch noch welche geben.«

»Canaveral ist schon längst untergegangen«, bemerkte Patrick. »Zusammen mit Florida. Aber im Westen gab es eine alternative Abschussbasis.«

»Vandenberg«, sagte Kenzie. »Eine Anlage der Air Force. Ist bestimmt auch schon überschwemmt worden, aber vielleicht erst in jüngerer Zeit. Wenn wir uns an einem dieser Orte Ausrüstungsgegenstände besorgen müssen, wäre Vandenberg wohl die bessere Wahl.«

»Aber das ist eine gewaltige Aufgabe«, wandte Patrick ein. »Ein komplettes neues Raumfahrtprogramm! Wie wollen Sie die Regierung in diesen Krisenzeiten dazu bewegen, ein solches Projekt zu unterstützen?«

Kenzie lächelte. »Da bietet sich immer die Landesverteidigung an. Sehen Sie, die Flut hat unter anderem unsere militärischen Kapazitäten weitgehend ausgeschaltet. Sicher, wir haben Interkontinentalraketen mit Nuklearsprengköpfen aus den überschwemmten Silos in Kansas woandershin verlegt. Aber die elementare Infrastruktur ist ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden. NORAD im Cheyenne Mountain, nicht weit von hier, ist noch in Betrieb. Aber Cheyenne hat nur Daten gesammelt und Raven Rock, die bereits verlorengegangene unterirdische Kommandozentrale des Pentagons an der Grenze zwischen Pennsylvania und Maryland, mit Warnungen gefüttert. Mittlerweile geben unsere Satelliten einer nach dem anderen den Geist auf. Selbst unsere Radarabwehrsysteme versagen, nachdem nun auch die Basen in Großbritannien und Kanada unter Wasser stehen. Und aus China, Russland und Indien dringt Kriegslärm herüber. Was, wenn diese Burschen zu dem Schluss gelangen, dass sie hier in den USA ein bisschen Lebensraum brauchen? Was wollen wir dagegen unternehmen? Ich glaube, man könnte der Bundesregierung durchaus verkaufen, dass wir hier auf hoch gelegenem Gebiet ein Raketenabschussgelände brauchen, damit wir über die Mittel verfügen, Aufklärungssatelliten zu starten und im Falle eines Angriffs zurückzuschlagen.«

»Ist das nicht reichlich zynisch?«

Kenzie grinste nur. »Das Raumfahrtprogramm war schon immer ein Ableger der Militärprogramme. Die ersten Astronauten sind mit waschechten Interkontinentalraketen in die Erdumlaufbahn geflogen. Und überhaupt, ist es nicht für einen guten Zweck? Joe – machen Sie sich eine Notiz. Und dann gehen Sie ans Werk und besorgen Sie mir einen Termin bei der Präsidentin, sobald wir einen halbwegs brauchbaren Einkaufszettel vorweisen können …«

»Ich hab’s«, sagte Liu leise.

Er las vor: »›Der Warp-Antrieb: überlichtschnelle Reise im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie‹. Eine Abhandlung aus dem Jahr 1994. Ich bin kein Relativitätsspezialist, aber ich muss sagen, dass mir die Idee solide erscheint. Es ist nur ein theoretisches Konzept, aber da sind eine Reihe von Zitaten …«

Jerzy rief rasch eine Kopie der Abhandlung auf und überflog sie. »Mein Gott, Liu. Ein überlichtschneller Ritt auf einer Raumzeitwelle. Das ist es.«

»Die technischen Details fehlen völlig. Und der Energiebedarf ist beängstigend …«

»Aber wir haben das Konzept.« Jerzy grinste Kenzie an. »Wir müssen uns sofort an die Arbeit machen.«

Kenzie schaute mit offenem Mund vom einen zum anderen. »Wenn das kein Humbug ist – okay. Sagen Sie mir, was Sie als Erstes brauchen.«

Jerzy überlegte. »Mathematiker. Physiker. Informatiker. Jeden, der etwas mit Vorläuferstudien zu tun hatte, zum Beispiel mit dem alten Breakthrough Propulsion-Programm der NASA in den 1990er Jahren. Und wenn wir uns ernsthaft auf einen langen Raumflug einstellen, werden wir, nebenbei bemerkt, auch Experten für Lebenserhaltungssysteme, Biologen, Ärzte, Soziologen und Anthropologen brauchen.«

»Und ein KI-Programmpaket mit symbolischen Manipulator-Tools«, sagte Liu.

»Ein was?«

»Wir werden eine Warp-Blase erzeugen. Das wird eine speziell konstruierte Metrik sein.« Er formte mit den Händen eine Blase. »Ein Stück Raumzeit, unseren Zwecken gemäß geformt. Um so etwas zu entwerfen, brauchen wir ein Computersystem, das Einsteins Relativitätsgleichungen lösen kann.«

»Stellen Sie eine Liste zusammen.«

Patrick, der erneut nicht mehr mitkam, schüttelte den Kopf. »Meinen wir das ernst? Wollen wir wirklich ein Raumschiff mit Warp-Antrieb bauen?«

Jerzy zuckte die Achseln. »Verglichen mit dem Terraformen eines Planeten oder dem Versuch, einen jahrhunderte- oder jahrtausendelangen Raumflug durchzuführen, ist das eine verhältnismäßig einfache Aufgabe.«

»Na schön. Dann haben wir ja etwas, woran wir arbeiten können. Die Sitzung ist unterbrochen!« Kenzie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und prostete ihnen mit kaltem Kaffee zu. »Auf die Arche Eins, die heute das Licht der Welt erblickt hat. Hey, Joe, notieren Sie Datum und Uhrzeit!«

 

Als die Versammlung sich auflöste, ging Patrick zu Holle hinüber, um sie zu holen. Die Kinder sahen sich gerade eine Aufnahme ihres Spielfilms auf Holles Handheld an. Der Lehrer, Harry, hielt Zane im Arm; er trat lächelnd beiseite, als Patrick näher kam.

Holle lief zu ihrem Vater und schlang ihm die Arme um die Knie. »Dad! Hast du gesehen, was wir gemacht haben?«

»Die Burg und so? Teilweise. Wir hatten da drüben viel zu tun. Aber du kannst es mir später zeigen.«

Sie schaute zu ihm auf, ihr Gesicht rund und ernst. »Und hattest du einen schönen Vormittag, Dad?«

Eine Frage, die Linda ihm immer gestellt hatte. Er fuhr ihr durchs Haar und sagte: »Ja, ich glaube schon. Hoffentlich. Zwischendurch haben wir uns ein bisschen festgefahren. Du weißt ja, was ich immer sage, Schätzchen. Wenn dir die Antwort nicht gefällt, stellst du womöglich die falsche Frage. Ich glaube, am Ende haben wir vielleicht die richtige Frage gestellt.«

»Das ist gut. Ist jetzt Mittagspause?«

»Ja, Mittagspause. Machen wir, dass wir hier rauskommen.«

Die Letzte Arche
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