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SEPTEMBER 2044

 

Eine Stunde vor Kellys Parlamentssitzung versuchte Holle aus einer Laune heraus, in die Kuppel zu gelangen. Sie wollte mit Venus über das Treffen mit Zane sprechen, auf das sie sich innerlich vorbereitete.

Aber Thomas Windrup, der in der Luftschleuse saß und auf einem Laptop eine Datenreduktionsübung durchführte, fungierte als Torwächter. Schlank, dunkel und mit gebrochener Nase – ein Geschenk von Jack Shaughnessy, das ihm seinen Stubengelehrten-Look ruiniert hatte – schaute er in einem Einlassplan nach.

»Ach, Herrgott nochmal, lass mich einfach rein«, bat Holle. »Ich brauche nur ein paar Minuten.«

»Wir haben hier drin viel zu tun«, sagte Thomas mit dem prononcierten Omaha-Akzent, den er während ihrer Jahre auf der Akademie beibehalten hatte. »Und dann ist da die Dunkeladaptation. «

»Was glaubst du denn, was ich tun werde, euch mit einer Taschenlampe blenden? Lass mich rein, oder ich schalte die Wasserzufuhr zu eurer Kaffeemaschine ab.«

Daraufhin drehte Venus sich um. Ihre Augen leuchteten in der klösterlichen Dunkelheit der Kuppel. Über ihrer Schulter sah Holle Elle Strekalow, und hinter den beiden einen sternenübersäten Himmel. »Das ist wirklich nicht komisch«, sagte Venus. »So was ist in diesem Dreckloch eine reale Macht, Holle. Selbst wenn Kelly Kenzie glauben möchte, dass wir alle eine große, glückliche Familie sind. Ach, nun lass sie schon rein, Thomas.«

Thomas trat mit einem widerwilligen Grinsen beiseite.

Holle betrat die Kuppel und nahm auf einem leichten Drehstuhl neben Venus Platz. Nachdem die Module nun in Rotation versetzt worden waren, betrug die Schwerkraft hier oben in der Nähe der Nase von Seba etwas weniger als die halbe Erdschwerkraft. Jeder Stuhl, auf den man sich setzte, fühlte sich federweich an, und diese transparente Blase an der Flanke von Seba war zu einer Kuppel geworden, die seitlich an einer senkrechten Wand hing und von Gitterböden in horizontale Ebenen unterteilt wurde. Venus und ihr Team arbeiteten an Stationen, die zum Schutz ihrer an die Dunkelheit angepassten Augen mit matt beleuchteten Bildschirmen und roten Lampen ausgestattet waren. Die geweiteten Pupillen verliehen Venus ein unheimliches, drogenberauschtes Aussehen.

Holle schaute durch das gekrümmte Fenster in die tiefere Dunkelheit hinaus, auf die gestochen scharfen, hellen Sternenfelder. Das Licht erlitt auf seinem Weg durch die Wand der Warp-Blase nur eine geringfügige Verzerrung, zumindest wenn man den Blick von der Bewegungsachse der Blase abwandte, und die Sterne sahen weitgehend genauso aus wie schon seit Ewigkeiten am Himmel über Colorado. Doch als ihre Augen sich anpassten, war es, als kämen immer mehr Sterne aus der samtenen Schwärze hervor, als träten sie Schicht um Schicht unter den verstreuten, weit gespannten Sternbildern zutage, die ihr von der Erde vertraut waren. Dieses grandiose Panorama drehte sich, sämtliche Sterne im Universum kreisten alle dreißig Sekunden einmal um die Arche.

Venus bot ihr keinen Kaffee an. Sie geizte immer mit Kaffee. Vielleicht war es auch eine Strafe für den Spruch über die Wasserversorgung.

»Na«, sagte Venus schließlich, »was gibt’s Neues an der Sanitärfront? «

»Alles plangemäß und im Rahmen des Etats.«

»Und wie läuft’s mit deinen illegalen Brüdern?«

»Die Shaughnessys machen sich gut. Jedenfalls bei den simpleren Sachen – dem großen Zeug, das man sehen und an dem man rumfummeln kann, wie das Sauerstofferzeugungssystem und die Wasserrückgewinnungsracks. Aber es fällt ihnen schwer, die Systemströme insgesamt zu erfassen oder auch nur zu begreifen, wozu sie das können sollten.«

Venus tat es geringschätzig ab. »Sind halt nun mal bloß einfache Soldaten.«

»Sie sind mehr als das. Sollten wir jedenfalls hoffen.«

Venus nickte und betrachtete Holle mit diesen seltsamen, großen Augen. »Ich will dir was sagen. Es gibt niemandem, dem ich es mehr zutrauen würde als dir, solche lebenswichtigen Subsysteme zu betreuen, Holle. Das könnte von Bedeutung sein, wenn wir später mal größere Probleme kriegen.«

Holle mochte dieses apokalyptische Gerede nicht, das Venus, Wilson und ein paar andere gelegentlich anstimmten. »Dann sollten wir dafür sorgen, dass es gar nicht erst so weit kommt.«

»Ja. Na, Lust auf ein bisschen Sternebeobachten? Kannst du mir sagen, in welche Richtung wir fliegen?«

Das war keine leichte Frage. Holle drehte sich auf ihrem Sitz um. Sie schaute durchs Fenster hinaus und an der Flanke des Moduls entlang nach oben, eine vertikale, gekrümmte Wand, die mit Isoliermaterial verkleidet und von Handhelds, Instrumentensockeln und Mikrometeoritennarben übersät war. Sie sah den großen Teilchenbeschleunigerring des Warp-Generators, der über ihr schwebte, und dahinter erblickte sie Hawila, einen Zylinder, der mit der Nase nach unten im Himmel hing, das Seil ein glänzendes Band zwischen den beiden Modulen. All dies wurde vom Sternenlicht und den Lichtern des Schiffes hervorgehoben. Die Module drehten sich um den Mittelpunkt des Seils; ihre Ausrichtung in jedem gegebenen Moment hatte nichts mit der allgemeinen Bewegungsrichtung der Arche zu tun. Holle wusste jedoch, wie sie sich orientieren konnte. »Halt Ausschau nach dem Orion …« Sie suchte den Himmel ab, und es dauerte nicht lange, bis sie die stolze Gestalt des Jägers mit seinem charakteristischen Sternengürtel fand. »Und Eridanus ist dieser ausgedehnte Fleck rechts davon.« Ihr Zielstern der G-Klasse lag im Sternbild des Flusses, immer noch mehr als neunzehn Lichtjahre entfernt.

»Nicht schlecht«, sagte Venus. »Mir scheint, unsere Ausbildung in ›Astronomie mit bloßem Auge‹ zahlt sich aus – all diese Sternguckerausflüge in die Berge. Weißt du noch, wie Magnus Howe uns immer angebrüllt hat, wenn es uns langweilig wurde, auf eine Lücke in den Wolken zu warten? Aber Magnus hat Glück gehabt. Nach dem Rückgang der vom Menschen verursachten Luftverschmutzung und vor dem Weltmeer-Wetter mit all den Wolken und Stürmen gab es ein Zeitfenster, in dem man die beste Sicht seit der Steinzeit hatte. Das Ergebnis war eine Generation natürlicher Amateurastronomen. Grace Gray weiß das noch. Aber wir sind ein kleines bisschen zu spät geboren.«

Holle, die noch nie sonderlich viel Ahnung von Warp-Physik gehabt hatte, war immer ein wenig überrascht gewesen, dass man das äußere Universum im Innern der Blase überhaupt sehen konnte. Das konnte man, aber das Bild war verzerrt. Eine Warp-Blase war ein Patchwork von Universen, die durch eine dünne, dynamische, stark deformierte Raumzeitschicht miteinander vernäht waren. Diese Deformierung bedeutete ein starkes Gravitationsfeld, und der Weg eines Lichtstrahls konnte von der Schwerkraft gekrümmt werden – so war Einsteins Relativitätstheorie anfangs bewiesen worden, als man während einer Sonnenfinsternis beobachtet hatte, dass die Schwerkraft der Sonne das Sternenlicht krümmte. Die Warp-Blase fungierte also als eine Linse, die das Schiff umhüllte, eine Gravitationslinse, die das über die Arche hinwegspülende Sternenlicht ablenkte.

Am stärksten waren die Verzerrungen »vorn« – in der Bewegungsrichtung des Schiffes – und »hinten« – dort, woher es kam. Vorn schien der Raum um den Zielpunkt herum zerknüllt zu sein wie eine zusammengeraffte Decke. Hinten jedoch, in Richtung der Sonne und der Erde, sah es ganz anders und seltsamer aus. Die Sonne lag im Sternbild Ophiuchus, des Schlangenträgers, direkt gegenüber von Orion und Eridanus am Himmel. Aber in dieser Richtung war nur Dunkelheit, eine trübe, schlammige Scheibe, umgeben von schwach leuchtenden Sternen. Das Schiff flog einfach den Photonen davon, die von der Sonne und ihren Planeten kamen.

Holle sagte: »Wenn wir das Sonnensystem sehen könnten …«

»Stell dir eine Scheibe von der Größe des Mondes vor, von der Erde aus gesehen. Etwa dort in deinem Blickfeld. Von hier aus würde diese winzige Scheibe ein zehnmal so großes Raumvolumen wie jenes innerhalb der Umlaufbahn des Neptun abdecken. Nach sechs Monaten haben wir ungefähr anderthalb Lichtjahre zurückgelegt – ein Drittel des Weges nach Alpha Centauri, wenn wir in diese Richtung geflogen wären. Aber wir befinden uns auch jetzt noch gerade so eben innerhalb des Sonnensystems; wir nähern uns dem äußeren Rand der Oortschen Wolke.« Eine andeutungsweise sphärische Hülle kleiner Eiswelten und träger Kometenkerne auf Jahrmillionen-Umlaufbahnen, die dennoch genau wie die Erde der Schwerkraft der Sonne unterlagen.

Kurz nachdem die Warp-Blase sich um das rotierende Schiff gewickelt hatte, waren sie in erstaunlicher Geschwindigkeit an einem gewaltigen Markstein nach dem anderen vorbeigeflogen. Trotz des mächtigen Schubs des Orion-Antriebs hatten sie für die Reise zum Jupiter ein ganzes Jahr gebraucht. Unter Warp hatten sie schon innerhalb der ersten paar Stunden die Umlaufbahnen der äußersten Planeten passiert und bald darauf auch die sich seit Jahrzehnten dahinschleppende Voyager Eins überholt, jenes Raumfahrzeug, das vor der Arche am tiefsten in den Weltraum vorgedrungen war.

Und es überstieg schlichtweg die Vorstellungskraft, dass das Schiff und seine Crew mitsamt all ihren Träumen, Ambitionen und Konflikten von außen betrachtet nahezu vollständig unsichtbar sein würden, dass die Warp-Blase nur ein winziger, nicht einmal mikroskopisch kleiner Fleck wäre, der wie eine Pistolenkugel aus dem Sonnensystem hinausschoss.

»Und«, sagte Venus, »hast du schon mit Zane gesprochen?«

»Ich warte noch auf den richtigen Moment. Vielleicht nach der Parlamentssitzung. Zumindest wird ihn das für eine Weile von seiner Arbeit ablenken.«

Venus schnitt eine Grimasse. »Ich an deiner Stelle würde mit der Wahl deines Lebenspartners noch ein bisschen warten. Dass du Mel verloren hast, ist immer noch eine offene Wunde, das merkt doch jeder. Schau dich um, ob es noch jemand anderen an Bord gibt, in den du dich verlieben könntest.«

»Hab ich schon«, sagte Holle ernst. »Glaub mir.«

Venus zuckte die Achseln. »Deine Entscheidung. Dein Risiko. «

Holle wünschte sich oft, sie könnte mit ihrem Vater über diese Angelegenheit reden. Oder sogar mit Mel. Aber seit sie auf Überlichtgeschwindigkeit gegangen waren, konnte niemand auf der Erde mehr mit der Arche Kontakt aufnehmen. Vielleicht war es ganz gut, dachte Holle, dass diese Scheibe aus verzerrtem Raum die Sonne und die Erde verbarg. Es war, als hätte alles vor dem Warp sowieso nie existiert, als enthielten die Zwillingswelten der Module die gesamte Realität.

Venus wuchtete sich aus ihrem Stuhl hoch. »Zeit für Kellys Quasselbude. Kommt, bringen wir’s hinter uns, damit wir mit der richtigen Arbeit weitermachen können.«

Die Letzte Arche
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