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DEZEMBER 2038
Nach einer letzten Nacht im Ausbildungszentrum von Boulder wurden sie in den klobigen Biotreibstoff-Bus verfrachtet, der sie in die Indian Peaks Wilderness hinaufbringen sollte, zur Bruchlandungssimulation: Holle, Kelly, Susan, Venus, Mel, Zane, Matt und Don, den Polizisten, der in seiner halbregulären Rolle als inoffizieller Bewacher dabei war. Don nahm auf dem Fahrersitz Platz, obwohl der Bus vollautomatisch fuhr und den Weg zum Trainingsgelände kannte. Kelly saß vorn neben Don.
Holle ging nach hinten durch, wo Mel auf sie wartete. In ihrem leuchtend orangefarbenen Schutzanzug schlurfte sie unbeholfen durch den Bus. Im Ausbildungszentrum, das im alten National Center for Atmospheric Research eingerichtet worden war, hatten sie diese Anzüge schon die letzten drei Tage durchgehend getragen, ohne ein einziges Mal die Schutzmasken und -brillen oder auch nur die Kapuzen abzunehmen. Sie sahen aus wie Sanitäter auf dem Weg in ein Seuchengebiet, dachte sie flüchtig. Selbst Don hatte sich freiwillig bereiterklärt, für die Dauer der Übung in einem Anzug zu leben, obwohl er so ein Ding im Ernstfall niemals würde tragen müssen. Als sie sich hinsetzte, grinste Mel und ergriff ihre Hand. Hinter der Atemmaske und der abgenutzten Plastikschutzbrille war sein Gesicht so gut wie unsichtbar, und seine menschliche Wärme drang nicht durch die Handschuhschichten.
Die massive Tür schloss sich mit einem hydraulischen Zischen. Flankiert von zwei leichten Panzerwagen, verließ der schwere Bus den Parkplatz des NCAR. Wie die meisten Regierungsfahrzeuge war auch er mit Platten gepanzert, die massiv genug waren, um eine kleine Artilleriegranate aufzuhalten, und die kugelsicheren Fenster waren so dick, dass sie die Außenwelt blau färbten.
Der kleine Konvoi fuhr den Table Mesa Drive hinauf, bog links in die Broadway Street ein, den alten Highway 93, und passierte das Auffangzentrum für Flüchtlinge auf dem Campus der University of Colorado. Holle sah die Rauchfahnen der Lagerfeuer auf dem Gelände der Pearl Street Mall in den Himmel steigen. Sie war jetzt neunzehn Jahre alt, und manchmal wünschte sie, sie hätte Städte wie diese sehen können, wie sie vor ihrer Geburt gewesen waren, so wie in Friends und Frasier. Sie bogen erneut nach links ab, auf die Arapahoe Avenue, und verließen die Stadt in westlicher Richtung. Primitive, bereits rostende Drahtzäune säumten die Hauptstraßen zu beiden Seiten; sonst wären die Highways, auf denen jetzt nur noch spärlicher Verkehr herrschte, schon längst von den Schuppen und Zelten der Habenichtse besiedelt worden, und das Leben in der Stadt wäre knirschend zum Erliegen gekommen.
Im Vorbeifahren sah Holle Menschen, die sich an die Zäune drückten, Reihen von Gesichtern, Kinder in Kleidern, die zur Farbe des Schlamms oder zum Grau des bedeckten Dezemberhimmels verblichen waren. Kelly Kenzie hatte den Nerv, mit einer behandschuhten Hand zu winken. Die Kandidaten waren immer noch Berühmtheiten. Ein paar Kinder winkten zurück. Aber die Erwachsenen starrten die Kandidaten in ihren Schutzanzügen an, als wären sie Besucher von einem anderen Stern. Einige reckten improvisierte Plakate in die Höhe, auf denen ein einzelner Name stand, auf Pappe, Plastik oder Stoff geschrieben: VASQUEZ. Nach ihrem Verzicht auf die Teilnahme an den Wahlen von 2036 war die ehemalige Präsidentin Vasquez zu einer ausgesprochenen Unterstützerin der Armen und Besitzlosen geworden. Seit ihrer Ermordung in ihrem Haus vor einer Woche schossen Verschwörungstheorien ins Kraut.
Kürzlich hatte es einen neuen Schwall von Eye-Dees gegeben. Nachdem der Meeresspiegel über zwölfhundert Meter gestiegen war, hatte die Flut endlich die ersten ernsthaften Auswirkungen auf Colorado gehabt. Das Wasser war bis Burlington an der I-70 und Lamar an der I-50 vorgedrungen, und die großen Flüsse, der South Platte und der Arkansas, waren in ihren unteren Abschnitten jetzt Tidegewässer. Die Grundwasserleiter und angeblich sogar einige Bäume und Feldfrüchte in Denver waren bereits von Salz verunreinigt. Die Eye-Dees in den Grassodenhaus-Gemeinschaften auf den Ebenen wurden in einer neuen, panikartigen Umsiedlung auf das höhere, kargere Land von Monument Ridge oder den Rockies verlegt. Aber jeder, der aus den offiziellen Korridoren ausbrechen konnte, suchte in den Großstädten Zuflucht. Gleichzeitig wanderten einige Arbeiter von Projekt Nimrod ab und erhoben frühzeitig Anspruch auf einen Platz auf dem verbliebenen hoch gelegenen Gelände.
Das Ergebnis waren all diese anonymen Gesichter in immer größerer Zahl, und wenn man ihren Stimmen lauschte, hörte man Akzente aus ganz Nordamerika und sogar aus dem Ausland, aus Südamerika, Europa, von überallher spülten Menschen, getrieben von der Flut, gegen diese kalten Zäune. Holle vergaß nie, dass sie selbst nur dank einer glücklichen Fügung des Schicksals – weil ihr Vater in seinem Leben lauter kluge oder zufällig richtige Entscheidungen getroffen hatte – nicht auf der anderen Seite dieser Zäune stand. Sie war erleichtert, als sie die Grenzen der Altstadt passierten und der Andrang der Gesichter nachließ.
Sie fuhren den Canyon Boulevard entlang, eine gewundene, von Felsen gesäumte Straße, die in die Berge führte. Vielleicht ein Dutzend Kilometer weiter stießen sie auf eine Gemeinde namens Boulder Falls, wo sich ein zwanzig Meter hoher Wasserfall auf die Felsen ergoss. Selbst hier drängten sich die IDP-Camps um die Straßen bis an den Drahtzaun, der die Fahrbahn schützte. Einige der Eye-Dees, sagte Don laut, hätten ihre Hütten so nah am Wasserfall aufstellen müssen, dass sie Tag und Nacht nassgespritzt würden. Er lachte darüber, und Kelly schnauzte ihn wütend an. Don sprach nur selten über seine Arbeit, aber Holle wusste, dass er von seinen Polizeiaufgaben in der Stadt zur Grenzkontrolle und zur IDP-Abfertigung versetzt worden war, und sie konnte sich denken, was das für sein Seelenleben bedeutete. Er legte jedoch nie irgendwelche Bitterkeit an den Tag, selbst wenn er so viel Zeit mit dem Kandidatenkorps verbringen musste, aus dem er ausgeschlossen worden war. Der Bus rollte mitsamt seiner Eskorte durch den Ort, ohne anzuhalten.
Der Canyon öffnete sich zu einer ausgedehnteren Ebene. Sie hielten auf die Stadt Nederland zu und würden noch weiterfahren, hinauf ins Bergland der Indian Peaks Wilderness.
Holle versuchte, sich auf die Landschaft draußen zu konzentrieren und das Scheuern des Anzugs zu ignorieren. Die Simulation zielte darauf ab, sie an eine mögliche Version des Lebens und der Arbeit in den ersten Tagen und Monaten nach ihrer Landung auf der Erde II zu gewöhnen. Ihr noch nicht festgelegtes Ziel sollte erdähnlich sein, sonst hätte es gar keinen Sinn, dorthin zu fliegen, jedenfalls erdähnlich genug, dass man ohne Druckanzug im Freien herumlaufen konnte. Man würde jedoch fast mit Sicherheit einen geschlossenen Schutzanzug brauchen. Der Sauerstoff-Partialdruck konnte zu niedrig oder zu hoch sein, und möglicherweise gab es diverse Toxine in der Luft oder sogar eine biologische Gefahr, die auch ein völlig fremdes Organsystem ins Visier nahm.
Aber Holle verabscheute ihren Anzug. Angeblich war er in der Hightech-Basis von AxysCorp in den Anden angefertigt worden, bevor diese von Rebellen überrannt worden war. Er bestand aus einem intelligenten Material, das ihre Haut normal schwitzen ließ, während es zugleich für sämtliche Schweinereien aus der Umgebung undurchdringlich war. Die Maske über ihrem Mund gab eine Feuchtigkeitscreme und ein mildes Anästhetikum ab, um die Reibung auf der Haut zu lindern. Leichte Behältnisse auf Brust und Schultern enthielten Versorgungsmaterial für die Anzug-Scrubber, Trinkwasser und Nahrung. Ihre Schutzbrille reinigte sich selbst und verhinderte eigenständig, dass sie beschlug – eine feine Sache, bis sie den Geist aufgegeben hatte.
Ohne Nachschub sollte Holle in diesem Ding vierundzwanzig Stunden überleben können, mit Nachschub auf unbestimmte Zeit – die Untergrenze der Hersteller war ein Monat. Ihr war klar, dass man lernen musste, wie man unter solchen Bedingungen lebte und arbeitete. Aber nach ein paar Stunden in dem Anzug fühlte sie sich immer wie ein bleicher, vertrocknender Wurm, weil die Gelenke scheuerten und das Ding sich mit ihrem Gestank füllte. Eine zusätzliche Unannehmlichkeit an Simulationstagen waren die medizinischen Sensoren, die einem auf die Haut geklebt wurden, und die enervierenden Miniaturkameras auf der Schulter und dem Helm – ja sogar im Helm, damit man das Gesicht jederzeit beobachten konnte.
Die meisten Kandidaten hatten keine Probleme damit, eingeschlossen zu sein, und störten sich nicht einmal an der permanente Überwachung. Sie unterhielten sich leise und zogen geistesabwesend an lästigen Falten der Anzüge. Seit ihrer Aufnahme ins Programm – und das hieß bei den meisten von ihnen: für den größten Teil ihres Lebens – waren sie alle in geschlossenen, umfassend überwachten Umgebungen aufgewachsen. Holle hoffte jedoch, die Erde II würde ungefährlich genug sein, dass sie Handschuhe und Stiefel ausziehen, die Füße in fließendem Wasser kühlen, mit den Fingern durch außerirdisches Erdreich fahren und vielleicht sogar den Wind auf der bloßen Wange spüren konnte.
Sie fuhren durch Nederland, eine alte Bergarbeitersiedlung, die erst zu einem Hippie-Touristenmagneten und später wie jeder andere Ort zu einem Lager und Auffangzentrum für die Vertriebenen geworden war, und dann weiter nach Westen, Richtung Brainard Lake. Von hier aus öffnete sich der Blick auf die Berge der Wilderness, und die Kandidaten beugten sich zu den kleinen Fenstern des Busses hinüber, um die Aussicht zu genießen. Die Szenerie war spektakulär, und es war ungewöhnlich, dass es in diesem Bild keine Menschen gab; die Felsenhänge waren so steil, dass sich nicht einmal die verzweifeltsten Flüchtlinge daran festklammern konnten. Aber die Berge waren bar jeden Lebens, abgesehen von verdorrenden Bäumen; die sich verlagernden Klimazonen hatten die Hänge in lebensfeindliche Orte verwandelt. Obwohl Dezember war, lag nur auf den höchsten Gipfeln Schnee. In Denver hatte es schon seit ein paar Jahren überhaupt nicht mehr geschneit.
Als sie sich dem Simulationsgelände näherten, sah Holle schwarzen, öligen Rauch aufsteigen. Schließlich näherten sie sich einem Gewirr von Wrackteilen, wie es schien, die über eine felsige Ebene verstreut waren.