75
Zane kam in Holles OP geschwebt, ein stämmiger, gedrungener Mann von neununddreißig Jahren, selbstbewusst, mit entschlossenen Bewegungen in der Mikrogravitation. Er zog sich auf eine Liege hinunter und legte sich einen Gurt lose um die Taille. »Ah«, sagte er. »Nach mehr als zehn Jahren Therapie kommt es mir so vor, als wäre diese alte Couch ein Teil von mir.«
Holle hatte zusammen mit Theo Morell auf ihn gewartet. Während Theo die Kameras auf ihre Wandhalterungen montierte, um die Sitzung zu filmen, ließ sie sich auf ihrem Stuhl nieder, das Gesicht zur Liege, ihren Handheld auf dem Schoß. »Ich nehme an, ich spreche mit Jerry.«
»Ich habe meine heutigen Aufgaben erledigt, bevor ich hergekommen bin. Die Warp-Blase arbeitet innerhalb sämtlicher nominalen Parameter, nebenbei bemerkt. Treibt uns weiter zur Erde III. Ich dachte, ich sollte draußen bleiben, um … ähm … Zane 3 sozusagen hierherzubringen. Er weiß, was du heute vorhast, es hat ihn sehr beschäftigt. Er ist nervös deswegen, das muss ich dir sagen. Er hat Angst davor, im Integrationsprozess einen Teil von sich selbst zu verlieren. Ihm ist bewusst, dass er bei der Crew, den Jüngeren, beliebt ist. Das gibt ihm eine gewisse Bestätigung.« Er musterte Holle. »Was einer der Gründe ist, weshalb du weitermachen willst, nicht wahr? Ich weiß, dass es Vorbehalte wegen des Einflusses gibt, den Zane auf die jungen Leute ausübt.«
Es hatte keinen Sinn, in diesem Punkt zu lügen. »Wilson hat gewisse Bedenken zum Ausdruck gebracht.«
Zane schnaubte. »Wilson sollte sich lieber mal um seinen eigenen Umgang mit den Jugendlichen kümmern. Wir wissen ja alle, was da läuft.«
»Aber das ist nicht der Grund, weshalb wir beschlossen haben, mit dem Prozess zu beginnen, Jerry. Wenn wir nicht glauben würden, dass du bereit bist, würden wir’s nicht versuchen. Du bist natürlich sehr wichtig für uns. Deine Bedürfnisse haben Vorrang.«
»Na schön. Die Frage ist, bist du bereit? Es ist erst sieben Jahre her, seit du Mike abgelöst hast!«
»Sei nicht so streng mit mir«, sagte Holle. »Ich musste die Seelenheilkunde von Grund auf lernen. Es ist nicht leicht, Jerry. Und ich glaube nicht, dass wir es ohne dich geschafft hätten, so weit zu kommen.« Das stimmte. Das Alter Ego namens Jerry war wie ein Studienpartner gewesen, als Holle, Theo und Grace die im Schiffsarchiv gespeicherten Psychiatrie-Zeitschriften, Bücher und Expertensysteme sowie Mike Wetherbees unvollständige Notizen über den Fall durchgegangen waren. »Und du hast keine Einwände dagegen, dich dem Verfahren zu unterziehen? «
»Selbst eine teilweise Integration wird uns – uns alle – stärken, dessen bin ich mir sicher. Und außerdem bin ich heute nicht bedroht; ich rechne nicht damit, eine Veränderung zu spüren.«
In dem Programm, das sie entwickelt hatten, eine Abfolge von Schritten ohne festen Zeitplan, würde Jerry das letzte Alter Ego sein, das integriert wurde.
Theo beugte sich vor. »Jerry, du weißt, dass es noch einen anderen Grund gibt, weshalb wir beschlossen haben, heute mit dem Prozess zu beginnen. Wenn alles nach Plan gelaufen ist, müsste Seba ungefähr um diese Zeit wieder bei der Erde eintreffen. Und wenn sie das geschafft haben, verdanken sie das ganz allein dir. Du hast die Warp-Blase programmiert.« Theo tat so, als würde er einen Basketball werfen. »Du hast sie genommen und im Korb versenkt.«
Zane grinste. »Na ja, dessen bin ich mir natürlich bewusst. Wenn alles geklappt hat, ist es ein großer Triumph – wenn. Aber wir werden es nie erfahren, nicht wahr?«
Holle berührte Theo am Arm. »Ich glaube, das reicht. Es war schön, mit dir zu sprechen, Jerry.«
»Ist mir immer ein Vergnügen, Holle.«
»Ist Zane 3 da? Vielleicht könntest du ihn nach vorn kommen lassen.«
»Gleich.« Zane schloss die Augen und legte sich hin. Einen Moment lang schien es, als wäre er eingeschlafen. Dann bewegte er sich unruhig. Sein Gesicht wurde weicher, die Lippen schoben sich vor und formten eine Art Schmollmund. Er schlug die Augen auf und schaute sich im OP um. »Ach du Scheiße, ich bin immer noch hier.«
»Hallo. Spreche ich mit Zane?«
»Du weißt, wer ich bin.«
»Und du weißt, weshalb du heute hier bist.«
»Du willst diese alberne sogenannte Reintegrationsprozedur ausprobieren.«
»Hast du was dagegen?«
Er lachte, ein dumpfer, bitterer Laut. »Was spielt es schon für eine Rolle, ob ich etwas dagegen habe oder nicht?«
Theo sagte: »Seba sollte ungefähr um diese Zeit bei der Erde eintreffen. Macht dich das nicht stolz?«
»Sie haben das Modul verlassen«, sagte Zane. »Kelly und die anderen. Sie sind entweder tot oder sitzen irgendwo in einem Käfig. Wir werden sie nie wiedersehen.« Er starrte Theo an, bis dieser den Blick abwandte.
»Darf ich davon ausgehen, dass du der Prozedur zustimmst?«, fragte Holle.
»Ja, ja. Bringen wir’s einfach hinter uns.« Seine Augen schlossen sich.
Holle begann mit dem geduldigen Hypnoseprozess. »Entspann dich einfach. Du fühlst, wie die Spannung, die Energie aus deinen Fingern, deinen Zehen strömt, wie eine Flüssigkeit. Du sinkst tiefer in dich hinein …« Die Schlüsselworte, mit denen Wetherbee Zane in hypnotischen Trance versetzt hatte, wirkten immer sehr schnell.
Wie schon seit sieben Jahren merkte Holle auch diesmal wieder, wie anstrengend es war, einfach nur mit Zane 3 im selben Raum zu sein. Seine Passivität, seine Depressionen, sein abgrundtiefes Selbstmitleid waren schrecklich. Es bedeutete nur einen schwachen Trost für sie, dass Mike Wetherbee den Randbemerkungen in seinen Aufzeichnungen zufolge oftmals dasselbe empfunden hatte.
Nach der Aufteilung und Mike Wetherbees Entführung hatte Wilson Freiwillige finden müssen, die verschiedene Aspekte von Wetherbees ärztlicher Rolle übernahmen. Grace Gray, ernst und ängstlich, aber auch verantwortungsbewusst, war mit gutem Beispiel vorangegangen und als Autodidaktin in die Rolle des Schiffsarztes geschlüpft, so gut sie konnte. Und Holle hatte sich erboten, Zanes komplexen Fall zu übernehmen. Sie hatte bereits einige von Wetherbees Sitzungen miterlebt, wusste ungefähr, was die Arbeit umfasste, und war sich im Klaren darüber, dass sie weitergeführt werden musste, wenn Zane gerettet werden sollte.
Und es war Wilson gewesen, der vorgeschlagen hatte, dass Theo sie unterstützen sollte. Wilson, der seine übrig gebliebene Crew nach Kellys Meuterei, wie er es nannte, umstrukturiert hatte, war der Ansicht gewesen, dass Theo einen anderen Schwerpunkt brauchte, eine andere Hauptaufgabe neben seiner Rolle als HeadSpace-Türsteher. Nach anfänglichem Widerstreben hatte Theo gute Arbeit geleistet. Er hatte sich in die Unterlagen vertieft. Seine Erfahrung mit virtuellen Systemen war in gewissem Sinn hilfreich, denn es war, als lebte Zane in einer eigenen, defekten virtuellen Realität.
Als Holle ihn besser kennenlernte, bekam sie allmählich mit, was für eine Erziehung der armen Theo genossen hatte. Sein Vater, den er immer »der General« nannte, war – zu Recht oder zu Unrecht – zu dem Schluss gelangt, dass es für seinen Sohn nur eine einzige Option in einer im Wasser versinkenden Welt gab, nämlich eine militärische Laufbahn. Jede davon abweichende Entwicklungstendenz hatte er unterbunden. In anderen Zeiten hätten sich Theos Persönlichkeit und seine Talente vielleicht auf ganz andere Weise entfalten können, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen hätte.
Aber das galt wahrscheinlich auch für sie selbst. Keiner von ihnen würde es jemals erfahren.
In Zane 3s Gegenwart wurde ihr bewusst, wie müde sie war. Seit der Aufteilung waren sieben Jahre verstrichen, und die Bürde, das Modul intakt zu erhalten, lastete immer schwerer auf ihr. Sie besaß nur sehr wenige Ersatzteile, Redundanzen oder Reserven gab es kaum, und die Reparatur jedes Defekts, ja sogar die Herstellung von Ersatzteilen in der Maschinenwerkstatt, die nie so gut waren wie das Original, verlangte Erfindungsreichtum. Der Gedanke, dass die Reise vielleicht noch weitere zweiundzwanzig Jahren dauern würde, drückte sie nieder. Sie war ständig müde.
Aber sie musste dieses Gefühl draußen vor der Tür des OPs lassen und sich auf Zane konzentrieren. Vielleicht tat es ihr gut, zwei Bürden zu haben, die sie ablenkten, statt bloß eine.
Als Zane hypnotisiert war, vergewisserten sie sich, dass die Aufzeichnungsgeräte funktionierten, und Holle trug Datum und Uhrzeit in ein Tagebuch ein. »In Ordnung, Zane. Wir werden versuchen, dir zu helfen, das Alter Ego willkommen zu heißen, das wir Zane 1 nennen.«
Theo warf einen Blick auf die Notizen in seinem Handheld. »Zane 1 ist siebzehn Jahre alt. Er trägt die Scham in sich, die du empfunden hast, als Harry Smith dich auf der Akademie missbraucht hat. Das war seine Aufgabe, deshalb ist er erschaffen worden. Um dir zu helfen, damit fertigzuwerden.«
Zane grinste spöttisch. »Das sagst du.«
»Bist du an deinem sicheren Ort?«
»Ich bin im Museum. In meinem Zimmer.«
»Was siehst du?«
»Die Tür ist offen.«
Holle fragte: »Was siehst du, wenn du durch die Tür schaust?«
»Einen Jungen. Er hat Angst.«
»Ich weiß. Aber du kannst ihm helfen, Zane. Kannst du zu ihm gehen und ihn zu dir ins Zimmer holen?«
»Ich weiß nicht.« Zane zuckte auf der Liege.
»Du kannst ihn jederzeit wieder hinausschicken, wenn du willst.«
Zane lag eine Minute lang schweigend da, dann bewegte er sich.
»Ist er da?«
»Er steht neben mir. Er ist kleiner als ich. Mager. Er zittert irgendwie. «
»Kann ich mit ihm sprechen?«
Zane erschauerte, und als er wieder sprach, klang seine Stimme ein kleines bisschen höher. »Ich sehe nichts. Es ist dunkel.«
Es war immer dunkel gewesen, wenn Harry Smith zu Zane gekommen war. »Weißt du, wer ich bin?«
»Doc Wetherbee?«
Diesen Dialog wiederholten sie jedes Mal. »Nein. Ich bin Holle. Doc Wetherbee hat mich um Hilfe gebeten. Weißt du noch, dass wir darüber gesprochen haben?«
»Ja.«
»Und weißt du noch, was wir heute tun wollten?«
»Du hast gesagt, du wolltest mich dazu bringen, in Zane 3 hineinzugehen.«
»Und wie findest du das?«
»Ich weiß nicht, was es bedeutet.« Er rieb sich die Arme. Sie waren von den kleinen Narben der Selbstverletzungen übersät, die er sich immer noch gelegentlich zufügte. »Ich bin schmutzig. Ich sollte mich vorher waschen. Zane wird mich nicht haben wollen.«
»Nein, du bist sauber. Innen drin. Zane weiß das, Zane 3. Er möchte dich willkommen heißen, weil er dir dadurch helfen kann, er kann dir deinen Schmerz nehmen, und du kannst ihm helfen, weil er sich an das erinnern muss, woran du dich erinnerst. Es ist also eine rundum gute Sache, nicht?«
»Wenn ich in ihn hineingehe, verschwinde ich.«
»Nein. Du wirst noch da sein, all das, was dich einzigartig macht. Du wirst lediglich in Zane 3 drin sein, nicht mehr außerhalb von ihm. Ich werde dich nicht vergessen.«
Auf einmal schlug Zane die Augen auf und sah Holle direkt an. Sein Gesicht war verzerrt. »Versprich mir das.«
Holle hatte Zane, Venus oder Matt nie geholfen, während der Missbrauch tatsächlich stattfand, obwohl alle Kandidaten geahnt hatten, was Harry Smith tat. Jahrelang hatte sie nichts sehen und nichts hören wollen, weil sie Angst um ihre eigene Position gehabt hatte. Als sie nun diese flehentliche Bitte um Hilfe vernahm, als käme sie aus dem Mund des kleinen Jungen, der Zane damals gewesen war, aber ausgesprochen mit der rauen Stimme eines Neununddreißigjährigen, brach es ihr das Herz. »Ich verspreche es. Vielleicht könntest du zurücktreten und mich nochmal mit Zane 3 sprechen lassen.«
Nach einer weiteren Pause kam das Alter Ego Zane 3 wieder zum Vorschein. »Und was nun? Wie machen wir das? Wie hole ich ihn in mich herein?«
Holle warf Theo einen Blick zu. Die Texte und Fallstudien waren vage, was die genauen Mechanismen dieses entscheidenden Augenblicks betraf.
Theo beugte sich vor. »Siehst du ihn? Was tut er gerade?«
»Er weint.« Zane klang ein wenig angewidert.
»Dann halte ihn einfach fest«, sagte Theo. »Leg die Arme um ihn. Schau, ob du ihn dazu bringen kannst, mit dem Weinen aufzuhören.«
»Okay.« Zanes Stimme klang widerstrebend, aber seine Oberarme zuckten, ein Anflug von Bewegung. »Ich halte ihn fest. Er macht mir das Hemd nass. Er hört auf zu weinen. Ich … Na komm. Ist schon gut.«
»Was geschieht jetzt gerade?«, fragte Holle.
»Es ist, als würde ein Schatten über mich fallen, ich – oh, ich sehe ihn, aber er ist jetzt in meinem Kopf. Hinter meinen Augenlidern! «
»Keine Angst«, sagte Holle beruhigend. »Es läuft gut. Alles in Ordnung. Hörst du seine Stimme? Hörst du, was er denkt?«
»Ich höre ihn, ich sehe ihn, o Gott. Ich sehe seine Erinnerungen. Es ist wie ein HeadSpace-Porno. Ist das mir zugestoßen? Ich erinnere mich jetzt, ich erinnere mich an das erste Mal, Harry hat mich wegen des Antimaterie-Unfalls getröstet, er hat seinen großen, schweren Arm um mich gelegt – oh, verdammt!«
»Ist schon gut, Zane, du machst das prima.«
»Und das arme Kind hat diesen Dreck all die Jahre mit sich herumgetragen?«
»Er hat es für dich getan, Zane. Ich zähle von fünf an rückwärts, und dann wachst du auf, du wirst hier bei mir und Theo im OP sein. Okay? Fünf. Vier …«
Als Zane aufwachte, war er auf kaum merkliche Weise verändert. Gequälter. Zorniger.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Holle. »Möchtest du irgendwas, einen Schluck Wasser vielleicht?«
»Kein Wasser. Mir geht’s gut.« Es klang allerdings ganz und gar nicht so. Zane wirkte verwirrt; er beschattete die Augen. »Alles ist so hell. Oh, und so laut.« Aber das einzige Geräusch im Raum war das unablässige Summen der Pumpen und Ventilatoren des Lebenserhaltungssystems. »Ich höre meinen Herzschlag. «
Holles Stimme war sehr leise. »Woran erinnerst du dich?«
»Woran ich mich bislang nicht erinnert habe, meinst du? An jahrelangen systematischen Missbrauch durch Harry Smith, diesem Arschloch. Und im Rückblick, an frühere Jahre der Vorbereitung darauf.« Seine Augen klappten auf. Plötzlich war er spöttisch und wütend. »Aber vielleicht habt ihr mir diese Scheiße auch bloß in den Kopf gepflanzt. Nichts anderes an dem, was wir hier erleben, ist real. Weshalb sollten diese Erinnerungen zuverlässiger sein?«
Holle fühlte sich besiegt. »Zane, wir haben lediglich …«
»Sind wir fertig? Kann ich gehen?«