28
Draußen im Freien war der Himmel klar und so blau wie ein Vogelei; es war ein schöner Herbstmorgen in Colorado, wie man ihn den Alteingesessenen zufolge nur noch selten erlebte. Im Westen erhoben sich die Rockies, gelassen wie immer, erhaben über das menschliche Getümmel. Aber Holle war schockiert von dem heranflutenden Lärm und dem überwältigenden Gestank von Bränden.
Überall waren Menschen; sie standen Reihen von Cops und Soldaten der Nationalgarde gegenüber. Die Menge drängte sich um den Haupteingang auf dem Colorado Boulevard. Dem Evakuierungsplan zufolge sollten die Kandidaten in südlicher Richtung über den Boulevard abtransportiert werden, und sie sah, dass die Fahrbahn frei gehalten wurde, ein Korridor aus Zäunen und Stacheldraht, bemannt von alle paar Meter postierten Soldaten. Die Busse waren vorgefahren und warteten auf sie, dick gepanzert, die Fenster mit kugelsicheren Platten geschützt, mit waffenstarrenden Schießscharten. Auf der unlackierten Flanke ihres Busses stand ungelenk aufgemalt »B-6«.
Die Kandidaten wurden durch einen Maschendrahttunnel zur Kreuzung Colorado und 17th Avenue geschmuggelt, wo die Busse standen. Und plötzlich waren die »Feindseligen« da, wie Don sie nannte, gleich hinter dem Zaun, nur einen Meter von Holles Gesicht entfernt, größtenteils junge Männer, aber auch ältere Leute, Frauen und Kinder. Manche wurden vom gewaltigen Druck der Menschen hinter ihnen so fest gegen den Zaun gepresst, dass die Maschen sich in die Haut ihrer Hände und ihres Gesichts gruben. Als sie die Kandidaten erkannten, erhob sich eine Art Gebrüll. Die Menge drängte noch heftiger nach vorn, und der Zaun geriet tatsächlich ins Wanken. Soldaten feuerten Warnschüsse in die Luft.
Kelly wich zurück. »Du meine Güte.«
»Einfach weitergehen«, sagte Don leise. Er hielt sein automatisches Gewehr schussbereit in den Händen.
Edward Kenzie grunzte. »Strategische Fehler. Ihr seid viel zu nah am City Park mit seinen Eye-Dee-Lagern. Und wir hätten euch alle schon lange vor dem Evakuierungstag hier wegschaffen sollen.«
»Aber das sind nicht alles Eye-Dees«, widersprach Holle. »Schaut, der Bursche da trägt eine Polizeiuniform.«
»Alles bricht zusammen«, sagte Don düster. »Die großen neuen, befestigten Lager in den Rockies bieten einfach nicht genug Platz für alle. Selbst wenn man gestern noch Regierungsmitarbeiter war, Cop, Arzt oder Rechtsanwalt – wenn man bei den Block-Auslosungen verloren hat, steht man jetzt auf der anderen Seite dieses Zauns und ist auf einmal ein Eye-Dee, genauso wertlos wie alle anderen.«
Holle kannte den zugrunde liegenden Plan, die Reaktion der Stadt auf die finale Krise. Die Experten sagten zwar, es könne noch ein Jahr dauern, bis das Wasser tatsächlich über die Stufen des Capitols und die berühmte »Eine Meile hoch«-Gravur schwappte, aber Holle hatte gehört, dass man von den Wolkenkratzern in der Innenstadt aus schon nicht mehr nur die kahlen Gipfel der Rockies Front Range im Westen sah, sondern auch einen blaugrauen Schimmer im Osten, den Ozean, der Amerika ertränkt hatte. Und mit dem Kollaps der Oststaaten war Denver, die größte Stadt im Umkreis von tausend Kilometern und seit nahezu zwanzig Jahren Heimat der Bundesregierung, eine Insel für Flüchtlinge geworden. Holle hatte Satellitenbilder der großen Transportwege gesehen, die von den endlosen Kolonnen in schlammige, braune Fäden verwandelt wurden, jedes Pixel ein menschliches Wesen, Erwachsene, befrachtet mit Kindern und alten Leuten, Einkaufswagen und Schubkarren hinter sich herziehend.
Präsident Peery und seine Regierung waren bereits geflüchtet. Niemand wusste genau, wohin – vielleicht in den riesigen Bunker aus dem Kalten Krieg tief im Innern des Cheyenne Mountain. Die große Masse der Stadtbewohner, die Lotteriegewinner und diejenigen, die beschlossen hatten zu gehen, wurde nach Westen geführt, zu den neuen Festungen in den Rockies, Städten aus Zelten und Kunststoffhütten, die auf dem verbliebenen hoch gelegenen Gelände errichtet worden waren. Die offizielle Hauptevakuierungsroute verlief südlich von hier auf der Sixth Avenue, die dann zur US 6 wurde, und führte von dort über die Umgehungsstraße 470 zur I-70 und nach Westen. Holle und die übrigen Projekt-Nimrod-Leute wurden jedoch nach Süden geschickt, den Colorado Boulevard entlang durch Glendale nach Englewood. Von dort aus ging es dann auf der I-285 nach Südwesten, wo sich ihre Wege schließlich trennen würden: Die einen fuhren zum Komplex des Kontrollzentrums in Alma, die anderen zum Weltraumbahnhof bei Gunnison. Beide Zentren waren gut mit Proviant versorgt und befestigt worden.
Das war das Beste, was die Regierung in dieser finalen Notlage tun konnte, in der ihre Hauptstadt überrannt wurde und ihre Macht über die Menschen und deren Ressourcen zu bröckeln begann. So jedenfalls sah der Plan aus.
Aber Holle war immer noch nicht im Bus.
»Seht ihr diese Rauchsäule da drüben?«, sagte Kenzie in rauem Ton. »Sie brennen das State Capitol nieder. Ich finde diese Leute zum Kotzen. Sie sollten verdammt nochmal Flöße bauen, statt es an den Cops auszulassen, Sachen zu zerschlagen oder einen Haufen Kinder anzuschreien.«
Kellys Baby begann zu weinen.
Und der Zaun brach zusammen.
Holle sah das Glitzern von Drahtscheren. Das enorme Gedränge erledigte den Rest. Hunderte zerlumpter Gestalten ergossen sich in den Tunnel und fielen zu Boden. Die Soldaten reagierten auf gebrüllte Befehle; sie traten zurück und schossen in das Gewimmel. Blut spritzte, und das Geschrei vervielfachte sich. Aber die eigentliche Gefahr ging nicht von den Haufen gestürzter Menschen aus, sondern von jenen, die ihnen folgten, die auf den Beinen blieben und über sie hinwegstiegen, bewaffnet mit Messern, Knüppeln und Macheten.
Holle sah all das binnen einiger weniger verschwommener Sekunden. Sie stand schockiert da, die Hände immer noch um ihr Gepäck geklammert.
Dann wurde sie von hinten gewaltsam vorwärtsgeschoben, als die Buspassagiere aufschlossen, angetrieben von Don und den anderen Militärs. »Los, in die Busse! In die Busse! Lasst euren ganzen Kram liegen, steigt nur in die Busse!« Holle bemühte sich verzweifelt, auf den Beinen zu bleiben, sich vorwärtszubewegen. Ihr Rucksack wurde ihr im Gewühl vom Rücken gerissen. Sie wusste nicht, wo ihr Vater war.
Die Eye-Dees umzingelten sie. Jetzt kämpften Kandidaten mit Fäusten und Füßen. Sie sah, wie Wilson Argent in seinem bunten Kostüm die Faust ins Gesicht eines Eye-Dees trieb, der ihn aus der Schlange zu zerren versuchte.
Sie war jetzt nah bei den Bussen. Der erste setzte sich tatsächlich in Bewegung, die Türen und Fenster geschlossen, und fuhr zielstrebig weiter, während sich Menschen an seine Türen und sein gepanzertes Dach klammerten. Sie war nur ein paar Meter von B-6 entfernt, aber eine Menschenmasse versperrte ihr nach wie vor den Weg.
»Holle! Hier!« Es war ihr Vater. Über die Köpfe der kämpfenden Menge hinweg sah sie, dass er zum Bus gelangt war. Er klammerte sich mit einer Hand an eine Stange und streckte die andere nach ihr aus. »Holle! Nimm meine Hand! Na los!«
Holle stürzte sich ins Gewühl, schlug um sich und drängte sich durch. Wenn sie es bis zu ihrem Vater schaffte, konnte sie sich doch noch in Sicherheit bringen. Sie streckte den Arm aus. Seine Hand war einen halben Meter entfernt.
Irgendwo links von ihr schrie Kelly auf. »Lasst mich los!« Zwei Eye-Dees hielten sie gepackt. Sie schwang die Faust, aber da sie das Baby in seinem Tragegestell festhielt, konnte sie nur wenig ausrichten.
Holle überlegte keine Sekunde. Sie warf sich in den kämpfenden Mob. Der schiere Schwung trug sie an Kelly vorbei, die sich losriss. Holle verpasste einem Eye-Dee einen befriedigenden Fausthieb ins Gesicht – ein Mann mittleren Alters, sah sie, das Gesicht blutig und schmutzig, aber sauber rasiert, ein verwirrendes Detail.
Aber er ging nicht zu Boden. Er packte sie an den Schultern und zerrte sie einfach aus dem Handgemenge. Jetzt ergriffen weitere Hände ihre Arme und Beine, jemand bekam sogar eine Handvoll von ihren kurzen Haaren zu fassen, und sie wurde in ein Durcheinander aus zappelnden Körpern und Beinen geschleift, weg vom Bus, weg von ihrem Vater. Sie geriet in Panik und wehrte sich. Es hagelte Tritte und Schläge. Niemand reagierte auf ihre Schreie, weil alle Welt schrie.
Dann wurde sie inmitten des Mobs zu Boden geschleudert. Ein Gesicht zeichnete sich über ihr ab, das sauber rasierte Gesicht eines Mannes – der Mann, den sie anfangs angegriffen hatte. »Tut mir leid!«, brüllte er zu ihr herunter. »Tut mir leid! Ich tue das für meine Tochter. Versuch das zu verstehen …«
Sie spürte Hände an ihrem Hals, ihrer Taille. Die Kleider wurden ihr vom Leib gerissen.
Ein furchtbarer Schmerz explodierte in ihrem Kopf.