44

Wilson lag neben Kelly und Venus auf der Brücke des CrewModuls B der Arche, genannt Seba.

»Eine Minute«, sagte Venus.

Wilson konnte nicht aufhören zu reden. »Du lieber Himmel. Wir müssen irre sein. Gleich wird genau unter meinem Arsch eine Scheiß-Atombombe explodieren.«

Kelly grinste ihn an. »Zu spät, um auszusteigen.«

Venus sagte: »Und das wird Gunnisons schlimmster Tag, seit Alien gegen Predator gekämpft hat.«

»Was?«

»Nicht so wichtig. Alles im grünen Bereich.« Geschäftsmäßig wie immer beobachtete sie die Displays vor ihnen.

Die Arche war ein sehr komplexes Stück Technik, aber sie war auch sehr einfach, und es gab nur wenige Instrumente. Abgesehen von Housekeeping-Displays für den Zustand der Luft im Innern der Druckkörper und die Beschleunigung, der die Crew ausgesetzt sein würde, gab es Messgeräte für die Taktfrequenz der Puls-Detonationen, den Pegel in den Tanks mit Antiablationsöl und Kühlflüssigkeit sowie den Druck in den Dampfleitungen. Die Bedienungselemente waren ebenfalls simpel, eine manuelle Steuerung für die Fallgeschwindigkeit der Pulseinheiten, ein Knüppel mit T-Griff zur Justierung der Fluglage. Sie waren eine letzte Zuflucht, falls die Automatik versagte. Wilson wusste allerdings, dass noch niemand eine Katastrophensimulation überlebt hatte, bei der man diese Bedienungselemente hatte benutzen müssen.

Und jetzt, in diesen letzten Sekunden, spürte er, wie sich die Bestie regte, als die nuklearen Pulseinheiten in ihren Magazinen im Rachen der Auswurfmechanismen aufgereiht wurden und die Kühlflüssigkeiten um die riesigen Kolben herumgepumpt zu werden begannen. Er warf einen Blick auf die Monitore, die Crewmitglieder auf ihren Reihen von Liegen tief in den Eingeweiden des Moduls zeigten. Die leuchtend gelben Lämpchen für den unmittelbar bevorstehenden Start blinkten, und auf jeder Ebene ertönte eine akustische Ansage. Aber die Leute stritten sich immer noch um die Liegen.

»Zwanzig Sekunden«, sagte Kelly nüchtern.

Wilson spürte, wie sich sein Schließmuskel verkrampfte. »Scheiße, Scheiße.«

 

»Fertig, verdammt«, brüllte Matt, und seine Stimme hallte von den Metallwänden um ihn herum wider.

»Fünfzehn Sekunden«, rief Liu Zheng vom Boden herauf.

»Ich weiß. Ich höre die Kühlflüssigkeiten.« Matt ließ den Blick über die mächtigen Metallwände schweifen, die sein Stäubchen von einem Körper umgaben. »Kann nicht glauben, dass ich hier bin und mir das anhöre.«

»Zehn … neun … Ich glaube, wir brauchen keinen Countdown.«

»Nein. Ich habe meine Aufgabe erfüllt, nicht wahr?«

»Das haben Sie, Matt. Gute Arbeit.«

»Wo sind Sie?«

»Genau unter der Prallplatte. Wo sonst?«

»Wenn es schiefgeht, werden Sie’s als Erster wissen, Liu.«

Das Zischen von Dampf, ein Poltern. Das musste die erste Pulseinheit sein, die ihre Auswurfrinne hinunterschlitterte. In diesem letzten Moment verspürte Matt einen Anflug von Furcht. »Liu, ich glaube …«

Er sah die Detonation, die um den Rand der Prallplatte herumschlug. Er sah sie. Und dann …

 

Eine ungeheure Faust krachte in den Rücken ihrer Liege. Holle hörte Laute des Erschreckens überall um sie herum, und ein gewaltiges Ächzen, als würde das Schiff in Stücke gerissen.

Und trotzdem bin ich nicht tot, dachte sie. Sie befand sich nur dreißig Meter über der Plasmawolke einer Fünf-Kilotonnen-Atombombe und einer Prallplatte, die mit tausend Ge nach oben geschleudert worden war. Aber das Stoßdämpfersystem funktionierte offenbar, die riesigen Kolben hatten den Stoß abgefangen. Wenn nicht, wäre sie jetzt schon tot und das Schiff zerstört, weil die tausend Tonnen schwere, von dieser ersten Explosion nach oben getriebene Platte die gargantuaeske Konstruktion der Arche durchschlagen hätte.

Die Schwerkraft ließ auf Übelkeit erregende Weise nach. Das Ende des ersten Pulses. War das nur eine Sekunde gewesen?

Und dann kam der nächste, ein weiterer, nicht mehr ganz so harter Stoß, der sie in ihre Liege presste. Wieder ließ der Druck nach. Dann ein weiterer Stoß. Und noch einer. Es funktionierte. Sie hörte Menschen jubeln und klatschen.

Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass sie auf einer Kinderschaukel in den Trainingseinrichtungen von Gunnison saß und harmlos hin und her schwang. Es war nicht allzu schlimm, eine vorwärts gerichtete Beschleunigung von etwa einem Ge, eine leichte Trainingssession. Gar nicht so schlimm, mit einer Atomrakete in den Weltraum zu fliegen.

Aber die Startanlage sowie alle Mitglieder des Bodenteams, denen es nicht gelungen war, die Zone rechtzeitig zu verlassen, existierten bereits nicht mehr, die unglückliche Stadt Gunnison war dem Erdboden gleichgemacht, wie Hiroshima. Und dabei hatte die Reise noch nicht einmal richtig begonnen.

Jetzt spürte sie, wie das Schiff erschauerte, sich heftig von einer Seite zur anderen verlagerte und sie auf ihrer bequemen Liege durchschüttelte. Die Arche war mit mächtigen Hilfstriebwerken ausgerüstet, Steueraggregaten zur Lageregelung, die ihre Flugbahn gegen die brutalen Stöße der Atombomben berichtigen sollten. Schaukel, schaukel, schaukel …

Sie wurde vorwärts in ihre Gurte geworfen, als wäre das Schiff gegen eine Ziegelmauer geknallt. Der Applaus verwandelte sich in Geschrei.

Pulseinheit ausgefallen. Sie hatten das simuliert.

Holle schaute sich um. Morell machte ein entsetztes Gesicht. »Eine Pulseinheit ist ausgefallen, Theo!«, schrie sie. »Nur eine einzige Einheit von Hunderten. Das ist alles …« Es war immer eine riskante Angelegenheit, eine so komplexe Apparatur wie eine thermonukleare Bombe in die sich ausdehnende Plasmawolke hineinzuwerfen, die nur eine Sekunde zuvor von einer anderen hinterlassen worden war, und zu erwarten, dass sie explodierte. Aber wenn auch die nächste und übernächste Einheit versagte, würden sie in ihren eigenen radioaktiven Dreck zurückfallen …

Ein weiterer Schubs. Herrgott, war das wieder nur eine Sekunde gewesen? Die Zeit war elastisch.

Noch ein Schubs. Und noch einer. Jetzt gab es einige pogoartige, längslaufende Erschütterungen, als die massige Arche diesen versäumten Stoß absorbierte. Dann pegelten sich die Beschleunigungsabfälle wieder auf den stetigen Schaukelrhythmus ein.

Sie spürte, wie Theos Hand nach ihrer tastete. Sie ergriff sie, hielt sie fest und wünschte sich, Mel und ihr Vater wären hier. Schaukel, schaukel, schaukel, der Pulsrhythmus war etwas langsamer als ihr Ruhepuls, schaukel, schaukel, und der Rumpf der Arche ächzte, als sie wie ein dunkler Engel aus der Asche ihrer Startrampe emporstieg.

Etwas klatschte ihr ins Gesicht. Es war Urin, der vom Deck über ihr herabtropfte.

Schaukel, schaukel.

Die Letzte Arche
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