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In der Kuppel war das Gedränge sogar noch schlimmer gewesen als im Shuttle B. Viele derjenigen, die herauskamen, hielten ihre Rippen umklammert und rangen nach Atem, und ein Paar trug einen schlaffen kleinen Jungen, trommelte verzweifelt auf seine Brust ein und machte Mund-zu-Mund-Beatmung.
Unter diesen in der Luft treibenden Überlebenden war auch Zane. Er wirkte eingeschüchtert und ängstlich. Holle verspürte eine Aufwallung von wildem Zorn. Sie fragte sich, welches seiner Alter Egos herausgekommen war, um ihm zu helfen, mit dieser Krise fertigzuwerden, zu deren Ausbruch er so viel beigetragen hatte. Und da war Jeb Holden, einer von Wilsons engsten Bundesgenossen, ein brutaler Kerl, jetzt nackt und blutverschmiert. Er entfernte sich von den anderen, offenbar auf der Suche nach einer Decke, nach irgendetwas, womit er seinen Körper bedecken konnte.
Grace, die sich an einem Handlauf festhielt, versuchte, die allem Anschein nach Unverletzten dazu zu bewegen, ihr zu helfen, während sie die anderen nach ihren Verletzungen in grobe Gruppen einteilte. Die Vorderseite ihres Overalls war mit Blut und gräulichen Fleischfetzen bespritzt. Stücke aus jemandes Lunge, vermutete Holle. Grace war einsatzfähig, sah aber durcheinander aus. Holle musste sich immer ins Gedächtnis rufen, dass Grace keine Ärztin war, obwohl sie in den sechzehn Jahren seit der Aufteilung versucht hatte, die von Mike Wetherbee hinterlassene Lücke zu füllen.
Holle fasste Helen an der Hand, und sie schwebten zu Grace hinüber. »Hier sind wir, Grace. Sag mir, wie wir helfen können.«
Grace sah sie zerstreut an. »In der Kuppel waren um die zwanzig Leute. Zwanzig! Ich dachte, wir würden da drin alle sterben. Ich schätze, zwölf sind schwer verletzt.«
Holle nickte. »Okay. Im Shuttle B waren wir ungefähr vierzig, viele davon verletzt …«
Sie brauchte die Rechnung nicht zu Ende zu führen. Seit der Aufteilung war die Zahl der Besatzungsmitglieder, abzüglich einiger Todesfälle und zuzüglich etlicher Geburten, auf eine ungeplante Weise gestiegen, die die Sozialingenieure in Denver entsetzt hätte. Eine Gesamtsumme von ungefähr sechzig Geretteten in der Fähre und der Kuppel bedeutete, dass die Dekompression zahlreiche Todesopfer gefordert hatte. Und nach einem raschen Blick durch das Modul lautete ihre erste Schätzung, dass vielleicht ein Drittel der Überlebenden verletzt war. Ein Drittel der Crew eines halben Wracks arbeitsunfähig.
Immer eins nach dem anderen, Holle. »Was ist mit den Verletzten? «
»Ein paar Quetschungen von dem Gedränge in der Kuppel. Der Rest, was man bei Vakuumexposition erwarten würde. Fälle von Hypoxie – wir werden es vielleicht mit ein paar Gehirnschäden zu tun bekommen. Zeitweilige Blindheit durch neurologische Effekte. Ein paar haben die Dekompressionskrankheit, verursacht durch Luftblasen im Blut. Ich würde vorschlagen, die Kuppel als Hochdruckkammer zur Linderung dieser Symptome zu benutzen.«
»Tu das.«
»Die Ebullismen – durch die Verdunstung von Wasser im Gewebe verursachte Schwellungen – sollten sich in ein paar Stunden legen. Sie sehen größtenteils schlimmer aus, als sie sind. Einige innere Verletzungen durch im Gedärm eingeschlossene Gase. Beschädigte Trommelfelle. Jeder, der eine Kongestion oder einen Schnupfen hat, wird gelitten haben. Wir haben auch Verletzungen durch die Explosion bei Wilsons Trennwand. Explosionsdruckverletzungen, Verbrennungen, Knochenbrüche, Hörverluste …«
»Es muss Lungenschäden geben.«
Grace nickte. »Zwei in dieser Gruppe.«
»Ja«, sagte Helen. »Weitere in der Shuttle-Gruppe.«
Sämtliche Mitglieder der Crew – auch alle schiffsgeborenen Kinder, schon bevor sie laufen konnten – waren darauf trainiert worden, im Fall einer Dekompression den Mund weit aufzumachen. Wenn man versuchte, den Atem anzuhalten, rissen die sich ausdehnenden Gase in den Lungen das zarte Pulmonalgewebe und die Kapillarien entzwei, und dann wurde die eingeschlossene Luft aus den Lungen in den Brustkorb gedrückt, von wo sie durch gerissene Blutgefäße direkt in den Blutkreislauf gelangen konnte. Das Endergebnis waren dicke Luftblasen, die durch den Körper wanderten und im Herzen oder im Gehirn stecken blieben. Doch trotz des ganzen Trainings folgten manche Leute immer ihrem Instinkt, den Atem anzuhalten, wenn es kritisch wurde.
Grace sagte: »Wir werden eine ganze Reihe Bronchiektasen haben. Beschädigte Lungen. Man bleibt sein Leben lang anfällig für Infektionen. Ich mache mir Sorgen um unseren Antibiotika-Vorrat. «
»Da finden wir schon eine Lösung.«
»Manche hat es noch schlimmer erwischt«, sagte Grace düster. »Ich glaube nicht, dass wir etwas für sie tun können. Wahrscheinlich könnte nicht mal ein Arzt mit einer richtigen Ausbildung …«
»Ist schon gut«, sagte Holle. »Wir kümmern uns darum. Helen, trommle ein paar freiwillige Sanitäter zusammen. Du weißt, wen du fragen kannst.« Als Helen sich wegstieß, sagte Holle leise zu Grace: »Wir müssen ein Triage-System einrichten. Drei Prioritäten.« Sie dachte laut. »Erstens diejenigen, die sich erholen werden, aber sofortige Behandlung brauchen. Die Verbrennungen, die Dekompressionsopfer. Zweitens diejenigen, die sich bei geringer Aufmerksamkeit mit der Zeit erholen werden. Leute mit Schwellungen, dem zeitweiligen Verlust der Sehkraft, von dem du gesprochen hast.«
Grace wandte den Blick ab. »Und drittens …«
»Diejenigen, die nicht überleben werden. Die zerrissenen Lungen. Wir bringen sie irgendwo unter. Zum Teufel, wir stecken sie in das Shuttle, abseits der anderen.«
»Was erzählen wir ihnen?«
»Lügen. Helen oder einer ihrer Freiwilligen kann Lebensgefährten, Eltern oder was auch immer auftreiben.«
»Ich kann das nicht.«
»Das ist okay. Musst du auch nicht. Ich bleibe bei dir. Du gibst mir nur zu verstehen, in welche Kategorie jeder Patient gehört. Den Rest erledige ich.« Sie lauschte den Worten nach, die da aus ihrem Mund kamen. Würde sie so etwas wirklich fertigbringen? Nun, sie musste, also konnte sie es auch.
»Noch eins, Holle. Steel Antoniadi. Sie hat überlebt. Sie ist noch in der Kuppel. Jeder weiß, dass sie den Angriff der Rebellen angeführt hat. Ich hielt es für das Beste für sie, nicht auf der Bildfläche zu erscheinen.«
»Gute Idee. Ich werde mit Venus darüber reden. Mal sehen, ob wir sie irgendwo unterbringen können, wo sie in Sicherheit ist …« Jemand tippte ihr auf die Schulter. »Holle.«
Sie drehte sich um.
Der Schlag auf den Mund war so hart, dass sie durch die Luft segelte. Jemand fing sie ab, und sie packte einen Haltegriff und schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.
Es war Magda Murphy. Ihre Arme und Hände waren geschwollen ; bei diesem Schlag musste ihr die Faust höllisch wehgetan haben. Magda prallte gegen ein Ausrüstungs-Rack an der Wand, drehte sich in der Luft, stieß sich mit den gestiefelten Füßen ab und stürzte sich erneut auf Holle. Irgendwie gelang es Grace Gray, sich dazwischenzuwerfen. Sie packte Magda um die Taille, und die beiden trieben davon, abgelenkt durch Graces Schwung.
Magda zeigte auf Holle und schrie: »Du hast meine Kleine sterben lassen! Du hast sie sterben lassen! Du hättest bloß die Hand auszustrecken brauchen …« Sie wehrte sich, aber Grace hielt sie fest. Dann verließen Magda die Kräfte. Sie sackte zusammen und begann jämmerlich zu schluchzen. »Ich werde dir nie verzeihen, dass du mich gerettet hast und nicht sie, Groundwater. Niemals.«