59

Sie folgte Zane zu seiner kleinen, einsamen Kabine. Es war nicht sonderlich weit.

Er wirkte überrascht, sie zu sehen, und wollte ihr nicht in die Augen schauen. Aber er sagte nicht Nein, als sie fragte, ob sie hereinkommen und mit ihm reden könne. Ihre Nervosität wuchs, als sie ihm in die Kabine folgte, und sie fragte sich, wie sie das Thema anschneiden sollte, das ihr auf dem Herzen lag.

Seine Kabine lenkte sie allerdings ab. Sie war lediglich eine Schachtel aus Trennwänden. Alle anderen hatten ihren Kabinen auf die eine oder andere Art eine persönliche Note verliehen. In Holles kleinem Raum befanden sich ihre privaten Sachen, ihre Kleidung, ihre Fotos von ihrem Vater und ihrer Mutter, ihr Angel. Und wenn man ein Kind hatte, wie Grace Gray, verfügte man ohnehin über jemanden, der spontan ein Zuhause schuf. In Zanes Raum gab es jedoch nichts dergleichen. Die Möbel waren funktionell: ein Bett, zwei Stühle, ein Schrank. Holle sah Arbeitsmaterialien, eine komplizierte Workstation und ein paar kostbare Papierhandbücher über Relativität, den Warp-Antrieb und Raumfahrttechnik. Aber das war es auch schon, abgesehen von Kleiderhaufen auf dem Boden. Zane hielt sich an diesem Ort nur auf, aber er lebte nicht hier.

Sie setzte sich auf einen Stuhl; zuerst musste sie einen Haufen Strümpfe wegräumen. Zane nahm auf der Bettkante Platz, die Hände auf den Knien gefaltet. Sie konnte nicht recht erkennen, in welcher Stimmung er war, und der Raum, in dem er wohnte, machte sie nervös; ihre Unsicherheit wuchs, ob ihr Vorhaben klug war. Überwältigt von ihrer eigenen Nervosität und Befangenheit, machte sie jedoch trotzdem weiter.

»Es ist so, Zane«, sagte sie.

Sein Kopf drehte sich ihr zu.

»Ich habe nachgedacht. Du weißt ja, worum es bei dieser Mission geht – du kennst das soziale Konzept. Bei der Auswahl der Crew ist auf möglichst große genetische Diversität geachtet worden, damit unsere Kinder die besten Chancen haben, Inzucht zu vermeiden. So hat man es uns auf der Akademie eingetrichtert. Aber das heißt zunächst einmal, dass wir alle eine Pflicht haben. Wir müssen Eltern werden. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass all unsere Gene in den Pool der Kolonisten auf der Erde II eingehen.«

»Und warum erzählst du mir das?«

Sie biss sich auf die Lippe. Musste sie es wirklich aussprechen? Sie begann zu argwöhnen, dass hier etwas nicht stimmte, dass es nicht nur an ihrer eigenen Nervosität lag. Aber sie sprach weiter. »Du hast gesehen, dass sich Leute Partner gesucht haben, Zane, besonders seit dem Jupiter. Angeblich sind Kelly und Wilson jetzt ein Paar.«

Er runzelte erneut die Stirn. »Wilson. Der Ingenieur für Außensysteme. «

»Ja«, sagte sie, verwirrt von seiner Reaktion. »Dieser Wilson, Wilson Argent, mit dem du aufgewachsen bist … Die Wahrheit ist, Zane, ich habe Mel auf der Erde zurückgelassen. Das weißt du ja. Ich kann mir nicht vorstellen, mich auf diesem Rosteimer in jemand anderen zu verlieben. Und ich kann mir, offen gesagt, auch nicht vorstellen, dass du dich mit jemandem zusammentust.«

Er machte ein verdutztes Gesicht.

Holle verspürte Besorgnis und eine Aufwallung von Zuneigung. Sie ging zu ihm hinüber, kniete sich auf den Boden und nahm seine Hände. »Kann sein, dass wir keine Seelenverwandten sind, Zane. Aber wir kennen uns nun schon fast unser ganzes Leben lang. Wir haben gemeinsam für dasselbe Ziel gearbeitet. Und wir haben einander immer unterstützt. Ich weiß noch, wie du an meinem ersten Tag auf der Akademie auf mich gewartet und dir deswegen Ärger eingehandelt hast. Ich wüsste gern, ob – ich meine, das gilt nicht für jetzt, nicht bis wir auf der Erde II sind. Aber vielleicht sollten wir darüber nachdenken, zusammen Kinder zu bekommen. Du und ich. Dort. Also, was meinst du?«

Er hob den Kopf und sah sie zum ersten Mal direkt an. »Glaubst du an die Warp-Blase?«

Sie ließ sich auf ihre Knöchel zurücksinken. »Was hast du gesagt ?«

»Glaubst du an sie?« Er warf einen Blick auf seine Workstation, lachte und sprach schnell. »Ich meine, ich habe mich ausführlich mit der Theorie beschäftigt. Aber es ist unmöglich! Elementare physikalische Prinzipien müssten verletzt werden, damit es funktioniert. Mal ganz abgesehen von auf der Hand liegenden Fragen der Kausalität und vom Verstoß gegen die schwache, starke und dominante Energiebedingung divergiert der Vakuum-Energie-Impuls-Tensor eines skalaren Quantenfelds in einer Alcubierre-Raumzeit, wenn das Schiff die Lichtgeschwindigkeit überschreitet. Er divergiert! Das würde zur Bildung eines Horizonts führen, der, der …« Seine Stimme brach, und er hörte auf zu sprechen, als wäre ihm die Kraft dazu ausgegangen. »Ich kann dir die Gleichungen zeigen.«

»Zane? Ich verstehe nicht, was du da sagst. Der Warp funktioniert – wir sind unterwegs. Du hast doch selbst zusammen mit Liu Zheng und den anderen an den Konstruktionslösungen gearbeitet, die uns hierhergebracht haben …« Sie hielt noch immer seine Hände. Die Ärmel seines Overalls hatten sich allmählich hochgeschoben, und nun sah sie ein Muster kleiner, kreuzförmiger Markierungen auf der Haut beider Unterarme. Sie berührte sie behutsam. Einige waren verschorft und fast schon verheilt, andere bläulich verfärbt. Es sah aus, als hätte er sich die Spitze eines Kreuzschraubenziehers ins Fleisch gestoßen.

»Ich kann keine Kinder mit dir bekommen.« Er lachte, aber es war ein schauerlicher, hohler Laut.

Sie blickte hoch. »Warum nicht?«

»Ich bin schmutzig. Das musst du doch wissen.«

»Schmutzig?«

»Ist alles im Tagebuch.« Er entzog ihr die Hände und tippte auf seiner Workstation herum. Auf dem Bildschirm erschien eine Art Tagebuch mit Texten und kurzen Videoclips: Zanes Kopf in Großaufnahme. »Er erzählt es dort alles.«

»Wer?«

»Zane. In einigen dieser Clips sagt er, er wird sich umbringen. Sie sind so was wie Abschiedsbriefe.«

»Er … Zane, das bist du. Ist das der Grund, weshalb du dir selbst Verletzungen zufügst?«

»Wovon sprichst du?«

Sie nahm seinen rechten Arm, drehte ihn mit festem Griff um und zeigte auf die Schraubenzieher-Markierungen. »Da, und da.«

Er zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich nicht, dass ich das getan habe. Wahrscheinlich war ich nicht hier.«

»Wo warst du dann?«

»Ich täusche nur etwas vor, weißt du«, sagte er abrupt. Er lachte erneut. »Das ist die Wahrheit.« Er starrte sie an. »Ich weiß nicht, wer ihr seid. Ihr alle. Ich höre euch zu, wenn ihr sprecht, ich notiere mir, wie ihr einander nennt, und ich suche im System nach Nachnamen und so weiter. Ich mache mir Notizen und versuche, mich zu erinnern. So ist es seit dem Jupiter.«

Sie starrte ihn an. »Und an was erinnerst du dich?«

»Ich bin aufgewacht«, sagte er.

»Aufgewacht?«

Die Worte sprudelten jetzt nur so aus ihm heraus. Offenbar hatte er noch nie mit jemandem darüber gesprochen. »Ich trug einen Druckanzug. Ich schwebte im Raum. Um mich herum war der Warp-Generator, der Collider. Er war bei mir.«

»Wer?«

»Der Ingenieur für Außensysteme.«

»Wilson?«

»Ja. Da war so ein Schimmern um mich herum, ein optischer Effekt, die Sterne. Wilson hat mich gepackt und mir auf den Rücken geklopft. Große behandschuhte Hände. Er hat gesagt, wir hätten es geschafft, ich hätte es geschafft.«

Holle erinnerte sich daran. Sie war in Seba gewesen und hatte genau diese Szene gesehen – am 13. März 2044, dem Tag, als der Warp-Generator erstmals aktiviert worden war.

»Ich wusste nicht, was ich geschafft hatte«, flüsterte Zane.

»Zane – du hast den Warp in Gang gesetzt. Nur dafür hattest du gearbeitet.«

»Wilson hat mich auf eine Inspektionstour zum Collider-Torus mitgenommen. Ich bin ihm einfach gefolgt. Als ich wieder drinnen war, haben alle gelächelt und genickt und mir die Hand geschüttelt, und ich habe einfach zurückgelächelt und ebenfalls genickt. Ich kannte nicht mal ihre Namen. Als ich an eine Workstation herankam, habe ich die Relativitätstheorie nachgeschlagen. Die habe ich verstanden, sie ist so schlicht. Und ich habe den sogenannten Warp-Generator studiert. Er kann nicht funktionieren!«

»Was vor dem Warp-Tag war, weißt du nicht mehr?«

»Ich habe auch Gedächtnislücken.«

»Gedächtnislücken?«

»Andere, spätere Situationen, an die ich mich nicht erinnern kann. Es ist, als würde ich einfach nochmal aufwachen.« Er rieb sich das Gesicht. »Aber ich bekomme nicht viel Schlaf.«

Sie lächelte und wich zurück. Ihr wurde klar, dass sie zu Mike Wetherbee gehen und ihm erzählen musste, ihr einziger Warp-Ingenieur sei möglicherweise schizoid. Und so viel zu gemeinsamen Babys.

»Warte einfach hier, Zane. Versprichst du mir das? Wir müssen unser Gespräch fortsetzen.« Sie ließ ihn auf dem Bett sitzen, drehte sich um und floh.

Die Letzte Arche
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