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»Das Leck ist hier.« Liu Zheng faltete eine große Schemazeichnung auf Papier auseinander und deutete mit behandschuhter Hand auf eine Leitung, die von einem Behälter mit sekundärem Kühlmittel wegführte. Matt und er trugen leichte ABC-Anzüge. Liu musste schreien, um sich über dem Zischen des Dampfs, dem Motorengebrumm um die Basis der Arche herumfahrender Busse und Lastwagen, dem eindringlichen Geschrei und dem unheildrohenden Rattern von Schüssen verständlich zu machen. »Sehen Sie? Direkt über diesem O-Ring.«
»Warum können die automatischen Systeme das nicht reparieren? «
»Die sind eingefroren«, sagte Liu. »Ein Mehrfachversagen. So was kommt vor. Deshalb sind wir ja hier. Das Leck muss abgedichtet werden; wenn sich einer dieser Federkolben ohne das Kühlmittel während des Fluges überhitzt und festfrisst, fällt die Arche vom Himmel. Haben Sie Ihr Werkzeug?«
Matt schulterte einen Rucksack.
»Okay. Nehmen Sie Fahrstuhl drei.« Liu grinste. »Das ist Ihr großer Augenblick, Mr. Weiss.« Er stopfte die Schemazeichnung in Matts Rucksack. »Los, los!«
Matt lief zum Käfig des Fahrstuhls, der wie elf weitere zu Wartungszwecken Zugang zur Arche gewährte. Er schlug das Scherengitter zu und umfasste den Totmannschalter, der den Käfig in die verschatteten Innereien des Schiffes aufsteigen ließ, vorbei an der gekrümmten Flanke eines der Crew-Module. Eine Wand aus weißem Isoliermaterial sauste an seinem Gesicht vorbei, zernarbt von Wartungsluken, Sicherheitswarnungen, Ventilsockeln – und Handhelds, markiert mit auf dem Kopf stehenden Schablonenschriften für die Weltraumspaziergänger jener außergewöhnlichen Zukunft, in der dieses Schiff im Jupiter-Orbit auseinandergenommen und für den interstellaren Flug neu zusammengesetzt werden würde. Ihm war ein wenig schwindlig, und alles kam ihm irgendwie unwirklich vor. In der letzten Zeit hatte er nicht viel geschlafen. Seit der Entlassung aus dem Gefängnis vor einer Woche hatte er seine gesamte Zeit darauf verwendet, sich jeden Aspekt der Systeme einzuprägen, für die er zuständig sein würde. Er dachte sich, dass er den Schlaf nachholen konnte, wenn er tot war. Und durch den vorgezogenen Start der Arche hatte er natürlich auf einen Schlag zwölf Stunden seines Lebens verloren. Einen ganz schön großen Prozentsatz, wenn einem sowieso nur noch ein Tag blieb.
Er schaute nach oben und versuchte, die problematische Leitung ausfindig zu machen. Das Innere der Arche war ebenso hell erleuchtet wie das Äußere, eine Masse glänzenden Metalls, Rohre, riesige, durch Leitungen und Kabel miteinander verbundene Tanks, alles von den mächtigen Streben des Gerüsts umschlossen. Er sah sich drehende Kameras und einen Wartungsroboter, der über die Wand eines der großen Crewmodule krabbelte, ein Ding wie eine Spinne, bewaffnet mit einer Kamera anstelle eines Kopfes, Saugnäpfen als Füßen, so dass es senkrechte Wände erklimmen konnte, und einem Waldo-Arm mit einem Werkzeugsortiment wie ein Schweizer Messer.
Während es immer höher hinaufging, schaute er an der Flanke des Crewmoduls hinab und sah tief unten, durch Lücken in der Traube von Tanks und Rohren, die gleichmütige, massive Prallplatte. Eine umgedrehte Schüssel aus gehärtetem Stahl, schon für sich allein ein wunderschönes Stück Technik mit einem Durchmesser von vierzig Metern, und dabei nur zehn Zentimeter dick. Die Bomben würden unterhalb der Platte zur Explosion gebracht werden, Waffen von der fünffachen Stärke der Hiroshima-Bombe, die jede in eineinzehntel Sekunden Abstand detonierten. Der Abwurf würde durch die simpelste vorstellbare Methode erfolgen, indem man sie aus einer genau in der Mitte der Prallplatte sitzenden Kanone nach unten schoss. Das von jeder Pulseinheit produzierte Treibmittel würde gegen die Prallplatte schlagen und dabei seinen Impuls übertragen, aber zu rasch verdunsten, um die zusätzlich durch eine kontinuierlich erneuerte Schicht Antiablationsöl geschützte Platte zu beschädigen. Der daraus resultierende Schub würde vom Stoßdämpfersystem aufgenommen werden, gewaltigen, hoch aufragenden Kolben mit einem Hub von elf Metern und einem komplexen dualen Wirkmechanismus, der die anfälligen Teile des Schiffes vor der Rückfederung schützte, falls eine Pulseinheit versagte.
Nachdem die Konstrukteure der Arche noch einmal ganz von vorn begonnen hatten, sich mit den technischen Problemen zu beschäftigen, waren sie zu einem Konzept zurückgekehrt, das jenem Entwurf nahekam, der sich im Verlauf des ursprünglichen Kalte-Krieg-Projekts Orion schließlich als Standard durchgesetzt hatte: ein Viertausend-Tonnen-Ungetüm, bei dem diese Masse gleichmäßig zwischen Prallplatte, Schiffskörper, Bomben und tausend Tonnen Nutzlast aufgeteilt war. Im Vergleich dazu hatte die Saturn V, jene Rakete, die, allein von chemischen Energien angetrieben, Apollo zum Mond getragen hatte, um die dreitausend Tonnen gewogen, davon nur vierzig Tonnen Nutzlast. Selbst jetzt war es schwer, die Realität zu erfassen. Wenn das Schiff unterwegs war, würde dieser ganze Raum Schauplatz enormer technischer Aktivitäten sein; überall um den Rand der Prallplatte herum würde gleißendes atomares Licht aufstrahlen, und die Kolben würden bei jedem mächtigen Hub erzittern.
Als Matt nun nach oben schaute, sah er, dass er sich den riesigen, in ihren Gerüsten hängenden Tanks mit Kühlflüssigkeit und Ablationsöl sowie dem komplexen Rohrnetz näherte, das beide verband. Dort war sein Leck. Während des Fluges wurden die Kolben nach jedem Hub mit einer Ammoniakverbindung gekühlt. Das dabei entstehende komprimierte Hochtemperaturgas trieb dann die Pumpen an, die vor der nächsten Detonation eine Schicht Antiablationsöl auf die Prallplatte sprühten, und wurde zum Auswurf der nächsten Pulseinheit im Sprengladungsmagazin verwendet. Für einen Ingenieur war es befriedigend, mit den Produkten eines Hubs den nächsten vorzubereiten; es war ein Prozess, der nach thermodynamischer Effizienz roch. Aber diese Komplexität zeitigte vielfältige Fehlermöglichkeiten.
Das Licht in seinem Fahrstuhlkäfig erlosch, und er kam ruckartig zum Stehen.
»Scheiße.« Matt drückte auf seinen Totmannschalter und rüttelte an der Käfigtür. Weder im Käfig selbst noch in der Seilhydraulik schien es noch Strom zu geben. Matt schaltete sein Kehlkopfmikro ein. »Liu, hier ist Matt.«
Als die Verbindung hergestellt wurde, hörte Matt, wie Liu Zheng ein anderes Gespräch abbrach. »Sprechen Sie weiter.«
»Ich habe keinen Strom mehr in Fahrstuhl drei.«
»Moment … ja, ich sehe es. Wir haben überall auf dieser Seite Stromausfall, ein Generator hat den Geist aufgegeben. Verdammt.« Liu klang ungeheuer angespannt. Was sie mehr als alles andere fürchteten, war Mehrfachversagen, ein Problem, das ein anderes verschlimmerte. »Sind Sie immer noch mit diesem Kühlmittel-Leck beschäftigt? Haben Sie’s schon beseitigt?«
»Negativ.« Matt widerstand dem Drang, Liu anzublaffen; natürlich hatte er das Leck in den paar Minuten, seit er Liu verlassen hatte, noch nicht beseitigt. Liu jonglierte mit hundert Aufgaben zugleich, die alle so dringend waren wie die von Matt; in dieser letzten Stunde seines Lebens musste sich die Zeit für ihn dehnen. »Ich bin immer noch auf dem Weg nach oben.«
»Wir bekommen erst wieder Strom, wenn – ich weiß es nicht. Matt, können Sie improvisieren? Ja, Mary, was ist? …«
Matt unterbrach die Verbindung. Improvisieren. Nun, ihm blieb keine Wahl, und überall am Schiff gab es Zugangsleitern.
Er schnallte den Werkzeugrucksack auf dem Rücken fest, griff nach der manuellen Bedienung und zog das Gitter auf. Die nächste Leiter war unmittelbar draußen vor dem Käfig, und es gab auch ein Geländer, in das er eine Sicherungsvorrichtung an seinem Gürtel einklinkte. Er hielt sich am Geländer fest, schwang einen Fuß hinaus und erreichte die nächste Sprosse. Er zog an der Sicherungsvorrichtung, um sie zu prüfen. Dann schaute er nach oben in die Kathedrale aus glänzenden Metallgebilden über ihm und begann emporzuklettern.
Überwachungskameras drehten sich, als er an ihnen vorbeikam, und blickten ihm nach.