61

Hawila regte sich, beendete eine weitere Schiffsnacht, aber die Lichter waren ebenso gedämpft wie an Bord von Seba. Die von der Erde angeordnete Routine unterschiedlicher Tag-Nacht-Zyklen in beiden Modulen, dank deren immer eine Häfte der Crew wach und einsatzfähig sein sollte, war wegen der Spannungen, die sie zwischen zwei Gruppen von Crewmitgliedern in unterschiedlichen Wachzuständen verursachte, bald aufgegeben worden. Es hatte sogar einen kleinkarierten Disput darüber gegeben, welchem Modul die Ehre zuteilwerden sollte, die Uhren auf Alma-Zeit einstellen zu dürfen, und in welchem die Zeit um acht Stunden versetzt sein sollte. Jetzt war der Taktzyklus beider Module identisch, beide spiegelten die Alma-Zeit, und in jedem Modul gab es einen Dienstplan für eine kleine Nachtwache.

Die Anmutung dieses Moduls war jedoch verblüffend anders. Der Farbanstrich der Sozialingenieure, urbanes Design im Kontrast zu Sebas Naturfarben, war sorgfältig weggeschrubbt worden, um die unverfälschte Textur der künstlichen Oberflächen darunter freizulegen, den Kunststoff, das Metall, das Glas. Selbst die Gitterelemente der Deckböden waren nackt. Die Bewohner von Hawila hatten das alle miteinander als eine Art künstlerischer Geste beschlossen – sie hatten sich dafür entschieden, mit der kühlen mechanischen Realität ihrer Umgebung zu leben, statt sie mit den Farben eines Planeten zu kaschieren, den keiner von ihnen jemals wiedersehen würde. Holle war Ingenieurin genug, um an der nüchternen Schönheit des Ergebnisses Gefallen zu finden.

Manche Flächen wurden jedoch von Kunstwerken in Form kostbarer Kleckse aus Wand-, Kreide- und Buntstiftfarben eingenommen. Auf dem fünften Deck hielt Holle bei einem Gemälde inne, das so etwas wie ein lichterfülltes Haus zeigte, umgeben von einem dunklen, bedrohlichen Himmel – und ein Klopfen an die Tür, dargestellt durch gelbe Farbbögen. Das Gemälde war signiert: HAWIL. TRAUMZIRKEL 4.

»Psst.«

Das Flüstern kam von unten. Sie schaute durch den Gitterboden und sah Wilson auf dem nächsten Deck unter ihr, in Unterhose und einer Weste, die seinen muskulösen Oberkörper zur Geltung brachte. »Gefällt dir das Kunstwerk?«

»Nicht besonders. Ist ganz gut gemacht. Aber das Thema ist offensichtlich, oder?« Dies war einer der häufigsten Träume oder Alpträume der Crewmitglieder. Hier waren die (möglicherweise) letzten lebenden Menschen, und sie flohen in diesen Metallhülsen durchs Weltall: Was, wenn jemand an die Wand klopfte?

Wilson grunzte. »Ich mag diese verdammten Traumzirkel nicht. Die recyceln doch nur morbiden Blödsinn wie den da. Ernähren sich wechselweise vom Seelenmüll der anderen.«

»Kann sein. Aber an manchen Tagen gibt’s nichts zu tun, außer die Wände abzuschrubben, Wilson. Die Leute brauchen irgendwelche äußeren Stimuli.«

Damit konnte sie Wilson nicht beeindrucken. »Ist doch bloß wieder so ein bescheuerter Spleen. Die Zirkel sind erst populär geworden, als wir den Zugang zu den HeadSpace-Zellen eingeschränkt haben. Apropos HeadSpace …«

»Gehen wir zu Theo.«

»Ja.«

 

Holle folgte Wilson durch ein paar weitere Decks nach unten. Sie passierten Kabinendörfer, die sich auf subtile Weise von denen in Seba unterschieden. Die Besatzungsmitglieder bastelten an den Trennwänden herum und modfizierten alles allmählich nach ihrem eigenen Geschmack.

»Ich nehme an, ihr habt die kleine Meg noch nicht gefunden«, sagte Holle.

»Nein. Ich habe die Nachtwache auf die Suche geschickt, und wenn die anderen alle aufgewacht sind, inspizieren wir das Modul von oben bis unten. Wahrscheinlich müssen wir das verdammte Schiff dazu auseinandernehmen.«

»Diese Kinder wachsen hier auf. Vermutlich kennen sie diese Module besser, als wir sie je kennen werden.«

»Ja. Arme kleine Hunde. Morgen, Theo.«

Theo Morell wartete vor einer kleinen Kabine auf sie, der HeadSpace-Zelle auf Deck elf. Er lehnte mit verschränkten Armen an einer Wand, und ein Handheld baumelte von seiner Taille. »Wie ich sehe, hast du Unterstützung mitgebracht. «

»Dachte mir, es wäre am sichersten, eine Frau hier zu haben, falls Cora wieder ausflippt.«

»Oh, das wird sie«, sagte Theo leichthin. »So wie immer.«

Wilson warf einen Blick auf die Zelle. Über der Tür leuchtete ein rotes Lämpchen. »Ist sie da drin?«

»Ja. Schon die ganze Nacht. Sie ist allein. Nimmt nicht mal ihre Kleine mit rein. Wollt ihr mal sehen?« Theo hob seinen Handheld hoch und drückte auf eine Taste.

Ein Wandbildschirm leuchtete auf und zeigte ein kleines Mädchen. Es spielte auf einer sonnenbeschienenen Terrasse vor einer Wohnung mit Blick auf ein funkelndes Meer. Schattenhafte Avatare waren bei ihr. Die Terrasse war groß, das Meer eine schimmernde Ebene, die sich zu einem scharfen Horizont mit blauem Himmel erstreckte.

Die grundlegende Prämisse der Szene lag auf der Hand: Es ging um Raum, Raum zum Laufen und Spielen, allein und ohne den Druck von Menschen überall um einen herum, ohne die Verantwortung, die Erwachsene trugen. Einem Copyright-Stempel mit der Jahreszahl 2018 zufolge war das lose auf Sorrent in Italien basierende Szenario von Maria Sullivan, einer HeadSpace-Nutzerin in Manchester, Großbritannien, als ihr privater Raum kreiert und dem Nimrod-Projekt von dem Unternehmen gespendet worden. Holle fragte sich, was aus Maria Sullivan geworden war.

»Das kleine Mädchen ist Cora?«

»Du hast es erfasst. Ich hab versucht, sie da rauszuholen. Hab’s mit sämtlichen Taktiken probiert, die du mir empfohlen hast, Wilson. Zum Beispiel Abmachungen treffen – noch eine halbe Stunde, aber dann kommst du raus. Nichts funktioniert, nicht bei ihr. Glaub mir, ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen, als dich zu rufen.«

»Ich will deine Rechtfertigungen nicht hören«, sagte Wilson. »Schalte einfach aus.«

Theo hob seinen Handheld und ließ den Daumen über einer Taste schweben. »Seid ihr bereit?«

»Mach schon.«

Theo ließ den Daumen niedersausen und trat zurück. Das Licht über der Tür wechselte von Rot zu Grün.

Fast im selben Moment flog die Zellentür auf, und Cora Robles kam herausgetaumelt. Sie schob sich eine Sensormaske vom Gesicht. Cora trug einen schwarzen Ganzkörperanzug sowie Handschuhe mit dicken berührungsstimulierenden Fingerpads, und sie zog ein dickes Kabel hinter sich her, das in die Zelle führte. Sie starrte Theo wütend an. »Du hast es ausgeschaltet? Ich war noch nicht fertig!«

Er wich zurück. »Hör mal, Cora, ich habe dich oft genug gebeten …«

»Gib mir die Konsole.«

»Nein, Cora.«

»Schalt wieder ein, du Arschloch!« Sie stürzte sich auf Theo, die behandschuhten Fäuste erhoben.

Holle sprang vor und stellte sich zwischen Cora und Theo. Sie steckte ein paar Hiebe auf die Brust ein, dann gelang es ihr, die Arme um Coras Oberkörper zu schlingen. Cora schlug um sich und versuchte, an Theo heranzukommen, aber trotz ihres Zorns war sie schwach und nicht schwer zu bändigen. Ihr Anzug war so eng, dass Holle spürte, wie dünn sie war – ihre Knochen standen vor, die Schulterblätter, die Hüften. Entweder hatte sie Mahlzeiten ausgelassen, oder sie hatte Essen gegen HeadSpace-Credits getauscht. Wilson zerrte an dem Datenkabel, das Cora mit der Zelle verband, und zog sie von Holle weg. Cora rutschte aus und fiel rücklings auf den Gitterboden. Sie lag schwer atmend da, mit verzerrtem Gesicht.

Coras Verfassung schockierte Holle. Sie verspürte Schuldgefühle, weil sie nichts davon bemerkt hatte. Schließlich war sie mit dieser Frau aufgewachsen. Cora war immer schön, intelligent und kokett gewesen, ein energiegeladendes Partygirl. Vielleicht hatte sich all diese Energie hier, im Gefängnis der Arche, nun gegen sie selbst gerichtet.

Holle kniete sich neben sie. »Hör mal, Cora, tut mir leid, aber es ging nicht anders. Du musstest da rauskommen. Deine kleine Tochter ist weg.« Da Cora Megs Vater auf der Erde zurückgelassen hatte, kümmerte sie sich nun meistens um das Kind.

»Sie weiß es«, fauchte Wilson. »Wir haben es in die Zelle eingespeist. Aber es war ihr egal. Sie interessiert sich mehr für ihre HeadSpace-Fantasien als für ihr eigenes Kind.«

»Und sie hat keine Credits mehr«, sagte Theo und schaute grinsend auf sie hinunter.

Wilson war wenig angetan von seinem Gebaren. »Worüber lachst du? Du betreibst dieses Scheiß-System, Eindringling. Also liegt es doch wohl in deiner Verantwortung, mit solchen Scherereien fertigzuwerden.«

Theo hob die Hände. »Als ich das letzte Mal versucht habe, Cora da rauszuholen, hat sie mich beschuldigt, ich hätte sie tätlich angegriffen. Das riskiere ich nicht nochmal. Immerhin ist sie Kandidatin, eine von euch. Ich will wenigstens Zeugen dabei haben.«

Als sich herausgestellt hatte, dass der Zugang zu den HeadSpace-Zellen eingeschränkt werden musste, war Holle auf die Idee gekommen, die Verantwortung für die Organisation des Zuteilungssystems Theo zu übertragen. Er erledigte das durchaus kompetent, indem er ein System von Credits einführte, das in den öffentlichen Bereichen des Archen-Archivs galt. Aber er war einfach zu großspurig. Vielleicht war etwas dran an den Gerüchten, dass er einen schwunghaften Tauschhandel mit HeadSpace-Credits betrieb und zu einer Art Dealer für Süchtige wie Cora geworden war. Holle hatte es nicht glauben wollen. Theo hatte seit dem Start eine erhebliche Entwicklung durchgemacht, dachte sie, obwohl er noch immer erst einundzwanzig war. Und es war keine ausschließlich positive Entwicklung gewesen.

Sie wandte sich ab und legte den Arm um Cora. »Komm, ich helfe dir, aufzustehen und diesen dämlichen Anzug auszuziehen. Du siehst aus, als bräuchtest du dringend was zu trinken, was zu essen und ein bisschen Schlaf, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Und dann musst du uns helfen herauszufinden, wo Meg sein könnte…« Sie führte sie weg.

Wilson machte sich mit einem letzten zornigen Blick auf Theo davon.

Die Letzte Arche
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