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AUGUST 2081

 

Helen und Jeb verbrachten einen letzten Abend mit den Kindern, ein normaler Abschluss eines letzten Tages voller Pflichten und Unterrichtsstunden. Es gab Abendessen, dann wurde abgewaschen und aufgeräumt, und anschließend spielte Mario mit seinem Vater ein kompliziertes Nullschwerkraft-Basketballspiel, während der kleine Hundred etwas aus dem Handheld seiner Mutter vorgelesen bekam.

Helen glaubte, dass der siebenjährige Mario wusste, was passieren würde, aber wenn, so war er um seines kleines Bruders willen tapfer. Selbst Hundred war an diesem Abend nicht ganz er selbst, aber er spielte brav und gluckste, als er in seinen Schlafanzug gesteckt und dabei gekitzelt wurde. Dann zwängten sie sich alle in den großen Schlafsack der Eltern, der quer in ihrer an der Rutschstange befestigten Kabine hing, und Jeb und Helen hielten die Kinder im Arm, bis sie einschliefen.

Als sie sich sanft voneinander lösten, bewegte sich Mario. Er öffnete die Augen und sah seinen Vater an, der gerade in T-Shirt und Shorts schlüpfte. »Bin ich jetzt der Chef, Dad?«, flüsterte er.

»Du bist der Chef, mein Großer.«

Mario lächelte nur. »Ich kümmere mich um Hundred.«

Helen konnte es nicht mehr ertragen. Sie stieß sich aus der Kabine ins matte Licht des nächtlichen Moduls.

 

Ihre Mutter wartete draußen. Grace sah hager und alt aus. Sie umarmte ihre Tochter. »Ich schlüpfe zu ihnen in den Schlafsack«, flüsterte sie. »Damit jemand da ist, wenn sie aufwachen. «

»Danke«, sagte Jeb mit rauer Stimme.

»Es wird seltsam für dich sein, Mum«, sagte Helen.

Grace zuckte die Achseln. »Ich war eine Geisel. Dann war ich eine Prinzessin. Dann ein Eye-Dee, ein Walker. Dann Seefahrerin und schließlich Astronautin und Ärztin. Jetzt werde ich Vollzeit-Großmutter sein. Ich gewöhne mich schon dran.« Sie ließ ihre Tochter los. »Wir haben alles gesagt, was es zu sagen gibt. Geht jetzt, es ist Zeit.« Sie zog sich in die Kabine hinein.

Helen weinte nicht; sie schien sämtliche Tränen ihres Lebens in dem Monat vergossen zu haben, seit Holle die Trennung der Crew verkündet hatte. Aber sie bekam kein Wort heraus. Teilnahmslos ließ sie sich von Jeb am Arm packen und schwebte mit ihm durch das stille Modul.

An der offenen Luke zum Shuttle B wurden die vierzig Passagiere in ihre Anzüge gesteckt. Bedrückt und mit großen Augen halfen die älteren Kinder schläfrigen Kleinkindern in ihre Anzüge. Die leichten Druck-Overalls, die sie während des Abstiegs tragen sollten, waren lediglich dünne Polyäthylen-Hüllen, boten aber genug Schutz, falls es in der Kabine einen Druckabfall gab. Sie waren vier Jahrzehnte lang in einem Spind verstaut gewesen, rochen jedoch neu – ungewöhnlich an Bord dieses ramponierten alten Hulks. Sie trugen sogar AxysCorp-Logos auf der Brust, die geborgene Erde. Einschließlich der Ersatzanzüge gab es genug Druck-Overalls für alle, aber man hatte sie gekürzt, damit sie den kleineren Kindern passten, und in schlichte Säcke für die ganz Kleinen verwandelt. Der Start des Shuttles war in die Zeit der Nachtwache gelegt worden, weil man hoffte, dass sich die schlaftrunkenen Kinder dann leichter handhaben ließen. Vielleicht konnte man sie an Bord des Shuttles verfrachten und auf die neue Welt schaffen, bevor sie richtig aufwachten und merkten, dass sie ihre Eltern für immer verloren hatten.

Helen, die keinen klaren Gedanken fassen konnte, fand ihren Anzug, schüttelte ihn aus und zog ihn an.

Venus und Holle kamen zu ihnen. Holle wirkte ungeheuer traurig, Venus unverhohlen neidisch.

Holle sagte: »Wilson ist schon an Bord und überprüft die Systeme. Ich … hier.« Sie gab Helen eine kleine Kugel aus rostfreiem Stahl. Es war ein Globus der Erde III, hergestellt in der Maschinenwerkstatt der Arche. »Ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnerst, aber bei der Erde II haben wir das auch so gemacht. Wir haben sie den Kindern ins Gepäck gesteckt, als kleine Überraschung für sie. Ich wollte dir deinen persönlich geben.« Impulsiv umarmte sie Helen. »Tut mir leid, dass ich dir das antun muss.«

Helen schob sie weg. »Es kann dir gar nicht leid genug tun«, sagte sie heftig.

Holle schluckte das einfach nur, wie sie alle Reaktionen darauf geschluckt hatte, was sie seit dem Tag ihrer Machtübernahme um der Crew, um der Mission willen getan hatte. Vielleicht war das letztendlich Holles Rolle, dachte Helen – nicht so sehr die der Führerin als vielmehr die eines Gefäßes für all die Schuldgefühle wegen der Maßnahmen, die nötig gewesen waren, damit der Rest überleben konnte. Nichtsdestoweniger verspürte Helen eine Aufwallung von neuem Hass.

Venus kam nach vorn und machte viel Aufhebens um die Verschlüsse von Helens Anzug. »Vergiss nicht, da unten wird es verdammt kalt sein. Die nächste Generation wird’s nicht merken, aber ihr schon. Packt euch dick ein, bevor ihr die Luke öffnet. « Sie schob sich zurück. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Herrgott, du wirst mir fehlen. Du warst die beste Schülerin, die ich je hatte. Gib dein Wissen an die Kinder weiter. Ihr dürft nicht in die Steinzeit zurückfallen, nachdem ihr diese weite Reise hinter euch gebracht habt.«

»Mache ich. Was ist mit dir, Venus? Was kommt als Nächstes?«

Venus warf Holle einen raschen Blick zu. »Naja, wir haben da so eine Art Plan. Sobald wir die Meldung bekommen, dass ihr sicher gelandet seid, schicken wir Botschaften per Mikrowellenlaser zur Erde und zur Erde II. Dann wird in rund hundert Jahren jeder, der ins All horcht, die freudige Nachricht empfangen.

Anschließend haben wir vor, das System dieser M-Sonne zu erforschen.« Sie schnippte mit den Fingern, klick-klick. »Winzig kleine Warp-Sprünge, von Planet zu Planet. Zane hätte das bestimmt liebend gern ausgearbeitet. Wir schicken euch die Ergebnisse, Oberflächenkarten, innere Strukturen, was immer wir rausfinden. Sorgt dafür, dass der Funkempfänger funktioniert. Es wird ein Vermächtnis für die nächste Generation sein, wenn sie bereit ist, auf Forschungsreisen zu gehen, nicht wahr?«

»Und dann?«

Venus breitete die Arme aus. »Zum Teufel, der Himmel gehört uns. Wir werden einfach weiterforschen. Vielleicht finden wir die Erde IV, die Erde V und die Erde VI. Wir melden uns per Laser und erzählen es euch. Vielleicht kommen wir auch zurück, bevor das Licht hier ist, und erzählen es euch persönlich. Geh jetzt!«, sagte sie. Ihre Stimme klang auf einmal barsch. »Geh, bevor sie die verdammte Luke schließen und dich zurücklassen!«

Die meisten Kinder waren bereits an Bord. Jeb glitt durch die Luke. Es gab keinen Grund mehr zu bleiben. Helen drehte sich in der Luft und sank selbst hinab, mit den Füßen voran. Der Druckanzug fühlte sich seltsam an, zu sauber, und er raschelte bei jeder Bewegung.

Sobald sie im Shuttle war, schaute sie zurück. Holles Gesicht, erfüllt von Reue und Schmerz, war das Letzte, was sie von der Arche sah. Dann schloss Venus die Luke.

Die Letzte Arche
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