87

»Ist schon gut. Nicht mehr lange, mein Schatz, wir schaffen das schon, ist alles okay, halte einfach meine Hand …«

»O Gott, o Scheiße, warum musste das passieren warum jetzt warum heute ich kann nicht glauben dass mir das passiert …«

»Ich will Billy-Bob! Dad, ich will meinen Billy-Bob! Du hast mir nicht erlaubt, ihn holen zu gehen …«

Es gab nichts, was Holle tun konnte, bevor diese Raumfähre nicht entladen war. Sie schätzte, dass sich vierzig Personen darin drängten, hineingestopft von Helen Gray und ihr selbst, vierzig Personen in einem reduzierten Einweg-Landegleiter mit minimaler Masse, der für höchstens fünfundzwanzig Passagiere ausgelegt war. Holle konnte sich kaum bewegen; all die Menschen um sie herum drückten ihr gegen den Rücken und den Bauch, klemmten ihr die Beine ein, und sogar ihr Kopf war von Körpern und Rücken umschlossen. Es war eine Menge in drei Dimensionen, Leute, die in allen Richtungen aneinanderstießen.

Und viele dieser vierzig, zehn bis fünfzehn, waren schwer verletzt. Manche hatten stark angeschwollene Gliedmaßen, Hände, Füße, Gesichter. Ein kleiner Junge schrie immer wieder laut, er sei blind. Eine Frau wurde von heftigen, krampfhaften Hustenanfällen geschüttelt, bei denen sie Blut spuckte. Offenbar waren ihre Lungen zerrissen. Die Leute um sie herum versuchten, sie durch die Menge zu einer Wand zu schieben, damit sie die anderen nicht mehr mit ihrem Blut, Rotz und Schleim bespritzte.

Ein Bildschirm an der Steuerkonsole des Shuttles, auf dem man die Aufnahme einer Kamera in der Luftschleuse sah, zeigte Venus, eine außerirdische Gestalt in einem leuchtend weißen Raumanzug, im Innern des Moduls, umgeben von Kabinen, Verpflegungspaketen, Getränkekartons und schwebendem Spielzeug. Sie arbeitete daran, Hawila wieder bewohnbar zu machen. Zum Glück war Venus außer Gefahr gewesen. Holle machte sich innerlich eine Notiz. Von nun an würde immer jemand einen Druckanzug tragen müssen, nur ein zuschnappendes Visier von einem unabhängigen Lebenserhaltungssystem entfernt.

Bis Holle hier herauskam, konnte sie nichts anderes tun, als durchzuhalten. Sie versuchte, das Weinen und die rasselnden Atemzüge auszublenden.

»Wenn ich das Arschloch in die Finger kriege, das es für eine gute Idee hielt, eine verdammte Rumpfplatte abzumontieren, reiße ich ihm mit bloßen Händen alles raus, was von seinen Lungen noch übrig ist …«

»Ist schon gut. Er ist ohnmächtig geworden, mehr nicht. Ich hab’s gar nicht gemerkt, in dieser Menge kann er ja nicht umfallen. Er hat einfach das Bewusstsein verloren. Sobald wir hier raus sind, wird’s ihm wieder besser gehen.«

»Nein, du irrst dich. Der Mann ist tot. Jay ist tot! Schaut ihn euch an!«

»Ich sehe nichts! Dad, warum kann ich nichts sehen?«

 

Jemand hämmerte gegen die Luke der Raumfähre. Holle sah Venus durch die dicken Fenster; in ihrem steifen Druckanzug zerrte sie unbeholfen am Griff.

Die Luke ging auf. Holle merkte, wie es in ihren Ohren knackte. Sie verspürte eine jähe Furcht vor weiterem Luftverlust, aber der Druckabfall war nur gering. Die Leute in unmittelbarer Nähe der Luke strömten sofort mit erleichtertem Aufseufzen hinaus. Draußen drehten sie sich um und halfen Venus, die nach ihnen Kommenden herauszuziehen. Bald driftete eine Wolke von Körpern in Zweier- oder Dreiergruppen von der Luke weg.

Sobald Holle sich bewegen konnte, bahnte sie sich ihren Weg an die Spitze der Shuttle-Gruppe. Es war eine ungeheure Erleichterung, den vergleichsweise offenen Raum des Moduls zu erreichen, die Arme und Beine auszustrecken, die saubere, wenn auch ein wenig metallisch riechende Luft einzuatmen, die direkt aus den Notreservetanks kam.

Sie schaute sich um. Venus hatte sich zu der Rutschstange zurückgezogen, sich dort angeleint und legte gerade ihren Druckanzug ab. Helen Gray war an der Schleuse der Raumfähre und beaufsichtigte deren Räumung. Holle schaute durchs ganze Modul und sah an der Schleuse zur Kuppel ebenfalls einen Fächer müder, verletzter Menschen, die dort gerade ins Freie gelangten. Grace Gray überprüfte die Herauskommenden und lenkte die Verletzten sanft in eine andere Richtung.

Ein Baby schwebte vorbei. Nackt, auf die doppelte Größe aufgebläht, war es offenkundig tot. Holle erkannte es nicht, wusste nicht, ob es Magdas Baby war, das Baby, das sie nicht gerettet hatte. Eine Sekunde lang war sie wie gelähmt; Schuldbewusstsein, Zweifel und eine Art grässlicher Befangenheit legten sich wie eine schwere Last auf sie.

»Holle.«

Venus, die nur noch ihren kühlenden Innenanzug trug, beobachtete sie unverwandt. Venus, die sie von Kindesbeinen an kannte, Venus aus der Akademie. Holle stieß sich zu ihr hinüber und hielt sich an einem Haltegriff fest. »Alles okay mit dir?«

Venus lachte. »Mit mir? Ja, zum Teufel. Für mich war’s bloß ein weiterer Außenbordeinsatz. Was ist hier drin passiert?«

»Eine Rebellion der Schiffsgeborenen.«

»Sie haben den Rumpf geöffnet. Ein Wunder, dass ihr nicht alle umgekommen seid. Was war das, irgendein Selbstmordpakt? «

»Nein«, sagte Helen Gray. Sie kam von der Shuttle-Schleuse zu ihnen herüber. »Ich glaube, sie wollten sich nach draußen durcharbeiten.«

»Nach draußen durcharbeiten?«

»Raus aus der Simulation … All diese Ideen von Zane.«

»Wir haben dieses Zeug nicht ernst genug genommen«, sagte Holle. »Zane, dieser Spinner. Tja, wir sind deswegen oft genug zu Wilson gegangen, aber er hat nicht auf uns gehört. Das hat ihn das Leben gekostet.«

»Vielleicht auch nicht«, sagte Venus. »Ich habe Shuttle A gesehen. Er hat vom Modul abgelegt. Das war noch vor dem Leck im Rumpf.«

Holle schüttelte den Kopf. »Typisch Wilson. Wahrscheinlich hatte er das schon jahrelang geplant.«

Venus erzählte ihnen von ihrem Sabotageverdacht. »Das Shuttle ist im Eimer. Aber Wilson könnte überlebt haben. Ich habe gesehen, wie er – oder jedenfalls jemand in seinem Druckanzug – ausgestiegen ist. Wenn sein SAFER durchgehalten hat, ist er wahrscheinlich schon wieder bei einer der Luftschleusen.«

Aber Holle hörte nur mit halbem Ohr zu. »Du sagt, das Shuttle sei zerstört worden.« Eine ihrer beiden Raumfähren, einfach weg. Alles wegen Wilson, seiner Inkompetenz und seines feigen Egoismus.

Venus war ernst. »Wir müssen darüber nachdenken, wie wir ohne es auskommen können.«

Die Babyleiche trieb in Augenhöhe an Holle vorüber, bewegt von vereinzelten Brisen in der neuen Luft. Der Verlust einer Raumfähre spielte nicht die geringste Rolle, wenn sie den heutigen Tag nicht überstanden.

Helen berührte sie am Arm. »Holle? Ich glaube, meine Mutter ist gerade ein bisschen überfordert. Ich helfe ihr.«

Holle nickte. »Ich komme mit. Venus, kannst du dich um den Rest kümmern?«

Eine Sekunde lang hielt Venus ihren Blick fest, und Holle sah die Herausforderung in ihren Augen. Plötzlich war dies ein entscheidender Moment, der Beginn eines neuen Kapitels. Wer war Holle, dass sie hier die Befehle erteilte? Aber dann machte Venus einen unmerklichen Rückzieher. »Klar. Um welchen ›Rest‹?«

»Stell einen Arbeitstrupp zusammen. Wir müssen sicherstellen, dass die Basissysteme funktionieren. Vergewissere dich, dass die Rumpfwand in der Umgebung der geflickten Stelle unversehrt ist. Die explosive Dekompression könnte woanders Schäden angerichtet haben. Und überprüf die Lebenserhaltungssysteme. Die Hydrokultur-Beete …«

»Die müssten okay sein«, warf Helen ein. »Die Pflanzen können eine gute Stunde Vakuum aushalten. Der Druckverlust hat ja nur ein paar Minuten gedauert.«

»Gut. Überprüf sie trotzdem. Was noch?«

»Wie steht’s mit unserer Position innerhalb der Warp-Blase?«, fragte Venus. »An der Seite des Moduls hat gerade ein Lufttriebwerk gezündet. Die Navigationssysteme müssten es kompensiert haben, aber ich weiß nicht, ob die Korrekturtriebwerke angesprungen sind und uns zurückgeschoben haben.«

»Wenn ja, hab ich’s nicht gehört. Überprüf das. Wir wollen nicht in die Warp-Wand treiben.«

»Wir sollten jemanden haben, der Wilson abfängt, falls er doch zurückkommt.«

Holle zuckte die Achseln. »Fesselt ihn an einen Pfosten. Wir kümmern uns später um ihn. Venus, wenn dir noch was einfällt, erledige es einfach.«

Venus deutete auf ihren Innenanzug. »Ich hole mir nur rasch einen Overall und mache mich an die Arbeit.«

»Okay. Ach, und Venus …« Sie driftete näher an sie heran und sagte leise: »Stell einen Trupp zusammen und durchkämme das Modul. Sammelt die Toten ein. Diese schwebenden Leichen. Bringt sie vorläufig irgendwo außer Sichtweite unter, vielleicht oben auf Wilsons Brücke. Und registriert die Überlebenden. Komm, Helen. Helfen wir deiner Mutter.«

Die Letzte Arche
e9783641062910_cov01.html
Section0001.html
e9783641062910_fm01.html
e9783641062910_ata01.html
e9783641062910_toc01.html
e9783641062910_ded01.html
e9783641062910_p01.html
e9783641062910_c01.html
e9783641062910_c02.html
e9783641062910_c03.html
e9783641062910_p02.html
e9783641062910_c04.html
e9783641062910_c05.html
e9783641062910_c06.html
e9783641062910_c07.html
e9783641062910_c08.html
e9783641062910_c09.html
e9783641062910_c10.html
e9783641062910_c11.html
e9783641062910_c12.html
e9783641062910_c13.html
e9783641062910_c14.html
e9783641062910_c15.html
e9783641062910_c16.html
e9783641062910_c17.html
e9783641062910_c18.html
e9783641062910_c19.html
e9783641062910_c20.html
e9783641062910_c21.html
e9783641062910_c22.html
e9783641062910_c23.html
e9783641062910_c24.html
e9783641062910_c25.html
e9783641062910_c26.html
e9783641062910_c27.html
e9783641062910_c28.html
e9783641062910_c29.html
e9783641062910_c30.html
e9783641062910_c31.html
e9783641062910_c32.html
e9783641062910_c33.html
e9783641062910_c34.html
e9783641062910_c35.html
e9783641062910_c36.html
e9783641062910_c37.html
e9783641062910_c38.html
e9783641062910_c39.html
e9783641062910_c40.html
e9783641062910_c41.html
e9783641062910_c42.html
e9783641062910_c43.html
e9783641062910_c44.html
e9783641062910_c45.html
e9783641062910_p03.html
e9783641062910_c46.html
e9783641062910_c47.html
e9783641062910_c48.html
e9783641062910_c49.html
e9783641062910_c50.html
e9783641062910_c51.html
e9783641062910_c52.html
e9783641062910_c53.html
e9783641062910_c54.html
e9783641062910_c55.html
e9783641062910_c56.html
e9783641062910_p04.html
e9783641062910_c57.html
e9783641062910_c58.html
e9783641062910_c59.html
e9783641062910_c60.html
e9783641062910_c61.html
e9783641062910_c62.html
e9783641062910_c63.html
e9783641062910_c64.html
e9783641062910_c65.html
e9783641062910_c66.html
e9783641062910_c67.html
e9783641062910_c68.html
e9783641062910_c69.html
e9783641062910_c70.html
e9783641062910_c71.html
e9783641062910_c72.html
e9783641062910_c73.html
e9783641062910_p05.html
e9783641062910_c74.html
e9783641062910_c75.html
e9783641062910_c76.html
e9783641062910_c77.html
e9783641062910_c78.html
e9783641062910_c79.html
e9783641062910_c80.html
e9783641062910_c81.html
e9783641062910_c82.html
e9783641062910_p06.html
e9783641062910_c83.html
e9783641062910_c84.html
e9783641062910_c85.html
e9783641062910_c86.html
e9783641062910_c87.html
e9783641062910_c88.html
e9783641062910_c89.html
e9783641062910_c90.html
e9783641062910_c91.html
e9783641062910_c92.html
e9783641062910_c93.html
e9783641062910_c94.html
e9783641062910_c95.html
e9783641062910_c96.html
e9783641062910_c97.html
e9783641062910_c98.html
e9783641062910_bm01.html
e9783641062910_cop01.html