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JUNI 2048

 

An dem Morgen, an dem das Urteil über Thomas Windrup verkündet werden sollte, wachte Holle in einem Raum mit seltsamen Metallfarben und fremdartigen Gerüchen auf, den sie nicht kannte. Dies war nicht ihre Kabine, nicht Seba, nicht das Modul, das sie mittlerweile als ihre Heimat betrachtete. In den Wochen seit dem Brand war sie in Hawila stationiert gewesen, wo sie sich mit Paul Shaughnessy schichtweise eine winzige Kabine teilte, einen ehemaligen, provisorisch umfunktionierten Wartungsraum. Sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt.

Sie brauchte nicht lange, um sich anzuziehen.

Paul war mit ihren Druckanzügen draußen vor der Kabine. Er wartete, während sie den Sanitärblock benutzte. Dann machten sie sich auf den Weg zur Luftschleuse in der Nase des Moduls, wo sie rasch in ihre Anzüge schlüpften. Holle versuchte nicht, Paul in ein Gespräch zu verwickeln. Heute ging er nach Seba hinüber, um bei der Verurteilung des Mannes dabei zu sein, der versucht hatte, seinen Bruder zu töten, indem er dessen Anzug sabotierte. Paul hatte seinen Zorn seit dem Vorfall nur mühsam im Zaum halten können, und es war am besten, ihn in Ruhe zu lassen.

Sie passierten die Schleuse, schwebten in die Dunkelheit hinaus und klinkten ihre Gurte in das Seil, das die Module jetzt verband. Es war kein straff gespanntes Rotationsseil, sondern nur eine Orientierungsleine zwischen den Modulen, an der sie sich die zweihundert Meter bis Seba Hand über Hand entlanghangelten. Er war ganz schön anstrengend, sich auf diese Weise fortzubewegen, aber es sparte Treibstoff.

Die Module trieben im Raum, stationär in Bezug aufeinander, aber nicht Seite an Seite, nicht einmal parallel; Hawila war im Vergleich zu Seba gekippt, so dass die beiden Module wie Schiffswracks auf dem Grund des immer tiefer werdenden Ozeans der Erde beieinanderlagen. Weitere Seile verbanden Hawila mit dem Warp-Generator, so dass die von Außenscheinwerfern beschienenen Komponenten der Arche in einer Art Spinnennetz hingen. Und jenseits der Module lagen die stillen, stetig leuchtenden Sterne.

An Bord von Seba begaben sich Holle und Paul sofort zu Deck zehn hinunter, indem sie sich von der Nase des Moduls aus an Haltegriffen entlang abwärtsbewegten. Kelly hatte angeordnet, dass die Urteilsverkündung genau dort stattfinden sollte, wo Thomas Windrups Sabotageakt den katastrophalen Brand ausgelöst hatte. Ohne Rotation gab es in dem Modul praktisch keine Schwerkraft, und überall schwebten Menschen, die sich von einem Haltegriff zum anderen abstießen. Die Kinder, alle zu jung, um sich an den schwerelosen Flug von der Erde zum Jupiter zu erinnern, fanden es toll, und durch die Luft fliegende oder purzelnde Kinder, die Fangen spielten, waren zu einer kleinen Gefahr geworden. Im Modul roch es jedoch immer noch nach Rauch und verbranntem Kunststoff.

Auf Deck zehn wartete Kelly vor einer kleinen Kabine, deren Tür geschlossen war. Trotz wochenlanger Aufräumarbeiten gab es hier keine Möbel, nicht einmal irgendwelche intakten Decksböden, an denen Möbel befestigt werden konnten. Allerdings hatte man Seile über das Deck gespannt, von einer geschwärzten Wand zur anderen, und die sich versammelnden Menschen hielten sich an ihnen fest oder suchten sich Ecken mit dafür geeigneten Vorrichtungen an den Wänden.

Holle schien das letzte noch fehlende Mitglied der Führungs-Crew zu sein. Sie sah Wilson, Venus, Mike Wetherbee, Masayo Saito – sogar Zane, und sie fragte sich, welche seiner alternierenden Persönlichkeiten zu dieser Zusammenkunft erschienen war. Doc Wetherbee vermied es geflissentlich, irgendjemand in die Augen zu schauen. Wilson, immer noch Kellys Liebhaber, hatte unübersehbar noch bis vor kurzem hart gearbeitet; er trug eine Weste und Shorts, und seine muskulösen Arme und Beine waren mit Asche beschmiert.

Jack Shaughnessy war nicht da. Nach den massiven Verbrennungen an den Armen und auf der Brust, die er erlitten hatte, war er vermutlich noch so schwach, dass Doc Wetherbee ihn nicht entlassen hatte. Und Thomas Windrup war auch nicht da, um das Urteil zu hören, das über ihn gefällt werden sollte. Venus schaute misstrauisch drein. Thomas Windrup war einer ihrer Navigations- und Astronomie-Kollegen, gehörte also zu »ihren« Leuten.

Kelly, auf subtile Weise von der Menge isoliert, ging Notizen in ihrem Handheld durch. Sie trug einen schmutzstarrenden Overall. Sie hatte sich die blonden Haare abrasiert, und die Linien um Mund und Augen waren von Rauch und Ruß eingefärbt, so dass sie weitaus älter aussah als ihre dreißig Jahre. Die fast sieben Jahre als Anführerin hatten sie härter gemacht, dachte Holle, entschlossener und klarer im Kopf. Sie hatte ihre Aufgabe durchaus kompetent erledigt. Doch all ihre harte Arbeit und selbst ihre unablässige Suche nach Einmütigkeit, die stundenlangen Gespräche, hatten nicht bewirkt, dass die Menschen sie mochten. Holle dachte manchmal, dass die Belastung sie zu sehr mitnahm.

Kelly ließ den Blick über ihre schweigende Mannschaft schweifen. »Okay«, begann sie. »Ich schätze, jeder, der hier sein möchte, ist hier. Ich habe alle regulären Dienstpflichten bis auf die Wachen aufgehoben. Ihr könnt die Sitzung über das Überwachungssystem live verfolgen oder euch die Aufzeichnungen ansehen, die wir anfertigen werden, und schließlich werden wir auch Transkripte zur Erde schicken.

Heute möchte ich einen Schlussstrich unter den Brand ziehen. Die Reparatur von Seba wird uns Jahre kosten – wir werden wahrscheinlich noch in drei Jahren daran arbeiten, wenn wir zur Erde II kommen. Aber wir haben schon eine Menge geschafft. Wir haben unsere Toten begraben.«

Vier Mitglieder der Crew – ein Kandidat, ein Eindringling, ein Illegaler und ein auf dem Schiff geborenes Baby – waren vom Rauch erstickt worden. Vier nackte Leichen waren in den Raum hinausgeschwebt, um von den wilden Gezeitenkräften der Warp-Blasenwand in Fetzen gerissen zu werden – nackt, weil sie keine Ressourcen für Särge, Fahnen oder auch nur Kleider erübrigen konnten.

»Wir haben ausführlich über die Mängel in unseren Standardverfahren gesprochen, die dazu geführt haben, dass der Ausbruch des Feuers derart ernste Folgen hatte«, fuhr Kelly fort. »Das gilt insbesondere für die Mängel in unseren Wartungsroutinen. Der schlimmste Faktor, der dabei eine Rolle gespielt hat, war eine Ansammlung von Staub und anderem brennbaren Zeug hinter den Ausrüstungs-Racks in ihren Gestellen an den Modulwänden. Eigentlich sollten alle Racks einmal pro Woche – in manchen Bereichen auch öfter – herausgezogen und ihre Anschlüsse gereinigt werden. Aber einige haben ausgesehen, als wären sie seit dem Jupiter nicht mehr bewegt worden.«

Kellys gründliche Untersuchung hatte ergeben, dass Holle und ihr Wartungsteam für die internen Systeme keinerlei Schuld traf. Der Fehler hatte in der von Jahr zu Jahr schlimmer werdenden Nachlässigkeit der regulären Crew bei der Ausführung ihrer routinemäßigen täglichen Reinigung der kleinen Räume gelegen, die sie alle bewohnen mussten. Doc Wetherbee hatte sich schon seit längerem darüber beklagt, und nach einer Welle von Lebensmittelvergiftungen, verursacht von mangelnder Hygiene in Hawilas Kombüse, hatten ein paar Leute einen Tritt in den Hintern bekommen. Aber die Ausbreitung des Feuers war eine viel ernstere Folge gewesen.

»Wir werden das ab sofort korrigieren. Aber jeder von uns, der seine routinemäßigen Reinigungsprozeduren abgekürzt hat, wird mit einem Teil der Verantwortung dafür leben müssen, was Peri, Anne, Nicholas und der kleinen Sasha zugestoßen ist.

Allerdings hat nur einer von uns den Brand, der solchen Schaden angerichtet hat, tatsächlich gelegt. Nur einer von uns trägt die volle Last der Schuld. Thomas Windrup hat gestanden, sobald wir das Feuer unter Kontrolle hatten, und wie ihr wisst, haben wir uns die Aufzeichnungen der Überwachungskameras angesehen, um seine Schuld eigenständig festzustellen. Es besteht kein Zweifel, dass er der Brandstifter war, wie er ausgesagt hat. Er wollte Jack Shaughnessy umbringen. Beinahe hätte er uns alle umgebracht.«

Holle nahm an, dass man es als Affekthandlung bezeichnen konnte. In der Crew, die in der Arche festsaß, während die Jahre langsam verstrichen, gingen Obsession, Lust und Misstrauen allmählich in Zersetzung über. Thomas hatte nie aufgehört zu glauben, dass Jack Shaughnessy immer noch scharf auf Elle war, dass er auf Zeit spielte und abwartete, bis sie alle auf der Erde II ankamen, wo er unter Berufung auf das neue Schiffsgesetz zum Thema »mehrere Väter« Anspruch auf sie erheben würde. Auf der Arche konnte man seinen Feinden nicht entkommen, nicht einmal seinen Freunden. Zahllose zufällige Begegnungen mit Jack hatten Thomas am Ende verrückt gemacht – zumindest so verrückt, dass er versucht hatte, Jack zu töten.

Aber Thomas behauptete mit Nachdruck, er habe nicht vorgehabt, jemand anderem etwas zuleide zu tun. Er wusste, dass Jack den Druckanzug überholen sollte, den er meistens benutzte. Thomas hatte den Anzug so manipuliert, dass ein Funke erst einen Sauerstoffstrahl und dann die Materialien des Anzugs entzünden würde, wenn jemand ein Prüfventil an der Sauerstoffzufuhr betätigte; er hatte das Innenfutter des Anzugs mit einer brennbaren Lösung getränkt. Die Vorbereitungen hatte Thomas großenteils im Dunkeln ausgeführt, um dem allgegenwärtigen Blick der Überwachungskameras zu entkommen. Seinem Plan zufolge sollte das Feuer jeden Hinweis auf sein Motiv, seine Schuld vernichten. Aber irgendwie war sein Plan fehlgeschlagen. Der Anzug war geradezu explodiert, und Jack war nicht getötet, sondern weggeschleudert worden, mit schlimmen Verbrennungen, aber lebendig, und das so entstandene Feuer hatte sich rasch über den Anzug hinaus ausgebreitet.

»Doch nun müssen wir uns mit der Frage befassen, welche Strafe wir dafür verhängen sollen. Dies ist das schwerste Verbrechen, das es an Bord dieser Arche gegeben hat, seit wir die Erde verlassen haben – und ich hätte nicht erwartet, jemals mit etwas derart Schwerwiegendem konfrontiert zu sein. Ich habe lange und gründlich nachgedacht. Ich bin zu einer Entscheidung gelangt. « Sie sah sie der Reihe nach an, mit unbewegtem Gesicht. »Und ich habe diese Entscheidung mit Hilfe von Masayo und Doc Wetherbee in die Tat umgesetzt. Ihr wisst, ich habe immer versucht, auf der Grundlage von Konsens und, wenn möglich, Einmütigkeit zu handeln. Aber ich fand, dass die Entscheidung in diesem Fall zu hart, die Konsequenzen zu gravierend waren, um offen diskutiert zu werden. Diese Entscheidung habe ich ganz allein getroffen. Ich trage die Verantwortung dafür.

Bitte hört euch meine Begründung an. Thomas hat einen Mordversuch verübt. Auf der Erde wäre er, als die Regierung in Denver noch funktionierte, ins Gefängnis gekommen oder einem Sträflingstrupp im Arbeitseinsatz zugeteilt worden, mit dem er unaufhörlich Deiche oder Auffanglager für Eye-Dees gebaut hätte. Und wenn es ihm gelungen wäre, Jack Shaughnessy zu töten, wäre er dafür vielleicht sogar hingerichtet worden. Was also sollten wir hier mit ihm machen? Wir haben solche Fragen auf der Akademie diskutiert – die Kandidaten unter euch werden sich daran erinnern –, aber auch während der Reise zum Jupiter, als wir noch unter der Schirmherrschaft von Gunnison standen. Zudem haben wir einen Präzedenzfall, nämlich Gordo Alonzos Urteil aus dem Jahr ’43, als Jack Shaughnessy seinerseits Thomas angegriffen hatte. Jack wurde wieder an die Arbeit geschickt.« Sie warf Venus einen Blick zu. »Wie Venus mir unablässig ins Gedächtnis gerufen hat, ist Thomas ihr bester Astronom. Wir brauchen ihn wieder in der Kuppel, damit er hilft, weitere Informationen über die Erde II zu sammeln. Wir können ihn nicht einmal sozial isolieren, weil wir seine Gene benötigen. Aber sein Verbrechen ist schwer, es hätte uns alle beinahe das Leben gekostet, und ich glaube nicht, dass wir einfach so zur Tagesordnung übergehen können. Also, was sollten wir tun?

Ich habe einige Recherchen im Archiv angestellt. Wir sind nicht die einzige Gesellschaft, die jemals vor einer solchen Herausforderung gestanden hat – trotz Ressourcenknappheit vor die Aufgabe gestellt zu sein, mit einzelnen Übeltätern fertigzuwerden. Das mittelalterliche England beispielsweise, aber auch Westeuropa. Sie haben sich Strafen ausgedacht, mit denen der Verbrecher bis ans Ende seiner Tage leben musste, die einerseits eine sichtbare Abschreckung für andere waren, ihn andererseits aber nicht an der Arbeit hinderten. Und darum …« Sie warf Masayo einen Blick zu. »Du kannst ihn jetzt rausholen.«

Masayo sah aus, als wäre ihm äußerst unbehaglich zumute, fand Holle. Er zog sich zu der Tür der Kabine hinter Kelly hinüber, aber bevor er sie öffnete, blickte er mit verschränkten Armen und gereckter Brust in die Runde. »Ich will nicht, dass es deswegen Ärger gibt. Wir alle müssen bei dieser Sache die Ruhe bewahren, ganz gleich, was ihr empfindet. Okay?«

Venus schaute wütend drein. Wilsons Augen waren kalt und wachsam. Zane wirkte belustigt.

Masayo öffnete die Kabinentür. Im Innern war es dunkel. »Komm raus!« Er hielt sich am Türrahmen fest, um das Gleichgewicht zu wahren, und streckte einen Arm in die Kabine.

Thomas Windrup kam ins Licht. Er klammerte sich an Masayos Arm und vermied es, irgendjemandem in die Augen zu schauen. Sein Gesicht war noch verschwollen von den Prügeln, die er bezogen hatte, als Paul und ein paar seiner Illegalen-Kumpels ihn zu fassen bekommen hatten. Aber Holle fand, dass er blasser, kranker aussah; ihm war etwas Schlimmeres als eine Tracht Prügel widerfahren.

»Zeig es ihnen«, befahl Kelly.

Voller Scham hob Thomas ein Bein. Der Stiefel baumelte herab, schwebte frei in der Luft, und das Hosenbein verdrehte sich; es war leer.

Man hörte Laute des Erschreckens und leise Flüche. Zane Glemp lachte laut auf.

»Scheiße«, rief Venus. »Ihr habt ihm den Fuß abgenommen!«

»Im freien Fall wird das keinen Unterschied machen«, sagte Kelly. »Unter Schwerkraft wird er natürlich behindert sein, sowohl auf der Arche als auch auf der Erde II. Aber der Doc arbeitet schon an einer Krücke für ihn, sogar an einem künstlichen Fuß. Was die Arbeit betrifft, die er für dich erledigt, Venus, spielt das ja offensichtlich keine Rolle …«

Venus wandte sich an Wetherbee. »Hast du das gemacht? Du bist Arzt. Hast du ihn verstümmelt?«

Holle hatte Mike Wetherbee noch nie so unglücklich gesehen wie in diesem Augenblick. »War ja klar, dass du das sagen würdest. Jeder weiß, dass Thomas zu deinen Leuten gehört. Jedenfalls war’s ein direkter Befehl. Wär’s dir lieber gewesen, jemand anders hätte es getan? Hätte ich Paul Shaughnessy mit einer Kettensäge auf ihn loslassen sollen?«

»Gib ihm nicht die Schuld.« Kelly sank nach unten, bis sie sich zwischen Venus und Wetherbee befand. »Die Entscheidung, die Verantwortung lag allein bei mir.«

Venus holte tief Luft. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, Kelly. Du weißt, ich bewundere dich – was du für uns getan hast. Du hast uns einige harte Jahre lang zusammengehalten, besonders seit wir den Kontakt zur Erde verloren haben. Aber ich kann deine Haltung zu dieser grotesken Verstümmelung nicht akzeptieren. Du hast ein gesundes Mitglied der Crew zum Krüppel gemacht. Du hast den Doc ebenso kompromittiert wie Masayo, der durch dich zu einem brutalen Schläger geworden ist. Du hast deine Position als Sprecherin auf Konsensbasis inne, Kelly. Nun, ich kündige diesen Konsens hiermit auf.«

Tödliche Stille trat ein.

Holle war sich sehr wohl bewusst, dass es hinter den Kulissen stets hitzige Auseinandersetzungen gegeben hatte, wenn Kelly versuchte, zu Entscheidungen zu gelangen. Aber dies war das erste Mal, dass ein auch nur annähernd so hochrangiges Crewmitglied wie Venus ihr öffentlich den Kampf ansagte.

»Willst du den Job haben, Venus?«, blaffte Kelly zurück.

»Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, dass du zurücktreten musst. Wenn du weg bist, werden wir uns überlegen, wie es weitergehen soll.«

»Du bist doch bloß sauer, weil ich mich in deinen Machtbereich eingemischt habe. Nun, auf die Kampfansage einer einzelnen Person brauche ich nicht zu reagieren …«

»Venus hat Recht«, sagte Wilson. Er hatte auf einem Mikrogravitations-T-Hocker gesessen, die Beine um dessen Streben geschlungen. Nun richtete er sich auf, so dass er Kelly ins Gesicht sah.

Kelly machte große Augen. »Wilson? Was tust du?«

»Du hast hervorragende Arbeit geleistet, Kelly. Aber die Dinge laufen schon seit einer ganzen Weile aus dem Ruder. Wir haben die Putzpläne nicht eingehalten – sonst wären wir gar nicht erst in diesen Schlamassel geraten.« Er deutete auf Thomas. »Und das war auf jeden Fall ein Fehler. Das ist nicht der richtige Weg für uns. Jemand anders sollte dir diese Bürde abnehmen.«

»Und wer? Du?« Aber er gab nicht nach. In Kellys Gesicht arbeitete es. Ihre Augen waren hart, aber rot gerändert, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Du Scheißkerl, Wilson. Du lässt mich im Stich. Habt ihr beiden das inszeniert? Habt ihr’s gemeinsam hinter meinem Rücken ausgekocht?«

Wilson spreizte die Hände. »Wir sind bloß zwei Mitglieder der Crew, die ihre Meinung zum Ausdruck bringen.«

»Schön. Wenn ihr es so wollt. Ich trete zurück.« Sie verschränkte die Arme und stieß sich nach hinten ab, so dass sie zwischen Masayo und Thomas hindurchschwebte.

Ein langes Schweigen trat ein. Niemand rührte sich.

Holle erkannte, dass Kelly nicht nur ihren Posten als Sprecherin aufgegeben, sondern auch die Leitung dieser Versammlung niedergelegt hatte. Holle selbst zog es instinktiv vor, im Hintergrund zu arbeiten; sie exponierte sich nicht gern, schon gar nicht in einer solch aufgeladenen Atmosphäre. Aber die Pflicht, die Pflicht war ein ewiger Ansporn für sie. Wenn niemand sonst den Dreck wegschaufelte, würde sie es tun. Manchmal sogar buchstäblich.

Sie zog sich in den Raum, den Kelly verlassen hatte. »Wir müssen weitermachen. Irgendwelche Einwände dagegen, dass ich die Versammlung von jetzt an leite?«

Zustimmendes Gemurmel. Den Ausschlag gab, dass Kelly, Venus und Wilson nickten. Aber Wilson grinste spöttisch. »Typisch für dich, Groundwater. Warum bist du nicht hier oben und bringst selbst deine Ablehnung zum Ausdruck? Kleine graue Maus.«

Holle beachtete ihn nicht. »Bringen wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns. Wir brauchen einen neuen Sprecher. Gibt es Kandidaten? Hebt die Hand, wenn ihr euren Hut in den Ring werfen wollt.«

Kellys Arm fuhr in die Höhe.

Venus hob würdevoll die Hand.

Und dann, langsam, beinahe widerstrebend, als würde sein Arm nach oben gezogen, hob Wilson die rechte Hand. Kelly schleuderte ihm einen Blick puren Abscheus zu.

Holle machte vorsichtig weiter. »Okay. Kelly Kenzie, Venus Jenning und Wilson Argent erklären ihr Interesse. Aber es sind nicht alle Mitglieder der Crew anwesend.« Sie schaute zur nächsten Kamera hinauf. »Grace, bist du in der Kuppel?«

Grace Gray hatte an diesem Tag Wachdienst. Ihre Stimme dröhnte aus den Bordlautsprechern. »Ich bin hier, Holle. Wir sehen dich. Helen sagt Hallo.«

Holle grinste. »Ich wünschte, ich wäre bei euch«, bekannte sie trübselig. »Bitte gib an alle in Seba und drüben in Hawila durch: Wer seine Kandidatur für diesen Posten erklären möchte, soll sich jetzt melden.« Sie blickte in die nächste Kamera hinauf. »Lasst uns das ordentlich machen, Leute, damit es hinterher keine Kritik gibt. Wenn euer Nachbar schläft, dann weckt ihn, damit er seine Chance nicht verpasst. Ihr habt fünfzehn Minuten für eure Antwort. Alle einverstanden?« Sie schaute sich erneut um. Es gab keine Einwände.

 

Es waren die längsten fünfzehn Minuten in Holles Leben, zumindest seit sie auf der Startrampe in Gunnison darauf gewartet hatte, dass unter ihrem Hintern eine Atombombe explodierte. Auf Deck zehn blieb jeder, wo er war, stumm wie ein Stein.

Nach den fünfzehn Minuten gab es zu Holles Erleichterung keine weiteren Kandidaten.

»Okay«, sagte sie. »Dann schlage ich vor, wir gehen zur Wahl über. Wie wollt ihr’s machen – per Handzeichen? Grace, wenn du verfolgen kannst, was in Hawila passiert …«

»Nein«, sagte Wilson. Er sprach in entschiedenem Ton und mit klarer Stimme. »Diese Entscheidung ist so wichtig, dass wir dabei keinen Mist bauen sollten. Es ist nicht so wie bei unserem Aufbruch vom Jupiter, als wir keine ernsthaften politischen Meinungsverschiedenheiten und keine persönlichen Differenzen hatten. Jetzt muss es eine Diskussion geben.«

»Was schlägst du vor?«

»Dass wir uns Zeit lassen. Sagen wir, eine Woche. Wozu die Eile? Bis dahin kann Holle als kommissarische Sprecherin amtieren. In dieser Zeit werden wir Gelegenheit haben, darüber zu reden, wohin wir als Crew und als Gemeinschaft wollen. Und dann können wir eine richtige Wahl abhalten.«

Weder Venus noch Kelly schienen damit sonderlich glücklich zu sein, aber keine der beiden erhob Einwände.

»Okay. Und was geschieht am Ende dieser Woche? Versammeln wir uns zu einem Votum durch Akklamation?«

»Nein, zum Teufel. Wir führen eine geheime Abstimmung durch. Wir finden schon eine Möglichkeit, das hinzukriegen. Ich schlage vor, wir setzen zwei Runden an – zunächst scheidet der dritte Platz aus, dann kommt eine Stichwahl zwischen den ersten beiden …«

Kelly schnaubte. »Eine geheime Abstimmung? Würdest du wirklich eine solche Ressourcenverschwendung in Kauf nehmen? «

Wilson sah sie lange an, dann richtete er den Blick vielsagend auf Masayo. »Es darf keine Einschüchterungsversuche geben. Eine geheime Wahl ist eine geeignete Methode, um das zu gewährleisten. «

Er setzte sich durch. Und als sich die Versammlung erregt schwatzend auflöste, hielt Holle die drei – Kelly, Venus und Wilson – zurück, um einen grundlegenden Ablaufplan für die kommende Woche auszuarbeiten. Grace schaute von fern als Zeugin zu. Kelly und Wilson hielten Abstand voneinander und wollten sich nicht einmal ansehen.

Als es schließlich vorbei war, entfloh Holle ungeheuer erleichtert in die Ruhe und Stille ihrer Kabine, wo sie daran ging, Kellys Arbeitspensum zu übernehmen und sich zu überlegen, wie sie es mit ihren eigenen Aufgaben vereinbaren konnte.

Aber dann klopfte Wilson Argent an die Tür. »Ich muss mit dir reden. Ich brauche deine Stimme – uns allen zuliebe.«

Die Letzte Arche
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