16

Der Anruf für Holle war eine Aufforderung, zur Akademie zurückzukommen. Als sie dort eintraf, nahmen die Schüler gerade im großen Nord-Atrium im Erdgeschoss des Museums Aufstellung, einem dreistöckigen offenen Raum mit Ziegelwänden und Glasdach, der früher einmal das Museumscafé beherbergt hatte.

Der große, kerzengerade sechzigjährige Militär, der neben der Präsidentin am Podium gestanden hatte, war ebenfalls da. Er trug eine blaue Luftwaffenuniform. Umgeben von einer Handvoll Berater, stand er auf einer Treppenstufe vor den Schülern. Zwei junge Männer in Uniform, die Holle nicht kannte, flankierten ihn etwas zurückversetzt in militärischer Haltung, die Beine gespreizt, die Hände auf dem Rücken. Das Personal der Akademie hatte sich nervös an einer Wand aufgereiht, vor einer Weißwandtafel.

Der Offizier begann zu sprechen, während noch immer der eine oder andere Nachzügler hereinkam.

»Mein Name ist Gordon James Alonzo. Meine Freunde nennen mich Gordo. Für euch bin ich der Colonel. Wenn ihr wissen möchtet, wer ich bin und was ich getan habe, googelt mich. Sagt ihr kleinen Arschlöcher noch immer ›googeln‹? Wie auch immer. Ihr werdet feststellen, dass ich in der Air Force ausgebildet wurde und bei der NASA Shuttles geflogen habe. Und jetzt bin ich auf Wunsch der Präsidentin wieder hier, trage wieder die blaue Air-Force-Uniform und übernehme diesen beschissenen Scherbenhaufen eines Raumfahrtprojekts. Dazu gehört, dass dieser Kindergarten in etwas verwandelt wird, was einer Ausbildungsakademie für eine Besatzung ähnelt.« Er funkelte die Kandidaten an, von denen manche gerade einmal elf Jahre alt waren. »Und übrigens, ich werde keinerlei Rücksicht auf eure Gefühle nehmen. Ich bin sicher, eure Ausdrucksweise ist weitaus unflätiger als meine. Nach euren Leistungsnachweisen zu urteilen, werden die meisten von euch ohnehin nicht mehr so lange hier sein, dass mein schmutziges Mundwerk eine Rolle spielt.

Ich habe mal in den Protokollen des Unterrichts von heute Vormittag geblättert. Soziologie! Ethik! – Jesus Christus. Eins will ich euch sagen.« Er sah das Personal an. »Es wird hier keinen verräterischen Dulder-Quatsch mehr geben. Ist das klar? Von nun an herrschen hier andere Sitten. Grundlage eurer Ausbildung – soweit ihr die Auslese übersteht – werden ausschließlich Aspekte des Projekts sein, an dem ihr arbeitet. Schiffssysteme – Antrieb, Kommunikation, Umweltregelung, Lebenserhaltung, Leit- und Navigationssystem, Druckanzüge, Cockpitintegration. Ach ja, auch allgemeine Relativität und dieser ganze Schwachsinn. Dazu weiterreichende Aspekte des Projekts, Planetensuche, Rückgewinnungssysteme, Flugplanung, Ausbildungsprogramme. Wenn ihr schlau seid, sucht ihr euch also ein Spezialgebiet aus und beschäftigt euch gründlich damit. Macht euch unentbehrlich für das Programm – unentbehrlich für mich. Versucht nicht, euch zu verstecken. Wenn ihr das tut, seid ihr draußen.

Alles wird zweckorientiert sein. Selbst eure Freizeit wird sich auf die physischen Aspekte der Mission konzentrieren. Kein beschissenes Softball mehr. Machen Sie sich eine Notiz, Ben«, wandte er sich an einen seiner Berater. »Wir sollten eine Zentrifuge hierherschaffen. Und wir brauchen ein bisschen Flugtraining, oder zumindest Flugerfahrung. Wie wär’s mit einem Kotzbomber? Zumindest könnten wir einen Fallturm mit Katapulttisch aufbauen. Und so weiter und so fort.« Er starrte die Kandidaten finster an. »Irgendwelche Fragen.«

Eine lange, benommene Stille trat ein. Dann hob Holle zu ihrer eigenen Überraschung die Hand. »Colonel – warum ›Projekt Nimrod‹?«

Er kniff die Augen zusammen. »Gute Frage. Religion ist hier wohl nicht gerade ein Hauptfach. Erstes Buch Mose, Kapitel zehn, Vers acht und zehn: ›Kusch aber zeugte den Nimrod; der war der erste Gewaltherrscher auf Erden … Und der Anfang seines Reiches war Babel, Erech und Akkad …‹ Wir befinden uns nur ein paar Generationen nach der Sintflut, und da ist Nimrod schon König von Babel. Ich nehme an, ihr wisst, was in Babel passiert ist, oder? Kapitel elf, Vers vier: ›Und sie sprachen: Wohlan, lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis in den Himmel reicht …‹«

Wilson Argent meldete sich. »Aber, Colonel – wollen Sie Arche Eins mit Babel vergleichen? Gott hat die Menschen bestraft, als sie den Turm gebaut hatten.«

»Ja, das hat er. Aber warum? Erstes Buch Mose, Kapitel elf, Vers sechs: ›Nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen.‹ Gott hat uns gefürchtet. Und darum nennen wir uns nach Nimrod.«

»Wow«, sagte Wilson. »Das ist also eine Kampfansage an Gott? Sir.«

»Warum nicht, zum Teufel? Es war die Idee der Präsidentin.« Er schaute kurz zu den Angehörigen des Personals vor der Weißwandtafel hinüber und zeigte auf Harry Smith, der zusammenzuckte. »Sie da! Schreiben Sie das an die Tafel. Ja, jetzt. ›Nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen.‹«

Harry suchte sich einen Griffel und schrieb die Worte an die Tafel. Deren Buchstabenerkennungs-Software konvertierte sie in eine Fettschrift.

Alonzo stemmte die Hände in die Hüften. »Und was euch verwöhnte kleine Arschlöcher betrifft, so möchte ich gleich von Anfang an klarstellen, dass sich hier einiges ändern wird. Daddys Geld hat euch hierhergebracht, aber es wird euch euren Platz hier nicht sichern – sofern ihr nicht unter Beweis stellt, dass ihr mehr zu bieten habt als eure Mitbewerber. Und damit geht es jetzt sofort los.« Er schaute sich um. »Kommt nach vorn, ihr zwei.«

Die beiden jungen Männer hinter ihm traten vor. Sie wirkten unsicher. Einer trug Luftwaffenblau, der andere eine Art Polizeiuniform. Sie nahmen erneut Haltung an, aufrecht und hochgewachsen.

Alonzo starrte die Schülerinnen und Schüler an. »Ihr Gören in diesem Schwuchtelschuppen habt keinen blassen Schimmer davon, was da draußen in der wirklichen Welt vorgeht. Nun, diese beiden hier sind nicht älter als viele von euch, aber sie waren da draußen. Mel Belbruno hier ist, was auch ich zu meiner Zeit war: ein Air-Force-Bengel. Aber er war schon mit zehn Jahren in einem Kadettenkorps, und er hat Erfahrung mit den Überresten der NASA. Er ist ein echter Raumkadett. Schüler wie er sollten an dieser Mission beteiligt sein.

Und das hier ist Matt Weiss. Matt gehört zu einem Kadettenkorps der Polizei von Denver. Wollt ihr wissen, wo Matt sich die ersten Sporen verdient hat? Draußen an der Front, an der Küste dessen, was von Amerika noch übrig ist, einer Küste, die jeden Tag weiter zurückweicht. Matt hat da draußen hochrangigen Beamten der Polizei von Denver geholfen zu entscheiden, wessen Kinder an Land dürfen und wessen nicht, und diese Entscheidungen in die Tat umzusetzen. Wer von euch hat Erfahrungen vorzuweisen, die sich damit vergleichen lassen?«

Kelly Kenzie hob die Hand. »Colonel Alonzo, ich möchte die Richtigkeit dessen, was Sie sagen, nicht bestreiten. Aber hier in unserem Lehrgang ist kein Platz mehr. Wir alle trainieren seit Jahren speziell für diese Mission. Wenn die beiden mitmachen sollen …«

»Gutes Argument, Blondie. Ich werde Platz schaffen müssen«, sagte er mit kalter Brutalität. Sein Blick schweifte über die Schüler.

Holle sah, wie manche sich duckten, als wollten sie einem Laserstrahl ausweichen. Sie befahl sich, aufrecht stehen zu bleiben.

Alonzo starrte Kelly an, die ihm die Frage gestellt hatte. Und dann zeigte er auf Don Meisel, der neben ihr stand. »Du. Rotschopf. Pack deine Sachen. Du nimmst ab sofort Matts Platz bei der Polizei ein.«

Don zitterte. »Ich? Sie wissen doch gar nichts über mich. Sie kennen nicht mal meinen Namen! Und ich habe gar nichts gesagt …«

»Genau. Die Kleine neben dir hatte den Mumm, den Mund aufzumachen.« Als Don sich nicht rührte, sagte er mit Unheil verkündender Gelassenheit: »Bist du immer noch da?«

Don drehte sich um und ging davon. Er schob sich mit rotem Gesicht an Holle vorbei. Seine Augen brannten vor Demütigung und Zorn.

»Morgen früh«, sagte Alonzo, »suche ich den zweiten aus, der fliegt. Und jetzt an die Arbeit.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus.

Holle verspürte nur kaltes Entsetzen. Seit dem Tag ihrer Aufnahme in die Gruppe war Don Meisel einer der offensichtlichen Anführer gewesen. Sie hatte sogar geglaubt, er könnte Kapitän werden. Und jetzt war er fort, einfach so. Wenn schon Don Meisel seinen Platz durch eine solch willkürliche Entscheidung verlieren konnte, wer würde dann morgen wohl gehen müssen?

Die Letzte Arche
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