30
Der Bautrupp verließ die Kreuzung und marschierte auf der schnurgeraden E-470 vielleicht einen halben Kilometer weit nach Süden.
Holle erhaschte hin und wieder einen Blick auf den Wirrwarr von Befestigungsanlagen östlich des Straßenverlaufs. Alles, was dort einmal gestanden hatte, war zerstört oder planiert worden, so dass eine hundert Meter breite Narbe in der Landschaft zurückgeblieben war. Diese freie Fläche wurde von mehreren hintereinander angeordneten Stacheldrahtzäunen und massiven Betonblöcken von Holles Größe eingenommen, die in unregelmäßigen Reihen wie Panzersperren aufgestellt waren. Überall wimmelte es von Menschen; sie standen oder saßen in großen Gruppen schweigend beieinander oder marschierten zielstrebig irgendwohin. Einige trugen Uniform. Die eindrucksvollste Befestigungsanlage war ein Graben, in dem ganze Bagger Platz gefunden hätten. Er wurde von einem steilen Hang auf der näher liegenden und einem flacheren Hang auf der anderen Seite eingefasst. An seinem diesseitigen Rand hatten Gruppen von MG- und Scharfschützen Stellung bezogen. Holle verstand den Grundgedanken; wenn man von Osten kam, stolperte man hinein, ohne es richtig zu merken, und war bis zum Boden des Grabens den Waffen ausgesetzt, aber man würde nur unter großen Schwierigkeiten an diesem steilen Westhang emporklettern können und dabei direkt vor den Mündungen der Waffen landen. Es war wie ein Schanzwerk aus der Zeit der Stahlgewitter.
Dann kamen sie zu einer leichten Anhöhe, und Holle konnte weiter nach Osten schauen, an der Linie der alten I-70 entlang und über die jenseitige Grenze der Befestigungen hinaus. So weit das Auge reichte, war die Straße voller Menschen, ein graues Band, ein Menschenstrom, der auf dem Highway in Richtung Denver flutete, sich auf die Bankette ergoss und unter den ramponierten Straßenschildern hindurchquoll. Das war die Invasionsarmee, die mit all diesen Verteidigungsanlagen abgewehrt werden sollte. Sie hörte ferne Gewehrschüsse und das Krachen von Granaten.
»Du bist also die Betonmischerin«, sagte eine männliche Stimme in ihrem Rücken. »Ich hab in der Schlange direkt hinter dir gestanden.«
Sie drehte sich um. Der Mann trug einen geflickten AxysCorp-Overall; er war vielleicht fünfzig Jahre alt, sah jedoch kräftig aus, wie ein Farmer, mit großen, schmutzverkrusteten Händen. »Na und?«, sagte sie trotzig. »Wollen Sie mich verpfeifen?«
»Ich doch nicht. Ich hab nicht viel Ahnung vom Bauen.« Er schaute auf seine großen Hände. »Aber ich hatte eine kleine Farm am Ostufer des Back Squirrel Creek. Ich bin’s gewohnt, mit den Händen zu arbeiten. Einen Graben ausheben oder einen Zaun ziehen, das kriege ich schon hin, glaube ich. Jedenfalls bin ich lieber hier als in den Kampfeinheiten oder im Ehrenkorps. «
»Was ist das Ehrenkorps?«
»Schau.« Er zeigte auf eine große Gruppe von Menschen, die unmittelbar vor den Befestigungen teilnahmslos auf dem Asphaltband des Highways saßen. »Wenn unsere Eye-Dee-Freunde den Zaun überwinden, werden sie sich da durchkämpfen müssen. Könntest du mit der Machete auf einen behinderten Jungen im Rollstuhl losgehen? Es ist ein menschlicher Schutzschild, eine alte Taktik, die Saddam Hussein perfektioniert hat – na ja, von dem hast du vermutlich noch nie was gehört. «
»Funktioniert nie im Leben«, sagte jemand, ein stämmiger Mann mit einem Helm. »Wenn die Eye-Dees sich durch die Nationalgarde gekämpft haben, machen sie doch vor denen nicht halt.«
»Aber sie sind keine Ungeheuer«, wandte der Farmer sanft ein. »Sie sind wie wir. Amerikaner.«
»Ich sag euch, was ich täte. Ich würde mir die Burschen an der Spitze schnappen, ihnen eine Knarre in die Hand drücken und sie umdrehen. Das würde funktionieren, sollen sie sich doch gegenseitig abmurksen. Scheiß-Eye-Dees …«
»Sieht so aus, als hätte ich dich gerade noch rechtzeitig gefunden. «
Holle fuhr herum. Kelly stand direkt hinter ihr, in einem tristen, olivgrünen Overall, ein Gewehr in der Hand, ein Handy ans Ohr gedrückt. Holle verspürte eine sonderbare Mischung intensiver Gefühle und zugleich eine Art Enttäuschung. Sie merkte, wie der Farmer von ihr zurückwich, während er sie beobachtete. Sie umarmte Kelly. »Du bist mich holen gekommen.«
»Tja, du hast mir doch die Taschen mit den Windeln gebracht«, sagte Kelly. »Komm, Mel wartet in einem Jeep hinter den Abfertigungstischen. Wir können die Busse noch einholen, aber wir werden querfeldein fahren müssen.«
Sie eilten an der Schlange entlang zurück. Kelly hatte einen Passierschein, den sie den Aufsicht führenden Soldaten und Cops immer wieder vorzeigte. Holle blickte sich um, hielt Ausschau nach dem Bauern und nach Mrs. Green in den Schutzschild-Einheiten, sah sie aber nicht. Es war kaum zu glauben, wie verloren sie sich nur Sekunden zuvor gefühlt hatte.
»Wie hast du mich gefunden?«
»War nicht leicht«, rief Kelly. »Du wärst überrascht, wie viele Holle Groundwaters heute hier durchgekommen sind. Aber du hast die richtige Entscheidung getroffen, dich in den Bautrupp zu mogeln. Wärst du an die Front geschickt worden, in diesen verdammten Ersten Weltkrieg, den sie da draußen inszenieren, wäre ich nicht an dich rangekommen. Ich hätte aber gern gesehen, wie du Beton mischst. Ha! Ach, übrigens, es hat geklappt. «
»Was denn?«
»Der Warp-Test. Wir haben’s gesehen. Oder vielmehr, Venus und die Planetensucher in Alma haben’s gesehen. Die optische Verzerrung – die Gravitationslinse, als die Blase vor dem Mond vorbeigezogen ist – es war unverkennbar. Sie haben einen Clip an die Busse geschickt.«
»Mein Gott.« Holle schaute zum Himmel hinauf und versuchte sich das relativistische Wunder vorzustellen, das sich hoch über ihr ereignet hatte, genau am selben Tag wie die urbanen Schrecknisse, die sie durchgemacht hatte. Es schien nicht zusammenzupassen, als könnte unmöglich beides zugleich stimmen. Entweder das eine oder das andere musste falsch sein.
Schüsse aus automatischen Waffen knatterten. Kelly zerrte sie zu Boden. Holle schlug schwer hin; ihre alten blauen Flecken taten weh.
Und dann ging eine Bombe hoch, eine mächtige, überwältigende Detonation. Der Boden erbebte, und heiße Luft strich über sie hinweg. Holle stellte fest, dass sie von Staub bedeckt war; ein dröhnender Lärm, der ganz aus der Nähe kam, erfüllte ihre Ohren.
Kelly bewegte sich und half Holle auf die Beine.
Nicht alle hatten so schnell reagiert wie Kelly. Überall um sie herum waren Leute zu Boden geschleudert worden. Ihre Münder bewegten sich, aber Holle konnte ihre Stimmen nicht hören.
Ein metallisches Glitzern zu ihrer Rechten, draußen an der Linie des Highways im Osten, lenkte sie ab. Der Angriff auf die Kreuzung schien das Signal für einen Vorstoß des Eye-Dee-Heeres gewesen zu sein. Sie hieben sich ihren Weg durch die Reihen der Wehrpflichtigen-Armee der Stadt, ein grauer Schwarm, der durch die braunen Linien flutete, erkennbar am Funkeln der Messer und Macheten, die in der Morgensonne auf- und niederfuhren, und an den emporsteigenden Rauchwölkchen der Schusswaffen.
Kelly zerrte an ihrem Ärmel und schrie ihr ins Gesicht, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Kellys Gesicht war staubverkrustet, Blut rann ihr aus dem Mund, und ihr Haar war eine verfilzte Masse. Holle hörte kein Wort von dem, was sie sagte.
Von der Kreuzung aus, wo die Bombe explodiert war, wälzte sich eine Mauer aus Staub die 470 entlang und trieb Menschen wie Vieh vor sich her.
Sie drehten sich um und rannten los.