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Ein Spalier von Fotografen, im Zaum gehalten von aufgereihten Soldaten, wartete auf die Kandidaten, als sie zu zweit und zu dritt mit ihrem Gepäck und in ihren bunten Uniformen, die sich von den tristen Militärfarben abhoben, aus dem Gebäude kamen. Blitzlichter flammten auf, Scheinwerfer leuchteten ihnen ins Gesicht. Es gab sogar kurzen Beifall. Kelly, die sich wie immer in Szene zu setzen verstand, warf mit der behandschuhten Hand ein paar Arche-Schlüsselringe in die Menge. Leute sprangen hoch, um sie aufzufangen. Geblendet von den Blitzlichtern, gewahrte Holle undeutlich eine mürrische Schar von Zuschauern hinter den Gratulanten.
Der Bus fuhr genau um halb acht am Fuß des Gebäudes ab, ein panzerartiges Vehikel mit Raupenketten und winzigen Fenstern. Er reihte sich in einen Konvoi ein, der in flottem Tempo den Sicherheitszaun passierte und dann in Richtung Gunnison fuhr. Das kurze Straßenstück war von Soldaten gesäumt, die im ungewissen Morgenlicht schattenhaft wirkten.
Sie bremsten an einer Kontrollstelle an der Außengrenze des Hinterlands, einem riesigen Kreis aus Zäunen, Gräben und Wachtürmen mit einem Radius von rund acht Kilometern um Gunnison herum. Hier warteten weitere Zuschauer; einige applaudierten, die meisten glotzten nur. Die Sicherheitsmaßnahmen waren penibel und scharf.
Auch die Straße im Hinterland selbst war von einem Drahtzaun und noch mehr bewaffneten Soldaten gesäumt. Hinter dem Zaun schufteten zivile Arbeitskräfte; sie buddelten Löcher und Gräben auf den freien Flächen und pflanzten hässliche Metalleier in den Boden. Sie legten Minen, sah Holle, pflanzten Tod ins Erdreich, vermutlich im ganzen Hinterland. Vielleicht würde sogar die Straße, auf der sie gerade unterwegs waren, nach ihrer Durchfahrt vermint werden. Nach ihnen sollte niemand mehr kommen. Das war der Sinn und Zweck dieser Vorbereitungen. Sie hatte das Gefühl, dass riesige Türen hinter ihr zuschlugen, eine nach der anderen.
Einen Kilometer von der Arche entfernt wurden sie an einem weiteren Sicherheitszaun angehalten, der die Zone umgab, den inneren Bodennullpunkt mit der Startanlage und der dazugehörigen Infrastruktur. Diesmal stiegen bewaffnete Soldaten in die Busse, überprüften die Ausweise und biometrischen ID-Signaturen der Fahrgäste und fuhren mit ihnen weiter.
Als die Busse vor den großen Türen des Candidate Hilton hielten, war es fünf vor acht. Holle hatte in den letzten paar Jahren so viel Zeit in diesem großen Trainingszentrum verbracht, dass sie sich darin schon fast wie zu Hause fühlte. Hier würden sie in ein paar Tagen die letzten Startvorbereitungen absolvieren. Als die Kandidatinnen und Kandidaten in ihren farbenfrohen Kostümen nun schwatzend und nervös aus ihren Bussen quollen, wollte Holle nur möglichst rasch ins Innere gelangen, um nicht zu spät zu kommen. Doch selbst hier wurden die Sicherheitsvorkehrungen rigoros eingehalten, und sie mussten sich zu einem weiteren ID-Check anstellen, bevor sie eingelassen wurden.
Allmählich wurde es nun heller. Während Holle auf die Abfertigung wartete, schaute sie sich um. Es war wirklich bemerkenswert, dass diese ganze Startanlage innerhalb der letzten paar Jahre aus dem Boden gestampft worden war, einschließlich der Produktionsanlagen, Treibmittelspeicher, Test-, Montage- und Verschaltungseinrichtungen, diesem Trainings- und Vorbereitungsgebäude für die Crew, den Kontrollzentren. Und alles konzentrierte sich auf das Schiff selbst, das von Scheinwerfern angestrahlt wurde und über die klobigen Bauten drumherum aufragte.
An diesem Morgen herrschte viel Aktivität in der Umgebung von Rampen, die vom Boden zu den weit offenen Laderaumtoren der beiden Module führten. Holle wusste, dass das Svalbard-Depot eingeladen wurde. Dabei handelte es sich um eine Saatgutbank, die vor ungefähr vierzig Jahren tief im Innern eines Berges auf einer norwegischen Insel eingerichtet worden war und ungefähr zwei Milliarden Samen enthielt – Samen, die beim Aufbau einer neuen Welt auf Erde II helfen würden, sobald sie einen solchen Planeten ausgewählt und erreicht hatten. Gerüchten zufolge war die Saatgutbank der Preis gewesen, den Nathan Lammockson bezahlt hatte, um seinen Schützling, Grace Gray, an Bord der Arche zu bekommen. In den Tiefen des Laderaums der Arche lagerten bereits Zygotenbanken – die tiefgefrorenen Embryos von Tieren, von Hunden, Katzen, Pferden, Kühen, Schafen, Schweinen, diversen Fischen und einem umfangreichen Sortiment von Geschöpfen aus dem ganzen reichhaltigen lebendigen Teppich der Erde, wenn auch nicht unbedingt in Zweiergruppen. Und Holle wusste, dass heute auch genauso kostbare, aber weniger greifbare Schätze über Glasfaser-Verbindungen und Laserstrahlen ins Schiff geladen wurden: Millionen von Büchern bis zurück zu den ersten sumerischen Kritzeleien, Musik in Form von Noten und Aufnahmen, Unterlagen der Library of Congress, selbst die großen, von den Mormonen angelegten Gen-Bibliotheken – der Inhalt digitaler Banken, die die Weisheit und das kollektive Gedächtnis der Menschheit enthielten, ergoss sich in die strahlungsgeschützten Speicher der Arche.
Selbst während die Arche beladen wurde, pickten Kräne wie Vögel an dem riesigen Konstrukt herum; Scheinwerfer strahlten, Schweißbrenner sprühten Funken, Dampf zischte aus Ventilen und loderte im Scheinwerferlicht weiß auf. Es hieß, dass die Ingenieure erst in dem Moment aufhören würden, an dem Schiff zu bauen, wenn es abhob. Es war kaum zu glauben, dass so ein Ding überhaupt fliegen konnte.
Und es war ebenfalls kaum zu glauben, dass von allem, was sie um sich herum sah, nur die Arche selbst die Mikrosekunde nach der ersten jener thermonuklearen Detonationen überdauern würde, die Holle in den Weltraum tragen sollten.
Um zwei Minuten vor acht hatten Mel und Holle die letzten Sicherheitschecks hinter sich gebracht und eilten, einem Hinweisschild folgend, zur großen Aula des Hilton.
Gordo Alonzo stand auf der Bühne, vor einem Apparat aus Glas und Kunststoff, der wie eine Lotteriemaschine aussah. Edward Kenzie war bei ihm, ebenso Liu Zheng, Magnus Howe und andere Ausbilder. Ihren Vater sah Holle nicht.
Aus dem Bereich vor der Bühne war das übliche Durcheinander von Stühlen und Tischen entfernt worden; dort wimmelte es nun von Kandidatinnen und Kandidaten in ihren leuchtend bunten Uniformen. Holle und Mel schoben sich in die Menge hinein und suchten nach ihren Freunden. Es waren auch viele Fremde hier, junge Leute ungefähr in Holles Alter, einige in den Uniformen des Militärs, des Heimatschutzes, der Polizei oder der Nationalgarde, andere in Zivil, in AxysCorp-Overalls oder auch nur in schlichten Jeans. Sie sah Grace Gray, die allein dastand, abseits der anderen; sie musste eine der Ältesten im Publikum sein, und der weite Overall, den sie trug, verbarg ihre Schwangerschaft nicht.
Bald entdeckten sie Kelly, wie immer im Mittelpunkt weiterer Angehöriger ihres Kaders: Susan und Pablo, Venus Jenning und Wilson Argent, Thomas und Elle, außerdem Mike und Miriam sowie die hochschwangere Cora Robles, die noch Zeit gefunden hatte, Make-up aufzulegen, und Zane Glemp, der von ihnen allen am unaufgeregtesten wirkte. Don Meisel stand in seiner Polizistenuniform und seiner Schutzweste neben Kelly, der Mutter seines Kindes. Holle verspürte großes Mitleid mit Kelly, die ihre Chance auf einen Platz auf der Arche mit der Entscheidung verspielt hatte, ihr Kind auszutragen, den kleinen Dexter, der jetzt zwei Jahre alt war. Sie war jedoch im Programm geblieben und hatte mit den anderen trainiert, um ihre Kenntnisse und Erfahrungen zur Verfügung zu stellen, und hier war sie nun mit ihren alten Kolleginnen und Kollegen, bis zum Ende.
Holle zupfte Kelly am Ärmel. »Bist du hergekommen, um dich zu verabschieden? Wo ist Dexter heute?«
Kelly hob nur die Finger an die Lippen und lächelte.
Holle schaute sich um. »Hier sind garantiert weit mehr als achtzig Leute. Ich nehme an, das Rekrutierungsprogramm war schon immer umfangreicher, als wir dachten.«
»Ja. Und ich weiß zufällig, dass es in letzter Minute noch eine Menge Auswechselungen gegeben hat. Uns werden die Kinder von Militärs und Politikern aufgezwungen. Gut, dass Präsident Peery ein kinderloser Witwer ist, sonst hätten wir ein Dutzend seiner Blagen an Bord.«
Holle runzelte die Stirn. »Und wie viele von uns haben sich qualifiziert?«
Die große Doppeltür am hinteren Ende des Raumes schlug zu. Man hörte das Pfeifen von Rückkopplungen, und auf der Bühne tippte Gordo Alonzo mit dem Finger an ein Mikrofon.
Kelly flüsterte: »Ich schätze, wir werden’s gleich erfahren.«
Gordo Alonzo räusperte sich.
»Okay. Willkommen zum Endauswahlverfahren für die Crew der Arche Eins, zum Höhepunkt des Projekts Nimrod. Das wird eine verdammt melodramatische Angelegenheit werden, aber uns ist keine bessere Methode eingefallen, wie man das regeln kann.
Also, hört zu. Ich kenne die beste Crew. Ich habe die letzten achtzig in meinem Kopf gespeichert, hier oben.« Er tippte sich an die Stirn. »Dabei habe ich alle Kombinationen von Fertigkeiten, die Diversität und diesen ganzen Mist sowie den Pferdemarkt berücksichtigt, der in den letzten paar Tagen stattgefunden hat. Aber wir können nicht einfach nur eine Liste vorlesen. Nicht jeder, der qualifiziert ist, hat es überhaupt bis in diesen Raum geschafft. Und einige, die es bis hierher geschafft haben, wollen jetzt, wo es drauf ankommt, vielleicht gar nicht mehr weg. Immerhin ist dies ein Flug ohne Wiederkehr.
Also werden wir einen Entscheidungsprozess durchführen. Wir haben eine intelligente Software, die in jeder Phase eine Liste der optimalen Crew aus den übrig gebliebenen qualifizierten Anwärtern aufstellt. Dieses Expertensystem wird die endgültigen individuellen Entscheidungen treffen. Alles klar?
Okay, Phase eins. Ich möchte, dass jeder von euch, der kein Flieger ist, in den hinteren Teil der Aula zurücktritt. Dazu gehören Mama und Papa und die Liebsten, die ihr zurücklasst.« Er funkelte sie alle an. »Und dazu gehört ihr, wenn ihr zu guter Letzt doch nicht mitfliegen wollt, selbst wenn ihr glaubt, für die Crew infrage zu kommen, ganz egal, wie lange ihr trainiert habt oder wer euch den Platz auf diesem Kahn bezahlt hat. Es ist eure Entscheidung. Tretet jetzt zurück.«
In die Menge kam Bewegung, und sie begann sich zu sortieren. Venus, Wilson, Mel, Zane und die anderen traten vor, auf Alonzo zu. Susan Frasier küsste Pablo – und trat zu Holles Entsetzen zusammen mit ihm zurück, wobei sie sich an seinem Arm festhielt.
Holle ergriff ihre Hände. »Susan, was tust du? Du bist dein ganzes Leben lang dafür ausgebildet worden. Du hast dich sogar schwängern lassen, um deine Chancen zu verbessern!«
Susan setzte nur ein breites ozeanisches Lächeln auf und sah Holle mit tränennassen Augen an. »Es ist einfach nicht das, was ich will, Holle. Ich glaube, ich hab’s noch nie gewollt. Allein schon die Vorstellung, dass ich Pablo verlassen müsste – das hat mir immer mehr zu schaffen gemacht. Und ich will auch für mein Kind keine solche Zukunft, kein Leben in einer Konservendose. « Sie holte Luft, und das Blut stieg ihr in die Wangen. »Ich meine, selbst wenn es auf einem Floß aufwächst, wird es zumindest die Sonne und den Himmel und das Meer haben … Auf der Arche hätte es das alles nicht. Ihr werdet das alles nicht haben. Ich glaube, ich würde sterben, wenn ich’s nicht hätte.«
Der Gedanke, dass diese vernünftige, bodenständige Frau nicht zu den achtzig gehören würde, schockierte Holle. »Wir brauchen dich. Ich brauche dich. Bitte, Susan.«
Susan schüttelte den Kopf. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich kann nicht. Tut mir leid.«
Pablo lächelte Holle an und zog Susan davon.
Holle drehte sich verwirrt zu Kelly und Don um. Plötzlich wurde ihr klar, dass ihr ein weiterer Abschied bevorstand, weil Kellys Weg hier zu Ende war.
Aber Don küsste Kelly hart auf die Lippen. Als er sich von ihr löste, waren seine Augen feucht, während Kellys Augen trocken waren und leuchteten. »Das war’s dann also«, sagte Don mit rauer Stimme.
Kelly legte ihm die Hand an die Wange. »Es war so unfair, wie du rausgeflogen bist – eine pure Machtdemonstration von Gordo, damals an diesem ersten Tag. Aber du bist nie verbittert gewesen. Was für eine unglaubliche Stärke. Das werde ich nie vergessen.«
»Herrgott nochmal, Kelly …«
»Wir sehen uns vor dem Start«, sagte Kelly. »Und bring Dexter mit. Es ist noch Zeit.« Sie schaute sich zu der Schlange um, die sich vor der Bühne mit Alonzo und seiner Lotteriemaschine bildete. »Hör zu, ich muss gehen.«
Don nickte. »Geh nur. Geh.« Er schien drauf und dran zu sein, noch etwas zu sagen. Stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte davon, in den hinteren Teil der Aula, steif und aufrecht in seiner Polizeiuniform.
Kelly blieb neben Holle stehen. Sie nahm Holles Hand. »Komm – schauen wir mal, ob wir gewonnen haben.«
Aber Holle zog benommen ihre Hand zurück. »Was machst du, Kelly?«
Kelly versteifte sich. »Muss ich das erklären? Alonzo hat mich vor ein paar Monaten gefragt, ob mein Name wieder auf die Liste gesetzt werden sollte. Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken. Ich habe mit Don darüber gesprochen. Und ich habe Ja gesagt.«
Holle verstand es einfach nicht. »Du hast Ja gesagt? Aber das heißt, dass du Dexter verlassen musst.«
»Er hat seinen Vater. Mein Dad wird sich um die beiden kümmern. Er wird am Leben bleiben.«
»Du bist seine Mutter«, stieß Holle hervor.
»Ich bin bestimmt nicht die erste Mutter auf dieser versinkenden Welt, die ein Kind zurücklässt«, sagte Kelly in schroffem Ton. »Ich hätte gedacht, gerade du würdest das verstehen. Meine Güte, wir sind zusammen aufgewachsen, wir haben zusammen diese verdammte Akademie absolviert. Aber du bist wirklich ein kleines Mäuschen geblieben, stimmt’s? Es geht nicht mal ums Überleben. Es geht um die Mission. Sie haben mir die Rolle der Kommandantin in der Trans-Jupiter-Phase angeboten, Holle! Das ist an sich schon eine Mission. Anschließend habe ich die besten Voraussetzungen, um Kapitän der interstellaren Phase zu werden. Sag mal ehrlich, Holle, wie hätte ich das ablehnen können? Ich soll die Arche fliegen. Dafür bin ich geboren. Ich habe mein ganzes Leben lang dafür trainiert. Für mich gibt es nichts anderes.«
»Nicht mal deinen kleinen Jungen?«
»Ich dachte, du würdest das verstehen«, wiederholte Kelly nur. »Komm jetzt.« Sie drehte sich um und ging vor Holle her durch die sich lichtende Menge zur Bühne und zu Alonzos Lotteriemaschine.