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Als sie die Luftschleuse von Hawila passierten, hatte Gordo Alonzos Sendung aus Alma bereits begonnen. Kelly, Venus, Wilson und andere saßen auf T-Hockern vor einem großen Wandbildschirm. Eine Handvoll weiterer Crewmitglieder – Kandidaten, Eindringlinge und Illegale – hatten sich in allen möglichen Winkeln um die Gruppe im Zentrum versammelt.
Jack Shaughnessy war mit Handschellen an seinen Bruder Paul gefesselt. Jack hatte eine zerschlagene Nase und eine dicker werdende Schwellung ums rechte Auge herum. Gerüchten zufolge stammte beides nicht von Thomas Windrup, sondern von Elle Strekalow, Windrups Partnerin, dem Mädchen, an das er sich herangemacht hatte, womit die ganze Sache losgegangen war. Thomas selbst lag noch in Mike Wetherbees winziger Krankenstation und erholte sich von der Perforation eines Lungenflügels.
Durch die fünfundvierzigminütige Zeitverzögerung in beide Richtungen gegen Unterbrechungen gefeit, dozierte Alonzo über eins seiner Lieblingsthemen: die Moral der Crew. »Ihr müsst euch mehr Anlässe zum Feiern ausdenken, Leute. Euer Poljakow-Tag im Februar war eine gute Idee.« Am vierhundertachtunddreißigsten Tag der Mission hatte die Besatzung der Arche simultan den Rekord für den längsten Raumflug gebrochen, der seit 1995 von einem Russen namens Waleri Poljakow gehalten worden war. »Das Problem ist, mir fällt in der näheren Zukunft nichts Bedeutsames ein bis zum Tag acht-null-fünf, wenn ihr den alten Sergei Krikaljow bezüglich der längsten Gesamtaufenthaltsdauer eines Menschen im Weltraum schlagt …«
Holle schaute auf den Bildschirm. Gordo saß an einem Schreibtisch und war hell beleuchtet, aber im Schatten hinter ihm befanden sich noch andere Gestalten. Sie war ziemlich sicher, Thandie Jones und Edward Kenzie dort zu sehen. Falls ihr Vater auch dabei war, so konnte sie ihn nicht erkennen. Sie starrte auf den Bildschirm und saugte frustriert jedes Pixel auf.
Etwas landete weich in ihrem Nacken. Sie griff dorthin und fand eine Schraube, die sich irgendwo gelöst hatte. Als sie nach oben schaute, sah sie einen Staubregen, der sanft auf die aneinandergefesselten Brüder und alle anderen herabrieselte. Die langsame Rotation bewirkte, dass sich der gesamte in der Luft schwebende Müll, der sich seit der Abschaltung des Antriebs angesammelt hatte, allmählich wieder absetzte. Und durch die Gitterbodenschichten sah sie, dass die Aktivitäten im Modul weitergingen wie immer. Ein paar Leute spielten Null-Ge-Frisbee in dem großen, offenen Raum, und ein Kleinkind gluckste, als seine Mutter es in der Luft kreiseln ließ. Gute Bilder für die Live-Übertragung, fand Holle. Alle Archen-Babys waren jetzt ungefähr ein Jahr alt. Wie seltsam, dass es nun schon Menschen gab, die nichts vom Universum außerhalb dieses Moduls wussten – aber für die Generation dieses Kindes würde das überhaupt nicht seltsam sein. Das Baby lachte, während es sich langsam in der Luft drehte und mit den pummeligen Armen und Beinen zappelte.
»Eine bessere Moral würde garantiert auch verhindern, dass ihr aufeinander losgeht, wie bei dieser Windrup-Shaughnessy-Geschichte …«
Auf seine schwerfällige Art und Weise kam Gordo zum zentralen Thema seiner Ansprache, und Holle konzentrierte sich wieder auf ihn.
Gordo setzte eine Lesebrille auf und senkte den Blick auf ein Papier voller Notizen. »Nun, wir – die führenden Persönlichkeiten des Projektmanagements – haben eingehend über das Beweismaterial nachgedacht, das ihr uns geschickt habt. Zusätzlich haben wir General Joe Morell zurate gezogen, den Kommandeur der Heeresgruppe, zu der Jack Shaughnessy gehörte, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat. Ich hoffe also, Jack und ihr alle werdet unser wohlerwogenes, mit voller militärischer Autorität ausgestattetes Urteil akzeptieren.«
Er nahm die Brille ab und schaute vom Bildschirm herab. »Also hört zu. Ich bin kein Anwalt und werde auch nicht so reden, als wäre ich einer. Das ist ein bedauerlicher Fall, ein sehr bedauerlicher sogar. Ihr seid allesamt junge Leute, eingesperrt in diesen Blechdosen, da kann es nicht ausbleiben, dass es unter euch Eifersüchteleien und Spannungen gibt. Die menschliche Natur. Aber ihr müsst lernen, euch am Riemen zu reißen – einander zu respektieren. Shaughnessy, diese junge Frau schuldete Ihnen für Ihre unerwünschten Avancen nichts als ein höfliches ›Nein‹. Und das haben Sie ja auch zu hören bekommen, aber Sie mussten die Sache weitertreiben, Sie mussten es an Windrup auslassen. Denken Sie an den Schaden, den Sie nicht nur Thomas Windrup, sondern der Mission insgesamt zugefügt haben – ein Mitglied einer ohnehin schon unterbesetzten Crew ist Ihretwegen arbeitsunfähig.
Wenn Sie noch auf der Erde wären, würden Sie dafür ins Kittchen wandern. Aber auf einem Raumschiff gibt es kein Gefängnis. Commander Kenzie kann es sich nicht leisten, auf Ihre Arbeitskraft zu verzichten – und sie kann sich erst recht nicht den Aufwand leisten, der damit verbunden wäre, Sie in einen verdammten Schrank einzusperren, wo Sie den ganzen Tag lang nichts anderes täten, als sich einen runterzuholen. Darum haben wir versucht, eine zweckmäßige Alternative zu finden, und unsere Anweisungen lauten folgendermaßen.
Shaughnessy, Sie haben Ihr Arbeitspensum gerade verdoppelt. Ab sofort übernehmen Sie Thomas Windrups Aufgaben, bis Doktor Wetherbee ihn wieder als arbeitsfähig entlässt. Sie ersetzen Windrup, soweit es Ihre technischen Fähigkeiten zulassen, und wenn diese nicht ausreichen, erwarte ich, dass ein vom Commander beauftragter Offizier eine geeignete Alternative für Sie findet. Das tun Sie zusätzlich zu Ihren eigenen Pflichten. Und wenn Sie deshalb nicht mal mehr Zeit haben, um scheißen zu gehen, werde ich keine Träne vergießen. Ist das klar? Und zu guter Letzt werden Sie ein Abzeichen tragen, so dass die gesamte Crew weiß, wer Sie sind und was Sie getan haben.« Er starrte zornig in die Kamera. »Damit das klar ist: An Bord dieses verdammten Schiffes gelten die Prinzipien des Rechtsstaats, und sie werden rigoros durchgesetzt, genauso wie auf der Erde. Der einzige Unterschied ist, dass die Strafe dem Verbrechen und der Umgebung, in der ihr gefangen seid, entsprechen muss. Ich gebe euch jetzt ein wenig Zeit, darüber nachzudenken und zu klären, ob ihr irgendwelche Fragen habt.« Er wandte sich ab und hob ein Glas Wasser an die Lippen.
In der Gruppe trat Stille ein. Kelly stieg in die Luft empor und drehte sich, so dass sie alle Anwesenden vor, über und unter ihr ansah. »Also, so lautet das Urteil. Akzeptiert ihr es alle? Du, Elle?« Sie funkelte Masayo und die Shaughnessys an. »Und du, Jack? Wirst du deinen Strafdienst ableisten? Und deine Fäuste künftig bei dir behalten?«
Jack Shaughnessy sah aus, als gäbe er sich geschlagen.
Sein Bruder war aufsässiger. »Aber’n Abzeichen trägt er nicht.«
»O doch«, sagte Masayo mit fester Stimme. »Du hast gehört, was der Mann gesagt hat, Paul. Soll er seine Strafe verbüßen.«
Paul schüttelte den Kopf, fügte sich jedoch.
Holle hatte den Eindruck, dass die Spannung versickerte. Sie driftete nach unten und gesellte sich zu Kelly vor den Bildschirm, wo Gordo mit jemandem außerhalb des Bildausschnitts sprach. »Vielleicht hat es geklappt. Anscheinend akzeptieren sie’s.«
»Ja«, sagte Kelly leise. »Aber was machen wir, wenn so was passiert, während wir im Warp sind und kein Gremium alter Männer und Generäle haben, das uns sagt, wie wir solche Sachen regeln sollen?«
Auf dem Bildschirm räusperte sich Gordo Alonzo theatralisch.
»Noch eins. Der Komet, den ihr während des Tests eurer Planetensuchausrüstung beobachtet habt. Dinosaurier-Killer Nummer Zwei, oder auch nicht, wie inzwischen feststeht. Ich habe noch ein paar Informationen über ihn. Mittlerweile wissen wir, dass er nicht zufällig aus dem Dunkeln gekommen ist, während die Flut uns gerade ins Wanken bringt.« Er spähte in die Kamera. »Ist Zane Glemp bei euch? Wenn nicht, zeigt ihm diese Aufzeichnung später. Das Folgende beruht auf den Aussagen eines eurer Tutoren, Magnus Howe – er hat sich an etwas erinnert, was Jerzy Glemp vor seinem Tod zu ihm gesagt hat …«
In den ersten Jahren der Flut hatte Glemp für die russische Regierung gearbeitet. Russland war von der Flut schnell und schwer getroffen worden und hatte weite Gebiete verloren. Während gewaltige Flüchtlingsströme nach Süden und Osten zogen und ein Krieg mit China und Indien um das Hochland Zentralasiens unausweichlich schien, versuchte die zivile Regierung verzweifelt, sich gegen die Hardliner unter den Generälen zu behaupten.
»Einige der Militärs drängten darauf, ihr noch vorhandenes Nukleararsenal für einen Großangriff auf China und den Westen zu benutzen, solange es noch ging. Die verzweifelte Theorie lautete, dass Russen in einer leeren, wenn auch radioaktiven Welt vielleicht überleben würden.« Gordo grunzte und warf einen Blick auf seine Notizen. »Ich habe so das Gefühl, was am Ende wirklich mit all diesen Atomwaffen geschehen ist, hat irgendein cleverer Bursche ausgeheckt, damit die Generäle die schlimme Lage nicht noch verschlimmern konnten.
Im Jahr 2024 – dem Jahr, in dem Moskau überflutet wurde – haben die Russen einen Großteil ihres zumeist vom alten Sowjetregime übernommenen Interkontinentalraketenkontingents gestartet. Das Ziel befand sich allerdings nicht auf der Erde, sondern die Raketen wurden in den Weltraum geschickt. Präsident Peery hat mir freundlicherweise erlaubt, Glemps diesbezügliche Berichte anhand alter CIA-Überwachungsunterlagen zu überprüfen. Wie ihr euch vorstellen könnt, hat das damals eine Menge Besorgnis ausgelöst, aber es war sofort klar, dass die Vögel weder auf US-amerikanisches Gebiet noch auf Besitztümer oder Verbündete der Vereinigten Staaten gerichtet waren. Natürlich konnten die Russen nicht ihr gesamtes Inventar dergestalt auf ein neues Ziel programmieren.
Als Nächstes kommen wir zum Jahr 2036, über ein Jahrzehnt später. Ein mittlerweile ausschließlich für die Planetensuche eingesetztes Teleskop in Chile macht eine ungewöhnliche Beobachtung. Dieses große Auge erspäht einen Blitz draußen im interstellaren Raum. Etwas später melden unsere noch existierenden interplanetaren Sonden eine anomale Strahlungssignatur.« Er schaute in die Kamera. »Ihr seht, worauf ich hinauswill. Das waren die russischen Atomraketen, oder zumindest diejenigen, die es bis dort hinaus geschafft hatten. Sie sind alle zugleich hochgegangen. Ein höllischer Knall.
Und wir gehen weiter ins Jahr 2043 – dieses Jahr. Ihr entdeckt einen Kometen, der auf die Sonne zurast, praktisch auf Kollisionskurs mit der Erde.
Ihr versteht wohl, dass wir eine Linie ziehen, um diese drei Ereignisse zu verbinden. Wir glauben, dass die Russen versucht haben, einen riesigen Kometenkern zur Erde zu lenken. Sie wollten tatsächlich einen Einschlag herbeiführen.
Das entbehrt nicht einer gewissen Logik. In der Frühzeit der Erde hat das schmelzflüssige Innere des Planeten, wo im Verlauf der Entstehung unserer Welt Wasser eingefangen worden war, mehrfach tiefe Weltmeere ausgegast. Aber in jener Zeit war der Himmel noch voller großer Felsbrocken. Die Erde wurde getroffen, und der ganze verdammte Ozean wurde weggesprengt. Das ist immer wieder passiert, und jedes Mal wurde der Ozean durch die Ausgasung oder vielleicht auch durch kleinere Kometeneinschläge erneut aufgefüllt.
Ihr versteht den Grundgedanken. Diese russischen Spinner glaubten möglicherweise, sie könnten die Flut besiegen, indem sie einen Kometen auf uns stürzen ließen, der das gesamte Weltmeer wegsprengen würde, so wie in der guten alten Zeit des späten Bombardements. Vielleicht dachten sie tatsächlich, sie würden die Welt retten. Dass die Erde dadurch zu einer trostlosen Wüste ohne Luft und Wasser geworden wäre, nur bewohnt von mürrischen russischen Doktor-Seltsam-Typen in tief vergrabenen Bunkern, war eine unerfreuliche Kleinigkeit.
Meine Wissenschaftler sagen mir, dass es ein gewagtes Unterfangen ist, einen Kometen vom Kurs abzubringen. Erstaunlich, dass sie’s überhaupt geschafft haben. Gott sei Dank haben sie’s nicht richtig hingekriegt.
Tja, das wär’s zu diesem Thema. Was noch?« Er schaute sich über die Schulter zu seinem Beraterteam um.