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Als Grace allein war, holte sie sich einen neuen Becher Kaffee und betrachtete die bedrückende Wanduhr.
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Sie fand alles abstoßend, was sie bis jetzt vom Projekt Nimrod gesehen hatte. Die gewaltige Technik, die arroganten alten Männer wie Gordo Alonzo, die es zu leiten schienen, die verwöhnten Gören wie Holle Groundwater, die man ihre ganze Kindheit hindurch verhätschelt hatte, während Grace und so viele andere als Wanderarbeiter umhergezogen, verhungert und ertrunken waren. Instinktiv wäre sie immer noch am liebsten weggegangen. Aber die Arche Eins schien die einzige sinnvolle Perspektive zu sein.
Ein dunkelhäutiges Mädchen, ungefähr im selben Alter wie Holle, betrat das Restaurant. Eine weitere Kandidatin, nach ihrer farbenfrohen Uniform zu urteilen. Sie kam auf Grace zu und legte einen Handheld-Computer, einen Stift und einen Block auf den Tisch. »Die sind für dich. Ich bin Venus Jenning. Holle hat gesagt, du wolltest mich sprechen. Geht’s um Harry?«
»Ich fürchte ja.«
»Noch einen Kaffee?«
Grace schüttelte den Kopf. Das Mädchen ging zum Automaten, um sich einen zu holen.
Grace inspizierte den Handheld und das Papier. Der Handheld war ein Museumsstück, abgenutzt vom jahrelangen Gebrauch und schwer, vielleicht für militärische Anforderungen gebaut. Das Papier hatte einen eigentümlichen glatten Schimmer und trug als Aufdruck das Geborgene-Erde-Logo von AxysCorp. Sie kannte das Zeug; es war auf der Arche Drei aus Muschelschalen hergestellt worden.
Sie nahm den Stift und schrieb vier Namen auf. Harry Smith. Zane Glemp. Venus Jenning. Matt Weiss.
Venus setzte sich. »Ich hab ihn nicht umgebracht«, sagte sie unumwunden. Sie sah Grace an, nahm offenen Blickkontakt auf. Sie erschien Grace taff, clever und motiviert, aber auch reserviert. »Holle hat dir meinen Namen genannt, stimmt’s?«
»Ich brauchte irgendeinen Tipp, um in die Sache einsteigen zu können. Ihr seid alle Fremde für mich, ihr Kandidaten und eure Lehrer, eure merkwürdige kleine Familie. Mach Holle keine Vorwürfe, wenn sie falsch liegt.«
»Ich mache ihr keine Vorwürfe. Du musstest die Frage stellen, sie musste dir eine Antwort geben. Aber sie weiß nicht Bescheid. Sie weiß nur, was sie von außen gesehen hat. Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen, und auch mit sonst niemandem. « Sie verzog das Gesicht. »Ich hatte gehofft, die ganze Sache würde mit Harry sterben. Als ich dann erfahren habe, dass es Mord war, ist mir klargeworden, dass alles auf den Tisch kommen würde. Also schieß los, stell mir deine Fragen!«
»Hattest du Sex mit ihm?«
»Ja, ich hatte Sex mit ihm. Er war mein Tutor, er war unser aller Tutor, seit wir ins Programm aufgenommen wurden. Ich bin mit elf Jahren dazugekommen. Ich war unglücklich. Ich habe meine Familie in Utah vermisst, mein Zuhause. Alle anderen waren schon seit Jahren im Programm – Holle, Kelly Kenzie, solche Leute eben. Ich war eine Außenseiterin.«
»Harry hat dich getröstet.«
»Er hat mich beraten. Das war sein Job. Anfangs war es nicht mehr als das. Ich mochte ihn, und ich habe ihm vertraut. Aber nach ein paar Jahren haben sich die Dinge allmählich verändert. «
»Inwiefern?«
»Er hat angefangen, mit mir über die Art und Weise der Endauswahl zu reden. Du weißt ja, es gibt nur achtzig Plätze auf der Arche. Aber wir waren viel mehr als achtzig. Hin und wieder ändert sich die Politik, und dann muss ein ganzer Schwung von uns gehen.
Harry hat mit mir über meine Hautfarbe, meine Rasse gesprochen. Er hat gesagt, die Sozialingenieure machten sich Sorgen wegen ethnischer Spaltungen und dächten daran, eine rein weiße Crew zusammenzustellen. Diese Politik werde von einer Clique weißer Rassenfanatiker innerhalb der Organisation des Projekts aktiv unterstützt, habe jedoch im Hinblick auf die Stabilität der Crew auch eine gewisse Logik und werde sich deshalb womöglich durchsetzen. All dies sei vertraulich, hat er gesagt. Ich müsse Stillschweigen darüber bewahren. Na, ist ja klar, wie sich das auf meine Chancen ausgewirkt hätte. Aber Harry hat gesagt, er würde mich beschützen.«
»Als Gegenleistung für Sex.«
»So einfach war das nicht.« In ihrem Gesicht spiegelten sich Ärger und Zorn. »Er war schlau. Vermutlich hat er sich schon andere als mich geangelt. Als Gegenleistung, so schien es mir damals, wollte er bloß Respekt. Loyalität. Zuneigung. Liebe, wenn man so will. Weißt du, ein guter Lehrer kann all das kriegen.«
»Und wann es ist mit dem Sex losgegangen?«
»Wir waren auf einer Exkursion zum Monarch Pass. Zu der Zeit war ich fünfzehn. Es war ein schlechter Tag gewesen. Damals gab es immer noch sporadische Kämpfe zwischen Utah und der Bundesregierung in Denver. Utah hatte gerade einen Überfall im Norden verübt, und es hieß, dass es Vergeltungsmaßnahmen geben würde. Ich hatte Angst um meine Angehörigen in Salt Lake City; sie waren zwar keine Mormonen, aber einige von ihnen befanden sich noch im Kriegsgebiet. Und ich hatte Angst um mich selbst. Es ging nicht nur darum, dass ich aus dem Programm fliegen konnte. Ich dachte, ich würde am Ende vielleicht in einem Internierungs- oder Arbeitslager landen.«
»Und da ist Harry zu dir gekommen.«
»Ich habe mir mit Cora Robles ein Zweimannzelt geteilt, aber sie war weg, auf einer Nachtübung. Ich schlief. Er hat den Reißverschluss meines Schlafsacks geöffnet und ist hinter mir reingeschlüpft. Willst du Details?«
»Ich …«
»Er hat mich gezwungen, ihm einen runterzuholen. Dazu musste ich nach hinten langen.« Sie zuckte die Achseln. »Das war’s. Als er weg war, hab ich saubergemacht. Ich dachte immer, dass Cora irgendwas geahnt hat. Vielleicht hat sie ihn gerochen. Würde mich nicht überraschen. Ich konnte es gar nicht erwarten, am nächsten Morgen unter die Dusche zu kommen. Die ganze Sache hat mich geschockt. Nicht so sehr der Sex selbst, ich war ja keine Jungfrau mehr. Aber alles, was er für mich getan hatte, war beschmutzt.«
»Und von da an ging es so weiter.«
»Ich hab keine andere Möglichkeit gesehen. Er hatte echte Macht über mich. Ehrlich gesagt, ich dachte, ich kämpfe um mein Leben. Und der Sex war mir egal. Harry hat mich einfach nur angewidert. Er hat mich gern angefasst, und ich musste die Hände oder den Mund benutzen. Ich glaube, Jungs waren ihm lieber, wenn du die Wahrheit wissen willst. Er hat mich eher wie einen Jungen benutzt. Vielleicht hat ihm auch bloß die Macht einen Kick gegeben.«
»Und das ging so bis zu seinem Tod?«
»Zum Teufel, nein. Ich schätze, es hat ein paar Jahre gedauert. Dann hab ich die Wahrheit über die ethnische Selektionspolitik der Sozialingenieure rausgefunden.«
»Nämlich?«
»Es gibt keine. Ihr Mantra ist genetische Diversität in der ersten Generation und auch danach. Sie werden eher eine regenbogenfarbene Crew auswählen als eine weiße. Ich habe sogar rausgefunden, dass es tatsächlich eine Lobby gab, aber nicht für eine weiße, sondern für eine ausschließlich afroamerikanische Crew, weil die Diversität bei Afrikanern größer ist als irgendwo sonst; die Menschheit kommt schließlich aus Afrika. Harry hat also die ganze Zeit gelogen.
Als ich das entdeckte, hab ich ihm in die Eier getreten, wenn du’s wissen willst.« Ihr Blick verhärtete sich bei der Erinnerung daran. »Ich war inzwischen alt genug, um zu wissen, dass ich ebenso viel Macht über ihn hatte wie er über mich. Projektmitarbeiter ist ein heiß begehrter Job, selbst wenn man kein Kandidat ist, und Harry wollte kein Eye-Dee werden. Er hatte es gern gemütlich, der gute alte Harry. Aber ich bin so richtig ungemütlich geworden. Am Ende hat er geweint, weißt du, und nicht nur wegen des Tritts in die Eier. Er hat mich gefragt, warum ich ihn nicht mehr liebte. Vielleicht hat er wirklich geglaubt, ich hätte ihn geliebt. Oder vielleicht hat er sich selber in die Tasche gelogen. Ist mir, ehrlich gesagt, egal, was in seinem Kopf vorging.«
»Hast du Harry Smith getötet?«
»Nein«, sagte sie geradeheraus. »Warum sollte ich?«
»Er hat dich missbraucht. Dich belogen. Er hat seine Macht über dich missbraucht.«
»Ach, weißt du, es gibt einen Haufen Leute auf dieser Welt, die zu viel Macht besitzen. Das hast du doch bestimmt auch schon bemerkt. Harry mit seinem schmierigen, erbärmlichen Gefummel war auch nicht schlimmer als viele andere. Letztendlich habe ich die Kontrolle erlangt. Ich brauchte ihn nicht zu töten. Er war schon lange vor seinem Tod aus meinem Leben verschwunden.« Sie sagte das ausdruckslos, sehr gefasst. »Glaub’s oder lass es bleiben. Ich könnte nichts davon beweisen. Hast du sonst noch Fragen?«