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JULI 2059

 

Es war Boris Caistor, der dreizehnjährige Boris mit seinen scharfen jungen Augen, der als Erster das neue Licht am Himmel bemerkte, einen Funken, der durch die tiefere Dunkelheit zwischen Wolkenbänken segelte.

»Thea hat ihn auch gesehen«, erklärte er Thandie Jones. »Sie sagt, sie kann eine Form erkennen. So was Langes und Dünnes, wie ein Splitter.«

Thandie, die auf einem Floß saß, das sich mitten auf dem Ozean auf den Wellen wiegte, schaute zum wolkenverhangenen Himmel hinauf und runzelte die Stirn. »Bestimmt zwei Splitter hintereinander, verbunden durch einen Faden …«

»Nee. Bloß einer. Kann natürlich sein, dass sie lügt. Thea lügt ständig oder denkt sich irgendwelches Zeug aus. Einmal hat sie gesagt, sie hätte so einen Wal gesehen, der …«

»Schon gut!«

Thandie war ziemlich sicher, dass Boris nicht verstand, was er da eigentlich gesehen hatte, und auch nicht erfasste, was es möglicherweise bedeutete. Und noch schlimmer, sie war ebenso sicher, dass es ihn nicht die Bohne interessierte. Thandie war Lily Brookes Beispiel gefolgt und versuchte, eine Art Bildungsprogramm für die Kinder auf dem Floß aufrechtzuerhalten. Aber viel mehr als Astronomie war nicht drin; der sich verändernde Sternenhimmel war das Einzige, was es zu sehen gab, das Einzige, was das Interesse dieser Kinder erregte, abgesehen von Essen, Schwimmspielen und den hübschen Körpern der anderen. Thandie vermutete, dass Boris’ Gehirn sich ebenso auflöste wie das der anderen Angehörigen seiner Generation.

Aber er war ein anhängliches Kind und nett zu Thandie, seiner Ehrentante, so wie er damals, als sie ihm in einer Ansammlung von Flößen über dem versinkenden Gipfel des Mount Everest zum ersten Mal begegnet war, auch schon die Launen einer anderen alten Dame ertragen hatte, seiner Urgroßtante Lily Brooke. Außerdem war er aufgeweckt und aufmerksam, und obwohl auf diesem neuen, stürmischen Ozean immer so phänomenal schlechte Sichtverhältnisse herrschten, hatte er das neue Licht am Himmel als etwas Besonderes erkannt; vielleicht war es ja das, was Thandie schon seit einem Jahr zu sehen erwartete, wie sie ihm erklärt hatte.

Wenn Boris es gesehen hatte, dann andere auch. Also holte Thandie einen ihrer kostbaren Handhelds aus seinen solebeständigen Plastikhüllenschichten und lud den Akku über die Solarzellen auf. Sie postete Boris’ Sichtung an die Kaminrunde und erkundigte sich nach weiteren Beobachtungen; insbesondere wollte sie wissen, wann das Ding zum ersten Mal in der Erdumlaufbahn erschienen war.

Aber sie musste es mit eigenen Augen sehen, um vielleicht eine Vorstellung von seinen die Erde umkreisenden Bestandteilen zu bekommen.

Danach saß sie für ein, zwei und schließlich drei Nächte – Teufel nochmal, so lange es eben dauern würde – in ihrem alten, weitgereisten Klappstuhl auf dem Floß, eine Decke um die Beine gewickelt, und wartete darauf, dass die Wolken sich lichteten. Sie nickte immer wieder kurz ein. Mit ihren dreiundsiebzig Jahren und nach einem ziemlich harten Leben war sie zwar mit passabler Gesundheit gesegnet, aber die Feuchtigkeit setzte ihr zu und sie schlief viel.

Das Floß war groß, nach den Maßstäben derjenigen, die zwanzig Jahre oder mehr auf einem Ozean überlebt hatten, über dem der Fleck und seine Sturmsprösslinge ihre Runden drehten. Sein Grundgerüst bildeten Pontons aus Plastik-Ölfässern und Tonnen, überzogen von glitschigen, imprägnierten Planen, die mit orangefarbenen Stricken festgezurrt waren. Diese Konstruktion war früher durch eine Basis aus genmanipuliertem Seetang verstärkt worden, ein von AxysCorp entwickeltes Substrat, das sich von Sonnenlicht und den Produkten des Meeres ernährte, das wuchs und sich selbst reparierte. Nathan Lammockson hatte gehofft, dass diese Wundersubstanz die Rettung einer durchnässten Menschheit sein würde, doch wie sich herausgestellt hatte, wies sie einige fatale genetische Mängel auf. Nachdem sie schwarz geworden und zerbröckelt war, hatte Thandies Floßgemeinschaft Ersatzmaterialien von den Wracks anderer, noch unglücklicherer Flöße ergattern können, wiederverwerteten Abfall der untergegangenen Zivilisation unter ihren Kielen.

Auf dieser Basis stand eine Art schwimmender Hüttensiedlung aus Plastikplanen und Wellblech, abgedichtet gegen das Wetter und die Salzluft des Meeres. Die Menschen lebten von Fisch und anderen Meeresgeschöpfen, von Vogeleiern und verarbeitetem Seetang, und sie sammelten ihr Trinkwasser in Eimern, wenn es regnete. In der Mitte des Floßes befand sich so etwas wie eine Farm, ein Haufen Mutterboden von dem Hang in den Anden, an dem das Floß gebaut worden war. Dort wuchsen magere Feldfrüchte, liebevoll gehegt und gepflegt von alten Leuten. Es gab sogar Hühner in einem großen, an eine Wand gebundenen Plastikkäfig. Zur Stromerzeugung diente eine Reihe von Windmühlen, die über der Farm aufragten, und es gab leuchtend grüne Solarpaneele von AxysCorp, die sich, selbst fast so etwas wie Lebewesen, eigenständig reinigten und reparierten. Es war ein fortwährender Kampf, all dies instand zu halten, weil das Salzwasser unablässig die Erde vergiftete, die Feldfrüchte verdorren ließ und die Elektrik sowie alle Metallteile zerfraß.

Die jüngeren Generationen halfen widerwillig. Sie interessierten sich nicht für Farmen. Sie interessierten sich nicht mal für künstliches Licht. Sie fertigten Fischöllampen an, benutzten sie aber nur selten. Wenn der Himmel klar war, gab es Mondschein und Sternenlicht sowie die Lumineszenz von Lebewesen im Meer. Und außerdem, wer brauchte nachts Licht? Man benötigte kein Licht, um zu schlafen oder zu vögeln. Während die letzten an Land geborenen Veteranen sich also abmühten, all dieses alte Zeug am Laufen zu halten, sprangen die jungen Leute, Boris und seine Generation, vom Rand des Floßes und tauchten im endlosen Ozean.

Thandie wurde geduldet. Die Leute ließen sie allein mit ihren Obsessionen, ihrer Naturwissenschaft, ihren Apparaturen und Theorien. Das Floß war voller Kinder und voller Eltern, die sich um sie kümmerten, sie ernährten, mit ihnen spielten, ihnen Kleider aus ausgeblichenen, abgenutzten Resten zusammennähten – obwohl viele Kinder und sogar einige der jüngeren Erwachsenen in der ewig warmen, feuchten Luft zur Nacktheit übergingen. Die Strömungen ihres Lebens umspülten Thandie, als wäre sie ein Monument in einer Flut, die Statue einer längst vergessenen Heldin …

 

Der von der Decke geschützte Handheld in ihrem Schoß piepste leise.

Sie war wieder eingenickt. Dies war die fünfte Nacht, der Himmel ein Deckel aus schwarzen Wolken. Sie holte den kleinen Computer hervor und suchte in ihrem Mantel fluchend nach ihrer uralten Lesebrille.

Die Nachricht kam von Elena Artemowa, Thandies ehemaliger Geliebter, die jetzt durch das Alter, das Meer und eine Art müder Gleichgültigkeit von ihr getrennt war. Elena befand sich auf einem anderen großen Floß, das über dem Wasserleichnam Rio de Janeiros trieb. Auf das neue Licht am Himmel aufmerksam geworden, hatte sie eine zufällige Beobachtung eines Floßes über Los Angeles entdeckt. »Das heimkehrende Schiff erscheint also zuerst am Himmel über Nordamerika«, mailte Elena. »Das ist doch bestimmt kein Zufall …«

Thandie sah sich die Beobachtung aufmerksam an, eine kurze Videosequenz mit schlechter Auflösung, aufgenommen durch ein Teleskop auf einem Floß.

Dann wartete sie, bis Boris aus dem Wasser kam, tropfnass, dreizehn Jahre alt, mit harten Muskeln und flachem Bauch, der Mund verschmiert von Fischöl, der Penis schlaff vom enthusiastischen Unterwassersex. Sie forderte ihn auf, sich neben sie zu setzen, und erklärte ihm die Abfolge von Bildern.

»Schau – hier siehst du die Ankunft des Objekts, das du gesehen hast, des hellen neuen Satelliten. Diese Bilder sind von einem Teleskop aufgenommen worden, das zufällig in die richtige Ecke des Himmels schaute, genau dorthin, wo er zuerst erschienen ist. Ich wusste, es musste jemanden geben, der ihn eingefangen hat. Jetzt warte … schau auf die Uhr … Da!« Ein heller Blitz erschien, rechts vom Zentrum des Sternenfeldes – das Schiff selbst, und ein Lichtschimmer ging von ihm aus, wanderte in schnurgerader Linie nach links und verblasste, als hätte das Schiff eine helle visuelle Botschaft dorthin zurückgeschickt, woher es gekommen war. »Siehst du?«, fragte Thandie triumphierend und starrte Boris an. »Verstehst du, was das ist, was dieser Beobachter gesehen hat?«

»Nein«, sagte Boris unverblümt. Er wirkte unruhig, sein Blick schweifte ab. Die Kinder hatten so gut wie gar keine Aufmerksamkeitsspanne mehr.

Thandie unterdrückte ihren Ärger. »Das ist ein Schiff, das schneller als das Licht geflogen ist. Man kann es sehen, während es unterwegs ist; seine Warp-Blase gibt eine Kaskade exotischer Strahlungsenergie ab, die teilweise ins sichtbare Spektrum herunterreicht. Aber es ist schneller als sein eigenes Bild. Das Schiff kommt also zuerst an, und das Licht muss es einholen, all die Photonen, die es auf seiner Bahn emittiert hat, treffen lediglich mit Lichtgeschwindigkeit ein. Die älteren Bilder kommen zuletzt, und das wirkt, als würde das Schiff sich entfernen und nicht ankommen …« Sie spielte die kurze Sequenz immer wieder ab. »Das ist die Signatur der Ankunft eines überlichtschnellen Raumschiffs, Boris. Es ist die Arche, die Arche Eins. Ich wusste, dass sie zurückkommen würden.«

Er runzelte die Stirn, der komische Versuch eines Dreizehnjährigen, Interesse zu heucheln. Wenigstens war er höflich. »Und was willst du nun tun?«

»Die Funkbake einsatzbereit machen. Mal sehen, ob die Batterien noch ein bisschen Saft haben. Holen wir sie nach Hause.«

Die Letzte Arche
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