33

Holle kam Grace im Restaurant abholen und brachte sie zu einem wartenden kleinen Konvoi von Panzerfahrzeugen hinaus. »Wir fahren mehrmals am Tag nach Gunnison und zurück. Dies ist die nächste Tour.«

Zane Glemp war ebenfalls da, etwas jünger als Holle und Venus, dünn, blass und ernst unter seinem schwarzen Haarschopf. Er trug keine Kandidatenuniform und sah aus, als wäre er darin ohnehin fehl am Platz gewesen. Er hatte einen Laptop dabei. Holle hatte vorgeschlagen, dass er mit Grace nach Gunnison fuhr – er hatte dort zu tun – und unterwegs mit ihr redete.

So saß Grace schließlich allein mit Zane in einem selbst gesteuerten Fahrzeug mit dicken Glasfenstern und geschlossener Klimaanlage, eingeklemmt zwischen zwei schweren, waffenstarrenden Trucks. Die Fahrzeuge fuhren in lebhaftem Tempo los, so schnell, dass Grace in den Sitz gedrückt wurde. Sie hielt sich an einem Haltegriff fest.

Zane hatte seinen Laptop aufgeklappt. »Alles in Ordnung?«

»Ich bin bloß nicht an hohe Geschwindigkeiten gewöhnt. Ich habe den größten Teil meines Lebens auf Wanderschaft verbracht, und die letzten sechs Jahre auf einem Kreuzfahrtschiff. Die Beschleunigung einer Motorbarkasse ist für mich schon so ziemlich das höchste der Gefühle.«

Er holte eine Karte auf den Bildschirm seines Laptops. »Das hier ist unsere Strecke.« Es war eine Fahrt von vielleicht hundertfünfzig Kilometern durch Bergland, südlich des Hoosier-Pass durch Buena Vista und Poncha Springs und dann nach Westen durch Monarch nach Gunnison. »Es sind Gebirgsstraßen, aber das Militär hat sie verstärkt und Straßensperren errichtet, und sie sind ziemlich gut. Es ist sicherer, das offene Land schnell zu durchqueren, aber man wird halt ein bisschen hin und her geworfen. Pass mal auf …« Er zeigte ihr, wie man den Gurt straffer zog.

»Warum ist es sicherer, schnell zu fahren?«

Zur Antwort zeigte er aus dem Fenster. Hinter dem dicken Drahtzaun, der die Straße säumte, war das Land von Menschen übersät, die aus Zelten und Hütten blickten, als der Konvoi vorbeifuhr. An manchen Stellen schienen sie sich in Ackerbau zu versuchen; ins dünne Erdreich waren Furchen gekratzt, und die Parzellen wurden eifersüchtig bewacht. Woanders saßen sie nur stumm an der Straße. Kinder sahen mit leerem Blick zu, wie die Fahrzeuge vorbeifuhren.

»Manchmal schießen sie auf uns«, sagte Zane. »Oder sie versuchen, die Straße zu blockieren. Zwischen Gunnison und Alma gibt es ein System von Wachtürmen. Wenn es Ärger gibt, kommen schwerere Truppen von einer der beiden Endstationen, manchmal auch aus Twin Lakes oder Monarch.«

»Sieht aus, als hätte es Menschen geregnet.«

»Tja, Colorado ist ein großes Land, aber wir haben schon längst keinen Platz mehr. Das Meer ist nicht mehr weit von Gunnison entfernt. Wenn der Wind richtig steht, kann man’s riechen. Die Ingenieure machen sich Sorgen wegen Salzkorrosion am Raumfahrzeug und an den Montagetürmen. Aber in Canaveral hatten sie dasselbe Problem.« Zanes Gesicht war seltsam ausdruckslos, als stünde er nicht so richtig in Kontakt mit der Welt, mit Grace. »Du bist hier, um mich wegen Harry Smith zu befragen.«

»Ja.« Zane war offenkundig eine komplexere Persönlichkeit als Holle oder Venus. Grace versuchte, Zugang zu ihm zu finden. »Er ist von einer Pulseinheit getötet worden.«

»Einem Modell, ja.«

»Für mich ist das alles neu. Ich weiß nicht, was eine Pulseinheit ist.«

Er rief die Schnittzeichnung eines Objekts auf, das einer Vase ähnelte, mit rundem Korpus und ausgestelltem Hals in einer zylindrischen Hülle. Oben war es mit einer Platte verschlossen. »Du weißt ja, dass die Orion-Startstufe von einer Reihe nuklearer Explosionen angetrieben wird.«

Sie erstarrte. Das hatte sie nicht gewusst. In was, zum Teufel, geriet sie hier hinein? »Sprich weiter.«

»Es geht darum, jede Explosion so zu formen, dass ihre Energie sich nicht einfach in alle Richtungen verteilt, sondern ebenso wie die Impulsübertragung auf die Prallplatte des Raumschiffs kanalisiert wird.« Er stellte es mit den Händen mimisch dar. »Die Prallplatte ähnelt einem großen Beckenteller, der über dem Hals der Pulseinheit sitzt, hier oben. Wenn die Bombe also hochgeht, wird die Energie durch die Strahlenschutzhülle um die Ladung – eine Schale aus Uran – eingedämmt und dann durch diese Kanalfüllung aus Berylliumoxid im Hals nach oben gelenkt und auf die Scheibe mit dem Treibmittel konzentriert – diesen Deckel aus Wolfram obendrauf. Du musst dir klarmachen, dass all das im Bruchteil einer Sekunde geschieht; alles wird in Atome zersprengt, aber die Vorrichtung hält gerade lange genug, um der Bombenenergie eine Richtung zu geben. Die Wolfram-Platte verdampft, und das dabei entstehende Produkt schießt nach oben und trifft die Prallplatte.

Die frühen Atomingenieure fanden einige interessante Sachen darüber heraus, wie Objekte verdampfen, wenn sie von einer atomaren Explosion getroffen werden. Bei einem pfannkuchenförmigen Objekt wie dieser Wolfram-Scheibe bekommt man eine zigarrenförmige Plasmawolke. Das liegt daran, dass das Zentrum als Erstes verdampft und gewissermaßen voranfliegt. Umgekehrt wird ein zigarrenförmiges Objekt zu einer pfannkuchenförmigen Wolke, weil sich die Energie von unten nach oben vorarbeitet. Die Zigarrenwolke ist besser für uns, denn dabei konzentriert sich die Impulsübertragung auf eine kleine Fläche. All das kann man mit Bombenbau-Software demonstrieren. Wir haben einen Teil des alten Codes aus den 1950er Jahren ausgegraben und die Algorithmen mit modernen Methoden implementiert. Darum ist diese Konstruktion …«

»Und so ein Ding hat Harry Smith getötet.«

Zane zögerte. Offenkundig fühlte er sich bei technischen Themen wohler. »Harry hat ein paar Kandidaten beaufsichtigt, die an dem Test beteiligt waren. Es sollte eine kontrollierte Detonation mit konventionellen Sprengstoffen geben, um einige der Prinzipien zu demonstrieren. Irgendwer hat eine Ladung von der zehnfachen Stärke eingesetzt. Die Art, wie die Explosion geformt war – sie hat den Bunker, in dem sie sich befand, weit aufgerissen. Sie hat Harry und einen weiteren Mann getötet.«

»Du denkst also, es war Absicht?«

»O ja. Jemand hat es so arrangiert, um Harry zu töten. Dass es noch einen anderen erwischt hat, war bestimmt reiner Zufall. «

»Aber kein Unfall.«

»Nein.«

»Wie viele Leute aus dem Projekt hätten so was hingekriegt?«

Zane hob die Schultern. »Eine Handvoll Bodentechniker. Aber keiner von denen kannte Harry gut, und das ist der springende Punkt, oder? Von den Kandidaten Matt Weiss oder ich, ohne fremde Hilfe. Viele der anderen hätten es mit Unterstützung von außen tun können, sie kennen die Prinzipien.«

»Venus Jenning vielleicht.«

»Die hätte Hilfe bei den Details gebraucht.«

»Dann bleiben also nur Matt und du.«

»Sieht so aus.«

»Venus hat mir von ihrer Beziehung zu Harry erzählt.«

Zanes Miene wurde ausdruckslos. »Und nun willst du dasselbe von mir hören?«

»Ich weiß, es ist schwer. Erzähl mir einfach, wie es angefangen hat.«

Es war am Tag des Unfalls im Jahr 2036 geschehen, bei dem Zanes Vater fast ums Leben gekommen wäre. »Das war der Tiefpunkt. Die Gelegenheit für ihn.« Er erzählte ihr etwas über diese erste sexuelle Begegnung. Es glich dem, was Harry Venus beim ersten Mal angetan hatte – eine erprobte Technik, wie es schien. Aber Zane erzählte es auf merkwürdige Weise; er beschrieb die Vorfälle und Handlungen mit passiven Verben, völlig unpersönlich.

»Hat er dir gesagt, dass er dich liebt?«

»Diese Bemerkung fiel.«

»Hat er dich gefragt, ob du ihn liebst?«

»Diese Frage wurde gestellt.«

»Hast du ihn geliebt?«

»Da gab es ein Problem zu lösen.«

Grace starrte ihn an. Sie hatte im Lauf ihres Lebens viele verletzte Menschen getroffen; es war eine verletzende Welt. Aber Zane war außergewöhnlich. »Glaubst du, einer der anderen hat ihn geliebt?«

»Matt hat ihn geliebt, glaube ich, Matt Weiss. Er hat es mir mal erzählt, als er betrunken war.«

»Habt ihr irgendwen um Hilfe gebeten? Habt ihr jemandem erzählt, was da vorging?«

»Er hat den Vater gefragt«, sagte er seltsamerweise. Dann, etwas verzögert: »Ich habe meinen Vater gefragt.«

»Und?«

»Er hat gesagt, ein Kandidat für die Arche-Crew sollte solche Dinge selbst regeln. Er meinte, ein Opfer solcher Taten sei schmutzig und unwürdig.«

Sie versuchte, ihm weitere Details zu entlocken, und er antwortete auf dieselbe entrückte, unpersönliche Art.

Bei Zane hatte es keinen jähen Bruch seiner Beziehung zu Harry gegeben, keine ans Licht gekommenen Lügen, keinen Krach, keine Zurückweisung wie bei Venus. Zane hatte nie die Kontrolle erlangt. Die Beziehung war immer weitergegangen, der Sex auch. Dennoch hatte es zuletzt eine Krise gegeben.

»Harry hat gesagt, er würde dich beschützen. Aber am Ende hat er versagt, nicht wahr? Du bist ausgesiebt worden.«

»Es war ein Psychotest. Zane Glemp ist technisch begabt, aber ihm fehlt die emotionale Intelligenz. Das haben die Ärzte gesagt.«

»Letztendlich hat Harry also die Abmachung nicht eingehalten. All der Sex, die ganze Herumschleicherei, der Zorn deines Vaters – die Scham, die du empfunden haben musst. Trotz all dem hat er dir das Einzige, was du wolltest, nicht beschafft: einen Platz in der Crew.«

»Vielleicht war das gar nicht möglich. Sein Einfluss war immer eher negativ als positiv – er konnte jemanden durch ein nachteiliges Gutachten stoppen, aber niemandem einen Platz sichern.«

»Dann war also alles eine Lüge. Du hast ihn dafür gehasst«, sagte sie provozierend. »Du hast ihn gehasst, weil er dich erpresst hat, weil er dir keinen Platz auf der Arche verschafft hat. Du hattest die Mittel und das Motiv, ihn zu töten.«

»Da war kein Hass. Da war nichts. Mord war nicht nötig.«

Und instinktiv glaubte sie ihm. Zane war ein Opfer, kein Täter; er hätte nie die Kontrolle an sich reißen können, wie Venus es getan hatte, und wie es der Mörder allem Anschein nach auch getan hatte.

»Wenn du ihn nicht getötet hast, wer dann? Es klingt, als müsste es Matt gewesen sein.«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber die Logik legt nahe …«

»Die Logik?« Zum ersten Mal drehte er sich um und sah sie direkt an. Seine Augen waren verblüffend sanft und charaktervoll. »Wenn du die Logik verstehen willst, frag dich, was Matt wollte. Und auch, was Harry wollte. Wir sind da. Gunnison.«

Der Wagen wurde langsamer. Grace schaute neugierig zu den Fenstern hinaus. Es hatte aufgeklart, der Himmel zeigte ein tiefes Blau, und die alte Stadt war ein hübscher, von Kiefern umstandener Ort aus Schindelgebäuden vor den am Horizont schwebenden Rockies. Aber er wurde vom Projekt Nimrod überwältigt; es wimmelte nur so von neu aussehenden Fertigbauten und Industrieanlagen, Montagetürmen, Gleisen, die Straße überbrückenden Rohrleitungen und riesigen Speichertanks, die selbst in der Augusthitze mit Reif bedeckt waren. Sie glaubte, eine Startrampe zu erkennen, ein schlankes, aufrechtes Gebilde, von dem Treibstoffschläuche baumelten.

Der Wagen hielt am Fuß eines massiven, fabrikähnlichen Gebäudes, eines rechteckigen Blocks mit einer Kantenlänge von vielleicht dreißig Metern und der dreifachen Höhe. Er war von einem Gerüst umgeben, in dem sich ein Gewirr zylindrischer Tanks und riesiger Sprungfedern befand.

»Und wo ist nun euer Raumschiff?« Sie hatte so etwas wie die mottenförmigen Space-Shuttle-Orbiter auf den Fotos erwartet, die Gary Boyle ihr immer gezeigt hatte.

Er deutete lächelnd auf das große Industriegebäude. »Das ist es.«

Die Letzte Arche
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