63. Kapitel

9.20 Uhr
Comfort Inn

Melanie hatte das Gefühl, das alles nicht mehr auszuhalten.

Wo zum Teufel blieb Jared bloß so lange? Sie lief immer noch in ihrem Zimmer auf und ab und rieb sich die schwitzenden Handflächen an den Jeans trocken. Sie wollte nicht an das Baby mit den verschlafenen Augen und runden Wangen denken. Nein, Jared konnte das nicht tun, so etwas würde er nicht machen.

Sie hörte, wie draußen eine Autotür zugeschlagen wurde, doch anstatt ans Fenster zu gehen und nachzusehen, blieb sie wie erstarrt stehen. Charlie hatte das Geräusch ebenfalls gehört und sah zu ihr herüber. Auch Kane schien auf eine Reaktion von ihr zu warten. Was glaubten die beiden denn, was sie jetzt tun sollte? Schließlich war sie es doch nicht gewesen, die sie in diese vertrackte Lage gebracht hatte. Das alles war doch nicht ihre Schuld!

Als die Tür aufging und Jared in das Zimmer trat, sah Melanie ihm prüfend in die Augen und ließ ihren Blick dann über sein Gesicht hinab zu seinen Händen wandern. Aber wonach suchte sie eigentlich? Nach Erde von einem versteckten Grab, das er irgendwo ausgehoben hatte, an seinen Fingern? Nach Blutspritzern auf seinem Hemd noch mehr verdammtes Blut?

»Wir müssen hier weg!« sagte Jared. Als er sah, dass sich niemand regte, griff er nach Charlies Rucksack und warf ihn dem Jungen zu. »Gehen wir. Jetzt gleich.«

»Was ist denn los, Jared?« fragte sie. Natürlich wollte sie wissen, was er mit dem Baby gemacht hatte, wollte ihn in Kanes Beisein jedoch nicht direkt danach fragen. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und merkte, dass sie zitterte.

»Ich habe mich um alles gekümmert«, antwortete Jared, als hätte er gerade etwas ganz Alltägliches wie das Hinaustragen des Abfalls erledigt. »Und wir haben ein neues Auto. Die Kennzeichen habe ich auch schon ausgetauscht. Also los, machen wir, dass wir hier wegkommen.«

Als die beiden noch immer keine Reaktion zeigten, setzte er ein Lächeln auf: »Ich habe uns bei McDonald's Frühstück geholt. Die Sachen sind im Wagen. Also macht schon, gehen wir. Ich will noch bei Tageslicht über die Grenze nach Colorado.«

Charlie schaltete den Fernseher aus, warf sich den Rucksack über die Schulter und verschwand durch die Tür.

Die Ankündigung, dass es etwas zu essen gab, war noch immer die beste Methode, ihn in Bewegung zu setzen. Sie ging ins Bad, um nachzusehen, ob sie etwas vergessen hatte.

Als sie wieder herauskam, stellte sie fest, dass Jared offenbar keinerlei Anstalten machte, Kanes Fesseln zu lösen. Er schien darauf zu warten, dass sie Charlie nach draußen folgte. Sie blieb stehen und sah ihn an. Dann bemerkte sie plötzlich die weiße Nylonkordel, die er sich um die Fäuste geschlungen hatte. Ein lähmender Schreck durchfuhr sie.

»Geh raus zum Wagen, Mel!« herrschte Jared sie an. »Du fährst. Ich komme gleich nach.«

Sie fing Andrews Blick auf und sah, dass er wusste, was jetzt passieren würde. Er hatte es die ganze Zeit gewusst, vorhin schon, als er angeboten hatte, ihr und Charlie zu helfen.

Aber wahrscheinlich hatte er das nur gesagt, um seine Haut zu retten. Wäre sie darauf eingegangen, hätte er bestimmt die erstbeste Möglichkeit genutzt, sie hereinzulegen. Und sie würde um nichts in der Welt zulassen, dass ihrem Sohn etwas geschah.

Plötzlich stand Charlie in der Tür. »He, wo bleibt ihr denn? Ich dachte, wir haben es eilig.«

Sie roch an seinem Atem, dass er sich bereits über das Frühstück hergemacht hatte.

»Jared wollte Andrew gerade beim Aufstehen helfen.« Sie wunderte sich selbst darüber, dass sie das sagte. »Bind seine Beine los, Charlie, und dann auf den Rücksitz mit ihm. Ich fahre.«

Charlie ging auf das Bett zu und machte sich an der Telefonschnur zu schaffen. Melanie vermied es, Jared anzusehen, aber sie spürte, dass er innerlich kochte. Doch noch bevor er protestieren konnte, hatte Charlie Andrews Füße befreit und war mit ihm aus der Tür verschwunden.