36. Kapitel

9.00 Uhr
Platte River State Park

Die Übelkeit ließ langsam nach, nicht allerdings seine Panik. Während Jared und Charlie ihre Fluchtroute quer durch das Land planten, rasten Andrews Gedanken hin und her. In einer Küchenschublade lagen mehrere stumpfe Messer. Dann gab es einen Schürhaken für das Kaminfeuer, erinnerte er sich, doch er konnte ihn nirgends entdecken. Sonst fiel im nichts ein, womit er sich hätte wehren können. Als sich das Tageslicht in strahlendem Orange über den Baumwipfel hinter dem See ausbreitete und sogar in die dunklen Ecken der Hütte drang, musste er sich eingestehen, dass seine Lage hoffnungslos war.

Sein Blick verschwamm zeitweilig immer noch, doch dafür spürte er die Schmerzen in seiner Schulter kaum mehr.

Außerdem, was spielte es schon für eine Rolle, dass er seinen rechten Arm nicht gebrauchen konnte, wenn sich sein ganzer Körper lahm anfühlte.

Er wollte ausprobieren, ob er gehen konnte, und stellte die Füße auf den Boden. Noch bevor er sich aufrichten konnte, war Jared bei ihm und fuchtelte ihm mit der Waffe vor der Nase herum. Andrew fragte sich, warum sie ihn nicht einfach erledigten und seinem Albtraum ein Ende bereiteten.

Jared ließ sich ihm gegenüber in den Sessel fallen. Die Waffe steckte er in den Bund der Jeans – seiner Jeans. Dort wurde sie von einem Ledergürtel mit einem seltsamen Verschluss gehalten, auf den ein Wappen graviert war, das Andrew nicht kannte. Während er es noch anstarrte, merkte er plötzlich, dass Jared mit ihm redete.

»Das ist verdammt gut. Woher wissen Sie das alles über Mord?«

Erst da fiel Andrew auf, dass Jared sein letztes Buch in der Hand hielt, den Zeigefinger zwischen zwei Seiten, um eine bestimmte Stelle wiederzufinden. Er musste darin gelesen haben, als er sich im Schlafzimmer hingelegt hatte. Der Kerl las sein Buch. Großer Gott! Und jetzt wollte er anscheinend auch noch mit ihm darüber diskutieren. Was für eine groteske Situation.

»Sie müssen 'ne ganze Menge nachforschen, was? Ich meine, ich weiß, Sie erfinden das alles, aber ein paar Sachen sind … Mann, oh Mann, ich sag Ihnen, die sind verdammt dicht dran. Diese Stelle, wo Sie die Autopsie schildern, die ist richtig Klasse. Da, wo sie merken, warum der Killer den Toten die Daumen abgeschnitten hat. Wie kommen Sie auf solches Zeugs?« Er öffnete das Buch und blätterte ein paar Seiten weiter. »Ja, das ist alles verdammt scheißreal.« Dann sah er plötzlich auf und grinste. »Ich glaube, Sie mögen Ihren Killer.«

Andrew legte den Kopf zurück auf den abgewetzten Stoff der Sofalehne. Wenn doch bloß das Pochen in seinem Schädel aufhören würde. Es hinderte ihn beim Nachdenken, und außerdem fiel ihm das Hören schwer. Aber wenn er das eben richtig verstanden hatte, dann hatte ihm gerade ein Mörder das größte Kompliment gemacht, das er sich denken konnte. Fast hätte er lächeln müssen, als er sich vorstellte, wie sein Verleger das Zitat als Werbung im Klappentext benutzte: Vierfacher, nein fünffacher Mörder urteilt: Das ist alles verdammt scheißreal.

Jared schien es nicht zu stören, dass er keine Antwort bekam. Anscheinend bevorzugte er ohnehin Monologe. Er ließ sich weiter über den Realismus der Geschichte aus, ehe er sich zu einer Analyse der Szenen herabließ, die Andrew seiner Meinung nach falsch angegangen war. Dieser Jared entpuppte sich als veritabler Buchkritiker.

Andrew rieb sich den schmerzenden Kopf und ließ ihn einfach reden. Irgendwann bemerkte er, dass Charlie und Melanie hinausgingen und den Wagen beluden. Er sah, dass seine Sachen hinausgeschleppt wurden, richtete sich auf und drehte sich um. Wo zum Teufel waren seine Aktentasche, seine Notizbücher und sein Laptop?

»Nur die Ruhe, Mann«, beschwichtigte Jared, und es klang gar nicht maßregelnd, sondern beinahe tröstend. »Ich sorge dafür, dass Sie alles kriegen, was Sie brauchen.«

»Was ich brauche?«

»Ja, Sie kommen mit. Ich zeige Ihnen, wie das wirklich läuft.«