9. Kapitel
10.45 Uhr
Cracker Barrel
Melanie sah, dass die Kellnerin langsam die Geduld verlor.
Es war ja auch nicht ihre Schuld, dass der Koch Jareds Bestellung schon wieder falsch ausgeführt hatte. Aber schließlich konnte sie doch auch nicht erwarten, dass er halb flüssige Eier aß, nachdem er vorher ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass er sie gut gebraten haben wollte. Beim ersten Mal war es anders gewesen, Melanie meinte sich zu erinnern, dass er seine Eier sunny side up bestellt hatte. Jared behauptete das Gegenteil, und Charlie hatte gemeint, Jared werde doch wohl wissen, was er bestellt habe. Jetzt stritten sie sich schon wieder mit der Kellnerin herum und zogen die Aufmerksamkeit sämtlicher Gäste des Cracker Barrel auf sich.
Melanie hätte sich am liebsten ins nächste Mauseloch verkrochen und sah stattdessen wie unbeteiligt aus dem Fenster. Zeitlebens hatte sie sich bemüht, möglichst nicht aufzufallen. Auf diese Weise hatte sie ihre Kindheit überstanden, und später hatte sich das als erfolgreiche Strategie erwiesen, um sich bei Lowe, Drillard oder Borsheim unauffällig mit dem einzudecken, was sie zum Leben brauchte.
Jared hingegen sorgte gerne für Tumult, wenn alle Welt mitbekommen sollte, welches Unrecht ihm widerfuhr. War er eigentlich immer so gewesen? Oder hatte ihn die Zeit im Gefängnis verändert? Warum machte er bloß so ein Trara wegen dieser dämlichen Eier? Oder ging es um etwas ganz anderes? In letzter Zeit hatte sie das Gefühl, Jared nicht mehr zu verstehen.
»Ich glaube allmählich, Sie mögen mich nicht, Rita«, sagte er in diesem merkwürdig sarkastischen Ton.
»Keineswegs«, widersprach die Kellnerin. »Ich frage mich nur, warum Sie erst zur Hälfte aufessen mussten, bevor Sie festgestellt haben, dass die Eier immer noch nicht Ihren Wünschen entsprechen.«
Melanie sah hinaus auf den Parkplatz. Die Kellnerin machte alles nur noch schlimmer. Konnte sie nicht einfach verschwinden und lieber den Koch zusammenscheißen?
»Ich bin wirklich enttäuscht von Ihnen, Rita. Ich kann es einfach nicht fassen, dass Sie schon wieder Mist gebaut haben.«
Melanie starrte hinaus auf den Kombi mit dem Aufdruck KKAR-News. Der Fahrer hatte eine Straßenkarte auf der Motorhaube ausgebreitet und hielt sie mit beiden Händen fest, damit der Wind sie nicht packte und davonwehte. Der Mann schaute prüfend zum Himmel. Erst da bemerkte sie die Wolken und wie dunkel es draußen geworden war. Die automatischen Laternen der Parkplatzbeleuchtung begannen unruhig zu flackern, als seien sie unentschlossen, ob sie angehen sollten oder nicht. Drüben, auf dem Interstate 80, sah sie die ersten Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern.
»Vergessen Sie es, Rita«, erwiderte Jared auf etwas, das Melanie entgangen war. »Ich will keine Eier mehr. Allerdings möchte ich …«
»Lassen Sie mich raten«, fiel Rita ihm ins Wort. »Sie möchten, dass ich Ihnen die Eier nicht berechne.«
»Nun ja, angesichts der Tatsache, wie oft Sie und Ihr Freund da hinten in der Küche die Bestellung versaut haben …« Er zuckte die Schultern, als fühle er sich völlig hilflos.
»Großer Gott«, raunte Rita, strich die Eier auf ihrem Blilock durch und legte die korrigierte Rechnung auf den Tisch. »Was soll mich das scheren. Ich kriege heute Nachmittag meinen Gehaltsscheck, und dann fahre ich mit meiner Tochter für eine Woche nach Las Vegas.«
»Wirklich? Nach Las Vegas?« Jared wirkte auf einmal so interessiert, dass Melanie ihn erstaunt ansah. Würde er die Kellnerin jetzt endlich in Ruhe lassen, oder hatte er sich bereits eine weitere Gemeinheit ausgedacht? »Nun, dann einen schönen Urlaub, Rita.«
»Ich nehme das mit, wenn Sie fertig sind. Kein Grund zur Eile natürlich.«
Melanie fragte sich, ob die Frau noch einmal zurückkommen würde, solange sie hier saßen. Und Jared, war er tatsächlich fertig mit ihr? Sie konnte es nicht sagen. Jared ignorierte ihren fragenden Blick, lehnte sich zurück, neb mit der Serviette die Eireste von seiner Gabel und setzte seine Maniküre fort.
»Am Telefon sagtest du, die Zeit ist reif«, kam Melanie nun auf den Grund ihrer Verabredung zu sprechen. Sie versuchte, nicht ungeduldig zu klingen, doch als Jared sie ansah, wusste sie, dass ihr das nicht gelungen war.
»Rita hat mich etwas durcheinander gebracht«, räumte er ein und steckte den Daumennagel zwischen die Zähne, um zu beenden, was der Gabel nicht gelungen war.
»Aber wir machen es doch trotzdem, oder?« Charlie beugte sich vor, stieß an den Tisch, und Melanies noch nicht angerührter Kaffee schwappte über den Tassenrand.
»Du hast es dir doch nicht etwa anders überlegt?«
Ehe Jared antworten konnte, ertönte ein mechanisches Konzert aus seiner Hemdtasche. Er fingerte das Handy heraus und hielt es ans Ohr. Das Ding war eindeutig nicht seins. Jedes Mal, wenn Melanie ihn während der letzten Wochen gesehen hatte, hatte er ein anderes Handy dabeigehabt.
»Ja?«
Melanie musterte ihren Sohn, dessen Bemerkung ihr bestätigt hatte, dass er mehr über Jareds Pläne wusste als sie.
Er schien ungeduldig zu sein. Sie bemerkte die leichte Schwingung seiner linken Körperhälfte und wusste, obwohl sie es nicht sehen konnte, dass er unter dem Tisch mit dem Fuß wippte.
»Ich sagte doch, dass ich mich darum kümmern werde«, erklärte Jared ohne ein Zeichen von Verärgerung oder Gereiztheit in seiner Stimme. »Die Sache geht heute klar.«
Mit wem auch immer er sprach, der Anrufer schien nicht überzeugt zu sein, denn Jared musste ihm jetzt eine Weile zuhören, wobei sein Blick über den Parkplatz wanderte. Sie konnte seine Mimik nicht deuten, aber sein Schweigen beunruhigte sie. Vor wem mochte Jared einen derartigen Respekt haben, dass er ihm so lange zuhörte, ohne ihn zu unterbrechen? »Ich sagte bereits, ich erledige das«, sagte er schließlich. Dann klappte er das Handy zu, ohne sich von dem Anrufer verabschiedet zu haben, und ließ es in seiner Hemdtasche verschwinden.
»Was ist los, Jared?« fragte sie. »Wann sagst du mir endlich, worum es geht?« Sie bemerkte den Blick, den er mit Charlie austauschte. Damit war alles klar. Sie war mal wieder die Einzige, die nicht wusste, was Sache ist. »Was zum Teufel geht hier eigentlich ab?«
»Okay, bleib ruhig«, beschwichtigte sie Jared. »Mach dir nicht gleich ins Höschen.«
Sie hörte Charlie neben sich kichern und warf ihm einen mütterlich strengen Blick zu, der ihn umgehend zum Schweigen brachte.
Jared beugte sich vor, die Ellbogen auf dem Tisch, die Hände vor dem Mund zur Faust geformt, als wolle er seine Worte beschützen. Melanie beobachtete, wie er den Blick durch das Restaurant huschen ließ. Klar, nun war er plötzlich besorgt, er könne Aufmerksamkeit erregen.
»Ich habe dir doch erzählt, dass ich eine große Sache vorhabe, wenn die Zeit reif ist. Sie ist reif.«
»Heute?«
Er rückte sich zurecht und seufzte in seine Faust. Weitere Erklärungen hielt er offenbar für überflüssig. Er hatte doch gesagt, dass die Zeit reif war, was wollte sie denn noch wissen? Vor fünf Jahren hätte er das noch mit ihr machen können.
»Eine halbe Meile die Straße runter gibt es eine Bankfiliale, auf der linken Seite«, begann er mit gedämpfter Stimme.
Melanie und Charlie beugten sich fast gleichzeitig zu ihm vor.
»Nach den Wochenenden liegt da immer ein Haufen Geld, weil die Geschäftsleute aus der Gegend ihre Einnahmen vom Sonnabend und Sonntag einzahlen. Aber vorgestern war Labor Day, ein langes Wochenende. Da gehen Familien zum Essen aus und einkaufen, und der zusätzliche Reiseverkehr auf dem Interstate 80 sorgt für guten Umsatz. Da müsste jetzt richtig was zu holen sein. Und Wells Fargo fährt diese Filiale erst heute nach Schalterschluss an.«
»Das kann nicht dein Ernst sein!« Melanie gab sich keine Mühe, ihre Fassungslosigkeit zu verbergen. »Du willst doch wohl nicht ernsthaft den gepanzerten Wagen der Sicherheitsfirma ausrauben?«
»Leise, Melanie«, mahnte er, ohne jedoch verärgert zu wirken. »Nicht den Wagen natürlich, die Bank. Ich denke, wir machen es kurz bevor sie schließen.«
Er lehnte sich zurück und griff wieder nach seiner Gabel.
Charlie grinste und lehnte sich ebenfalls zurück, saugte ein Eisstück aus seinem Glas und zerkaute es knirschend. Das Wippen mit dem Fuß hatte er eingestellt. Melanie sah von einem zum anderen. Das konnten sie doch nicht ernst meinen!
Ein Bankraub? Das war überhaupt nicht ihre Liga. Allerdings sah keiner der beiden so aus, als mache er Scherze.
»Gehen wir«, sagte Jared und warf die Gabel beiseite. Er zog seine Brieftasche heraus und holte eine gefaltete Zehn-Dollar-Note und mehrere Ein-Dollar-Scheine heraus.
»Vergesst den Aktienmarkt, so verdoppelt man sein Geld viel schneller.« Er zerriss den Zehner in zwei Hälften, steckte die eine so zwischen zwei gefaltete Ein-Dollar-Scheine, dass sie oben gut sichtbar herausragte, und legte das Geld auf die Rechnung. Dann stand er auf.
Melanie war beeindruckt. Und als Jared draußen auf dem Parkplatz auch noch das Handy lässig in einen Abfalleimer warf, war sie fast überzeugt, dass sie die Sache durchziehen konnten.