42. Kapitel

11.12 Uhr

Andrew beobachtete Charlie im Rückspiegel. Der Junge wirkte auf ihn wie ein kleiner Welpe, der auf die Rückkehr seines Herrchens lauerte. Die Waffe lag auf dem Sitz neben seinem Schenkel. Charlie hatte die flache Hand daneben gelegt, als scheue er sich, die Waffe anzufassen. Ein Blick in seine Augen zeigte Andrew jedoch, dass er nicht eine Sekunde zögern würde, sie zu benutzen, falls es notwendig wurde.

Andrew versuchte sich ein Bild von ihm zu machen und entwarf eine Charakterstudie wie für eine seiner Romanfiguren. Charlie hatte eine gewisse Gerissenheit, schien aber ansonsten nicht besonders klug zu sein. Zugleich ging etwas Unschuldiges, fast Kindliches von ihm aus, das mit dieser Gerissenheit nicht im Einklang stand. Zuerst hatte er das für eine Masche gehalten, für eine Rolle, die er spielte, um seine Umwelt zu manipulieren. Er sah auf eine etwas verruchte Weise gut aus, und sein offenes, naives Gesicht mit diesem schelmisch schiefen Grinsen ließ Andrew ahnen, dass ihm jedes Unrechtsbewusstsein für das fehlte, was hier ablief.

Er hatte fast den Eindruck, als hielte er das alles für ein Spiel.

Oder er tat nur so.

Charlie merkte, dass er beobachtet wurde, und sah auf. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel, doch Charlie sah sofort wieder weg.

»Bist du schon lange mit Jared befreundet?« fragte Andrew, als wäre nun die Zeit gekommen, um höfliche Konversation zu treiben.

»Befreundet?« Charlie zog eine Miene, als erfordere diese Frage gründliches Nachdenken. »Jared ist mein Onkel.«

Das war also die Verbindung. Andrew hatte sich schon gefragt, ob Melanie Jareds Freundin war. Aber sie waren Geschwister.

Er blickte prüfend zur Haustür und zur Garage. Nichts. Von seinen Recherchen wusste er, dass es Kidnappern zunehmend schwerer fiel, ihren Opfern etwas anzutun, sobald sie sie als Menschen wahrnahmen. Er konnte nur hoffen, dass sich das auch in seinem Fall bewahrheiten würde. Immerhin hatte er Jared mit seiner Arbeit beeindruckt. Doch je länger die beiden nun wegblieben, desto unsicherer wurde Andrew, ob sein Plan aufgehen und Jared ihm gestatten würde, davonzufahren. Was immer Jared dort im Haus anstellte, das entschied auch sein Schicksal, dessen war er sicher.

»Er scheint ein netter Kerl zu sein. Schade, dass ich ihn nicht besser kenne«, sagte er und warf Charlie im Spiegel einen Blick zu.

»Jared ist cool.« Charlie nickte. »Und er weiß 'ne Menge«, fügte er hinzu.

»Aber manchmal ist er ein bisschen streng zu deiner Mom, oder?« Andrew testete, wie weit er gehen konnte. Wem galt die Loyalität des Jungen?

»Was meinen Sie?« Das Thema schien ihn allerdings nicht sonderlich zu interessieren, er starrte weiter aus dem Fenster.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Andrew wie beiläufig, als sei es nur eine Beobachtung. »Er schreit sie ziemlich oft an.«

»Ach das.« Charlie kicherte vor sich hin.

Andrew erwartete eine Erklärung, doch es kam keine.

Seine Beobachtung bedurfte nach Charlies Ansicht offenbar keines Kommentars.

Plötzlich öffnete sich das Garagentor, und ein blauer Chevy Impala tauchte auf. Andrew beobachtete, wie Charlie die Waffe nahm, sie jedoch wieder losließ, als er Jared am Steuer erkannte und Melanie auf dem Beifahrersitz. Jared fuhr den Chevy aus der Garage und hielt so dicht neben dem Saab an, dass Andrew seine Tür nicht öffnen konnte. Dann drehte er sein Fenster herunter und bedeutete Andrew, dasselbe zu tun.

»Charlie, bring unsere Sachen rüber«, rief er.

Der Junge sprang geradezu aus dem Wagen. Andrew ließ den Kofferraum aufspringen. Je schneller wir das hinter uns bringen, desto schneller bin ich frei, dachte er und merkte, wie Jared ihn anstarrte. Versuchte er abzuschätzen, ob er ihm trauen konnte? Oder überlegte er bereits, wie er seine Leiche beseitigen würde?

Jared streckte ihm die Hand hin. »Geben Sie mir die Schlüssel, Kane.«

Er zog sie vom Zündschloss ab und übergab sie. Okay, sicher wollte Jared ein Spielchen treiben. Er würde die Schlüssel in den Kies werfen, damit er auf Händen und Knien danach suchen musste. Das würde ihn Zeit kosten und vielleicht ein letztes Mal demütigen. Aber Jared warf die Schlüssel nicht fort. Stattdessen rief er nach Charlie, der sofort angedackelt kam. Jared gab ihm irgendwelche Anweisungen, drückte ihm die Schlüssel in die Hand und ließ sich die Waffe geben.

Andrew fühlte Panik in sich aufsteigen. Sein Herz hämmerte geradezu in der Brust. Großer Gott, war dieser Typ verrückt? Wie hatte er sich nur einbilden können, Jared würde ihn am Leben lassen? Er war sich zu sicher gewesen, dass es klappen würde, und hatte keinen Plan B. Er sah kurz zum Haus hinüber und wusste, dass der Farmer ihm nicht zur Hilfe kommen würde, selbst wenn er noch lebte. Jared hätte ihn nicht zurückgelassen, ohne ihn wenigstens irgendwo einzusperren oder ihn zu fesseln.

Jared ließ den Chevy langsam weiterrollen, gerade so weit, dass er aussteigen konnte, Andrews Tür aber blockiert blieb.

Dann ging er, ohne Andrew aus den Augen zu lassen, um den Saab herum und riss die Beifahrertür auf.

»Kommen Sie, Kane.«

Er war wie gelähmt vor Entsetzen. Jared wollte ihn nicht nur töten, sondern eine Zeremonie daraus machen. Er wollte ihn hinrichten. Sie würden zusammen hinter das Haus gehen, und er müßte vielleicht sogar sein eigenes Grab ausschaufeln.

»Warum erledigen Sie es nicht gleich hier?« presste er hervor.

»Wovon zum Henker reden Sie?«

»Wenn Sie mich erschießen wollen, tun Sie es einfach.

Gleich hier auf der Stelle. Jetzt.« Er konnte nicht glauben, dass er es war, der das sagte. Wie in einem letzten trotzigen Aufbegehren umklammerte er das Lenkrad mit der gesunden Hand. Wenn schon, dann hier, in seinem eigenen neuen Wagen, der seinen Erfolg und seinen Neuanfang symbolisieren sollte.

»Steigen Sie verdammt noch mal aus! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«

Als er sich immer noch nicht bewegte, begann Jared zu lachen.

»Wenn Sie nicht sofort aus diesem Scheißauto steigen, erschieße ich Sie tatsächlich! Arschloch! Nun machen Sie schon. Sie fahren. Wenn Sie erst mal am Steuer dieser Klapperkiste sitzen, werden Sie sich sowieso wünschen, ich hätte Sie umgebracht.«

Langsam und widerstrebend kroch Andrew aus dem Wagen und stieß sich bei dem Versuch, seine Kopfwunde zu schützen, die verletzte Schulter.

Ein paar Minuten später waren sie bereit weiterzufahren und warteten nur auf Charlie, der den Saab in der Garage abstellte. Andrew sah seinen Wagen hinter der sich schließenden Tür verschwinden, und damit schwand auch seine Hoffnung, bald frei zu sein.

Er wollte gerade losfahren, als Jared plötzlich sagte:

»Augenblick noch, ich habe was vergessen.«

Andrew dachte sich nichts dabei, bis ihm Melanies Gesicht auffiel. Nervös biss sie auf ihrer Unterlippe herum, während sie beobachtete, wie Jared die Stufen zur Veranda hinauflief und im Haus verschwand.

»Was hat er denn vergessen?« fragte er. Doch sie sah ihn nicht an und schien ihn nicht einmal zu hören.

Erst als sie Jared wieder aus der Haustür kommen und die Stufen hinunterspringen sah, löste sich ihre Anspannung und wich offensichtlicher Erleichterung. Er kam so rasch zurück, dass er nicht getan haben konnte, was sie befürchtet hatte.

Sogar ein kurzes Lächeln huschte jetzt über ihr Gesicht, als Jared sich mit einer übertriebenen Geste die rote Baseballkappe des Farmers aufsetzte. Charlie hielt sich den Bauch vor Lachen.

Andrew jedoch erstarrte innerlich. Das konnte doch nicht … Nein, dieser Gedanke war verrückt. In seinem letzten Roman gab es eine Szene, in der der Killer noch einmal zurückgeht, weil ihm kalt ist. Es ist eine frostige Winternacht, also holt er sich den Filzhut seines Opfers und denkt dabei, dass der Tote ihn ja ohnehin nicht mehr braucht. Jared hatte in dem Buch gelesen – vielleicht ja auch diese Passage?

»Sehen Sie, Kane«, begann Jared, nachdem er auf der Rückbank Platz genommen hatte und sie die lange Zufahrt wieder hinunterfuhren. »Jetzt haben wir die gleichen Baseballkappen. Der Typ braucht sie ohnehin nicht mehr.« Die Kiesel prasselten wie Gewehrkugeln gegen das Chassis des Chevy.

Entsetzt sah Andrew in den Rückspiegel und in zwei dunkle, leere Augen. Jared grinste. Er wusste, was Andrew wusste. Dass sie soeben zu Komplizen geworden waren.