18. Kapitel

17.23 Uhr
Omaha

Emily durfte die Baseballkappe mit der Aufschrift ,William and Mary' aufsetzen, die Vince während seiner Studentenzeit getragen hatte. Und er hatte seiner Tochter erlaubt, ihren Saft aus seinem Bierhumpen vom Münchner Oktoberfest zu trinken, aber Grace konnte die Kiste, in der er stecken musste, einfach nicht finden. Als sie nun an Emilys Zimmer vorbeiging, hörte sie, wie ihre Tochter gerade ihrer Freundin Bitsy von Daddys Glücksbecher erzählte.

Sie sah auf die Uhr und beschloss, noch einen Karton auszupacken, bevor sie mit den Vorbereitungen für das Abendessen begann. Erstaunlicherweise hatten sie bis jetzt überlebt, obwohl ihr Haushalt zur einen Hälfte in falsch beschrifteten und zur anderen in gar nicht beschrifteten Kartons verpackt war.

Heute Abend musste sie sich noch mit einigen Akten beschäftigen, die sie mit nach Hause genommen hatte.

Freitagmorgen hatte sie eine Anhörung. Eine junge Prostituierte mit einer Anklage wegen Drogenmissbrauch. Site nahm den Fall vor allem deshalb ernst, weil das Mädchen von Max Kramer vertreten wurde. Es wunderte sie, dass sich der gute alte Max nach seinem Erfolg in der Sache Jared Barnett und all den Medienauftritten mit so einem kleinen Fisch abgab.

Manchmal fragte sie sich, warum Männer wie er Anwälte wurden.

Wenn sie gefragt wurde – was heute allerdings nur noch selten vorkam –, warum sie Anwältin geworden war, dann führte sie immer Atticus Finch ins Feld. Als kleines Mädchen war sie von dem Anwalt aus Harper Lees Roman fasziniert gewesen, und sie liebte auch die Verfilmung Wer die Nachtigall stört mit Gregory Peck. Atticus in seinem stets makellosen Anzug mit Weste und der schimmernden Uhrkette war für sie als Kind die Personifizierung des Guten inmitten des Bösen gewesen.

Wegen Atticus war sie Anwältin geworden, das war eine hübsche Geschichte für die Medien, und sie hatte durchaus einen wahren Kern. Den Entschluss, Staatsanwältin zu werden, hatte sie jedoch wegen Jimmy Lee Parker getroffen, der in einer schwülen Nacht im Juli 1964 in ein Haus eingebrochen war und den schlafenden Eheleuten mit einem Baseballschläger die Schädel zertrümmert hatte.

Sie war gerade sechs geworden und hatte jene Nacht, in der Jimmy Lee Parker den Polizisten Fritz Wenninghoff und dessen Frau Emily tötete, nur drei Blocks entfernt bei ihrer Großmutter verbracht. Von diesem Sommer an hatte Wenny sie großgezogen.

Sie bezweifelte, dass es in Max Kramers Leben einen Menschen wie Jimmy Lee Parker gab, andernfalls würde er sich wohl kaum damit brüsten, einen überführten Mörder aus dem Gefängnis geholt zu haben.

Mit einem viel zu kräftigen Ruck riss Grace den nächsten Karton auf. Sie wollte nicht an diese Nacht denken, in der ihr Vater und ihre Mutter im eigenen Haus, im eigenen Bett bestialisch ermordet worden waren. Sie hob die Klappen an und tauchte mit den Händen in den Karton. Endlich – die Badetücher. Sie nahm einen Stapel heraus und trug ihn in Richtung Bad. Als sie an Emilys Zimmer vorbeikam, hörte sie ihre Tochter sagen: »Und was hat der Schattenmann dann gemacht?«

Grace blieb stehen.

»Er war hier im Haus?«

»Emily«, unterbrach sie den Monolog ihrer Tochter und ging in ihr Zimmer. »Von was für einem Schattenmann redest du denn da?«

»Vom selben wie Daddy.«

Grace erinnerte sich an die Bemerkung, die Vince am Morgen gemacht hatte. Sie solle nicht in jedem Schatten nach dem Mann Ausschau halten. Nach Jared Barnett, diesem Mistkerl. Das hatte Emily wohl mitbekommen. »Du meinst am Flughafen?« Emily nickte. Sie saß auf der Bettkante, und Grace fragte sich, wo ihre unsichtbare Freundin wohl stecken mochte. »Daddy hat nur einen Scherz gemacht, Liebes. Es gibt keinen Schattenmann.«

»Bitsy sagt, er war heute hier«, erwiderte Emily und sah über die Schulter zur Seite. Also saß Bitsy wohl auch auf dem Bett.

»Woher will Bitsy das denn wissen?«

»Sie hat ihn herumschleichen sehen. Er hat Mr. McDuff mitgenommen.«

Grace konnte sich nicht erklären, warum Emily solche Geschichten erfand. Die Bemerkung war doch eher beiläufig gewesen, warum steigerte sie sich jetzt in die Fantasie von einem Schattenmann hinein?

»Bist du sicher, dass du Mr. McDuff nicht einfach verlegt hast?«

Emily schüttelte den Kopf. »Er saß auf meinem Bett, wie immer.«

Grace sah sich im Zimmer um. Der weiße Plüschhund war tatsächlich nirgends zu sehen. Während im übrigen Haus noch Chaos herrschte, hatte sich Emily ihr Zimmer bereits eingerichtet. Die Eigenschaft, stets alles tadellos in Ordnung zu halten, hatte sie mit Sicherheit nicht ihrer Mutter zu verdanken.

»Ich bin sicher, dass er hier irgendwo ist.«

»Bitsy sagt, der Schattenmann hat ihn mitgenommen.«

Grace rieb sich die ständig verspannte Stelle im Nacken.

Sie wurde langsam ungeduldig, sprach jedoch weiter in ruhigem Ton. »Liebes, du weißt doch, dass Daddy und ich niemals zulassen würden, dass dir etwas geschieht, oder?«

Emily nickte, wirkte jedoch abwesend und sah wieder zur Seite. Vielleicht nahm sie die Geschichte ja auch viel zu ernst, dachte Grace, vielleicht plapperte ihre Tochter einfach nur daher. Sie ist doch ein Kind, würde Vince sicher sagen.

»Warum gehst du ihn nicht suchen? Vielleicht ist Mr. McDuff unten.«

»Okay.«

Auf dem Flur sagte Emily: »Mom, Bitsy meint, wir sollten besser die Tür von der Garage ins Haus zuschließen, wenn wir weggehen.«

Grace sah ihre Tochter verblüfft an und spürte, wie sie im Nacken eine Gänsehaut bekam. Woher in aller Welt wusste Emily, dass sie diese Tür nicht abschlossen?

Ehe sie sich wieder den Umzugskartons zuwandte, überprüfte sie sämtliche Tür- und Fensterschlösser und kam sich dabei selbst albern vor. Es konnte doch nicht angehen, dass sie sich von Emilys Theater derart ins Bockshorn jagen ließ. Und vor allem würde sie sich nicht von einem Jared Barnett ins Bockshorn jagen lassen.

Sie hatte gerade eine weitere Ladung Handtücher ins Bad gebracht, als das Telefon klingelte.

»Hallo«, meldete sie sich abwesend, weil ihr gerade der Gedanke gekommen war, dass es wahrscheinlich viel einfacher gewesen wäre, alles neu zu kaufen.

»Grace, gut, dass ich Sie erwische.«

Sie erkannte die Stimme von Tommy Pakula, und ihr fiel ein, dass sie nicht zurückgerufen hatte, nachdem das Gespräch plötzlich abgebrochen war.

»Mir geht es gut. Ich weiß, ich hätte anrufen sollen, nachdem wir unterbrochen worden sind.«

»Was?«

»Mein Anruf aus dem Supermarkt.«

»Ach ja. Nein, das ist schon okay. Deshalb rufe ich nicht an. Ich habe hier etwas, das Sie sich ansehen sollten.«

Grace hielt nach einem Stift Ausschau. Sie wusste, wenn Tommy direkt zur Sache kam, war es ernst.

»Was ist passiert?«

»Ich bin in der Nebraska Bank of Commerce, in der kleinen Zweigstelle am Highway 50. Kennen Sie die? Nehmen Sie den Interstate 80 und dann die Ausfahrt hinter der Sapp-Brothers-Filiale.«

»Sie sind in der Bank?« Einen Stift hatte sie inzwischen, aber da sie kein Papier finden konnte, kritzelte sie Tommys Angaben auf den Deckel eines Kartons.

»Ja. Das ist eine ziemliche Sauerei hier.«

»Pakula, Sie sind der Letzte, den ich darauf hinweisen müsste, dass Banküberfälle zu den Sauereien des FBI gehören.«

»Es ist ein Mordfall. Die Täter sind einer Streife entwischt.

Wir überprüfen gerade das Kennzeichen. Moment, warten Sie.« Sie hörte eine gedämpfte Unterhaltung, konnte aber nur Pakulas »Auch das noch«, gefolgt von einem »Scheiße!« verstehen. Dann meldete er sich zurück. »Was meinen Sie, wie lange brauchen Sie hierher?«

»Ich muss Emily zu meiner Großmutter bringen. Aber in fünfzehn, zwanzig Minuten bin ich bei Ihnen.«

»Grace?«

»Ja?«

»Machen Sie sich auf einiges gefasst.«

»Ich weiß, eine verdammte Sauerei. Das sagten Sie bereits.«

»Ich kann mich nicht erinnern, jemals so viel Blut gesehen zu haben.«

»Es gibt also mehr als ein Opfer?«

»Im Moment liegen die Hochrechnungen bei etwa fünf.«

»Großer Gott, Pakula! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Ich dachte, das hätte ich. Ich mache hier jetzt besser weiter. Wir sehen uns in einer Viertelstunde.«