12. Kapitel

15.15 Uhr
Peony Park Supermarkt

Grace Wenninghoff zog missbilligend die Nase kraus, als Emily die Packung mit den kleinen Minikuchen in ihren Einkaufswagen plumpsen ließ.

»Emily …«

»Aber die sind so lecker! Und du hast gesagt …«

»Ich habe gesagt, nur, wenn wir auch Obst kaufen und du es dann auch isst. Versprochen, Schatz?«

Sie deutete auf die Obst- und Gemüseabteilung und erwartete Protest. Denn sie wusste selbst, dass Emily eine Belohnung verdient hatte. Die Kleine hatte ihren Umzug quer durch die Stadt tapfer ertragen, und jetzt musste sie auch noch fünf Tage auf ihren Dad verzichten.

Grace hatte das Büro heute früher verlassen und Emily bei ihrer Großmutter Wenny abgeholt, damit sie ein wenig Zeit miteinander verbringen konnten. Seit dem Umzug hatten sie dazu wenig Gelegenheit gehabt. Vielleicht hatte sie selbst eine Pause von der üblichen Routine und dem Stress sogar nötiger als Emily. Die hatte ihre Sachen in einem Rutsch selbst ausgepackt, sich aus den Kisten in ihrem Zimmer ein Fort gebaut und die antike Kommode und den Spiegel des Vorbesitzers mit Bildern von Disneyfiguren dekoriert. Sie hatte sich sogar eine neue imaginäre Freundin ausgedacht, mit der sie ihre Abenteuer teilte.

»Bitsy mag die Minikuchen auch«, erklärte Emily, als habe sie die Gedanken ihrer Mutter erraten.

Zunächst war Grace etwas besorgt darüber gewesen, dass Emily zu einer Freundin Zuflucht nahm, die gar nicht existierte. Ihr kam das seltsam vor, und sie fragte sich, ob vielleicht die Gefahr bestand, Emily könne die Fähigkeit verlieren, Freundschaften mit realen Kindern zu schließen, wenn sie sich so intensiv mit einer Fantasiefigur beschäftigte, die natürlich alles tat und sagte, was sie wollte. Vince hatte sie jedoch davon überzeugt, dass sich viele Kinder Spielgefährten ausdachten, dass das für eine Vierjährige ganz normal sei und einfach zum Aufwachsen gehöre. Sie selbst war allerdings ohne ausgekommen. Und sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie Wenny reagieren würde, wenn Emily ihr von ihrer unsichtbaren Freundin erzählte. Ihre Großmutter war viel zu bodenständig, als dass sie das verstanden hätte. Da hast du 's, würde sie wahrscheinlich sagen und damit auf Grace' Vorliebe für Nancy-Drew-Geschichten und Batman-Comics anspielen.

Vince hatte ihr erzählt, dass auch er als Kind lange einen imaginären Freund namens Rocco gehabt hatte. Sie musste schmunzeln, als sie daran dachte. Sie versuchte sich den kleinen italienischen Jungen vorzustellen, der sich einen Mafioso ausdachte, der ihn beschützte. Wenn sie Kinderbilder von ihm sah, fühlte sie sich immer an Emily erinnert, die ebenfalls klein und verletzlich war, wie damals ihr Vater, und die wie er das kämpferische Herz eines Löwen hatte.

»Was ist das, Mom?« Emily hielt in jeder ihrer kleinen Hände eine Kiwi, ganz vorsichtig, um sie nicht zu zerquetschen.

»Das sind Kiwis. Die sind süß und sehr gesund. Sollen wir welche kaufen?«

Emily musterte die Früchte, drehte sie skeptisch hin und her und rieb über die raue Haut. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein, ich glaube nicht. Die sehen aus wie Affenköpfe.«

»Affenköpfe?« Grace musste lachen.

»Ja, wie kleine grüne Affenköpfe.« Emily begann zu kichern und lachte dann so herzhaft, dass sie eine kleine Lawine auslöste, als sie die Früchte zurücklegen wollte. »Oh nein, da rollen die ganzen Affenköpfe!«

Emily stand wie erstarrt vor dem Schlamassel, den sie Angerichtet hatte, und ihre Unterlippe begann zu beben. Grace merkte, dass sie nicht recht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte.

»Komm, Emily. Hilf mir, die Affenköpfe aufzusammeln, ehe wir Ärger bekommen.«

Sie bückten sich und hoben die Früchte vom Boden auf.

Plötzlich begann Emily wieder zu kichern. Grace drehte sich zu ihrer Tochter um und sah sie auf Händen und Knien vor einer Kiwi hocken, die unter der Spitze eines alten Tennisschuhs eingeklemmt war.

Grace schaute auf und wäre vor Schreck beinahe erstarrt.

Jared Barnett grinste ihr aus leeren dunklen Augen direkt ins Gesicht. Sein Blick war stechend und bedrohlich, doch er tat so, als sei sein Auftauchen nichts Ungewöhnliches, sondern purer Zufall.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine hübsche kleine Tochter haben, Frau Staatsanwältin«, sagte er wie beiläufig, doch der Klang seiner Stimme ließ Grace erschaudern.

»Emily, komm her«, sagte sie und versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. Sie selbst war kaum fähig, sich zu bewegen, ihre Knie fühlten sich weich an. Emily machte keinerlei Anstalten, der Aufforderung ihrer Mutter nachzukommen. Wie gebannt hockte sie vor der Kiwi, um sie sich zu schnappen, sobald der Schuh sie freigegeben würde.

»Emily!« Diesmal klang es wie eine Ermahnung, und sie bereute das, als sie sah, wie Barnetts Grinsen breiter wurde. Er beugte sich hinab, nahm die Kiwi auf und hielt sie Emily hin.

Grace stockte der Atem. Am liebsten hätte sie ihrer Tochter verboten, die Frucht anzurühren, als fürchte sie, sie könne sich mit dem Bösen infizieren, das von Barnett ausging. Doch dann wartete sie ruhig ab, bis Emily die Kiwi auf den Stapel gelegt hatte, tat eilig die dazu, die sie aufgesammelt hatte, nahm Emily bei der Hand und schob mit der anderen den Einkaufswagen fort, um sich so schnell wie möglich von Barnett zu entfernen. Seinen Blick spürte sie wie ein Kribbeln im Genick.

»Wer ist der Mann, Mom?«

»Einfach nur irgendein Mann, der hier einkauft, Schatz.«

Sie schob den Wagen an eine freie Kasse. »Schau dem Jungen zu, der unsere Sachen einpackt. Pass auf, dass er es richtig macht, ja?« Grace half ihr, sich am Einkaufswagen vorbei ans Ende des Transportbandes zu zwängen. Aufmerksam beobachtete Emily den Teenager, der ihre Einkäufe achtlos in einen Plastikbeutel warf.

Unterdessen hielt Grace nach Jared Barnett Ausschau, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Sie zog ihr Handy heraus und gab eine Nummer ein, musste sie jedoch löschen und noch einmal von vorn anfangen, da sie vor Nervosität falsch gedrückt hatte.

»Pakula.«

»Ich bin ihm eben schon wieder begegnet.« Sie versuchte zu flüstern, doch in ihrer Aufregung klang sie wie eine zischende Zeichentrickfigur.

»Treibt er sich immer noch im Gericht herum?«

»Nein, ich bin gerade im Peony Park Supermarkt.«

Die ältere Frau in der Schlange hinter Grace musterte die Boulevardmagazine am Zeitungsstand. Ihre gefurchte Stirn und flüchtigen Seitenblicke verrieten jedoch, dass sie ihrer Unterhaltung lauschte. Sie wandte der Frau den Rücken zu und behielt Emily im Auge, die dem Teenager gerade erklärte, wie man die Sachen ordentlich einpackte.

»Könnte das Zufall sein?«

»Sie meinen, dass er zufällig in demselben dämlichen Laden einkauft wie ich?«

Grace ignorierte den konsternierten Blick des Mädchens an der Kasse, doch was eine zwanzigjährige Kassiererin von ihr dachte, war ihr im Augenblick ziemlich egal. Es gab jetzt Wichtigeres. Zum Beispiel, dass der Mann, den sie vor fünf Jahren wegen Mordes angeklagt hatte, nun wieder frei herumlief und ausgerechnet dort auftauchte, wo sie gewöhnlich einkaufte.

Sie ließ den Blick durch die Regalreihen schweifen und zuckte leicht zusammen, als sie Pakulas Stimme hörte. Vor Aufregung hatte sie fast vergessen, dass sie das Handy noch immer am Ohr hielt.

»Grace, alles in Ordnung mit Ihnen? Wenn Sie wollen, schicke ich einen Streifenwagen vorbei, der Sie nach Hause bringt.«

»Wozu soll das gut sein? Ich kann doch nicht immer die Polizei rufen, wenn ich irgendwohin muss. Außerdem ist Barnett nicht der erste Mistkerl, der glaubt, mich ins Bockshorn jagen zu können. Und ich werde ihm nicht das Vergnügen bereiten, mit seiner Masche Erfolg zu haben.«

»Barnett ist nicht irgendein Mistkerl«, erinnerte er sie.

Da entdeckte sie ihn wieder, in der Schlange zwei Kassen weiter. Ihre Blicke trafen sich, doch anstatt wegzusehen, grinste er sie an.

»Der ist gerade mit einem Mord durchgekommen«, hörte sie Pak ula sagen. »Seien Sie bloß vorsichtig. Wahrscheinlich glaubt er jetzt, nichts und niemand könne ihm etwas anhaben.«

Dann brach das Gespräch plötzlich ab.